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Besserwisser

Sichtlich gut gelaunt begrüßte mich Sebastian bei unserem letzten Gespräch und stellte mit spöttelndem Unterton fest, den Limburgern mangele es wohl an Kenntnissen zur Rechtschreibung. Man schreibe doch nicht „Oh du fröhliche“, das sei ja wohl klar. Es müsse „O du fröhliche“ heißen. Die Schilder an den Ortseingängen Limburgs werben anscheinend nicht nur für den anstehenden Weihnachtsmarkt, sondern auch für eine weitere Rechtschreibreform.

November 2010

Von: Götz Müller


Sichtlich gut gelaunt begrüßte mich Sebastian bei unserem letzten Gespräch und stellte mit spöttelndem Unterton fest, den Limburgern mangele es wohl an Kenntnissen zur Rechtschreibung. Man schreibe doch nicht „Oh du fröhliche“, das sei ja wohl klar. Es müsse „O du fröhliche“ heißen. Die Schilder an den Ortseingängen Limburgs werben anscheinend nicht nur für den anstehenden Weihnachtsmarkt, sondern auch für eine weitere Rechtschreibreform.

Hört man dies von einem 14-jährigen Schüler, ist sicherlich leicht ableitbar, dass hier ein genialer Besserwisser heranwächst. Sebastian hat schon oft seine Mitschüler, Geschwister, Eltern und Bekannten auf Fehler in der Grammatik hingewiesen. Nebenbei bemerkt: Sein Grundschullehrer schwankte in der Beurteilung zwischen „unerhört vorlaut“ bis „brilliant“. Einer seiner Lieblinge ist im Übrigen das „wegen mir“, was eigentlich „meinetwegen“ heißen müsste. Auch der Tod des Genitivs im Sinne „Das ist dem sein ...“ gehört zu Sebastians speziellen Un-Formulierungen.

Nun kann man über die soziale Diplomatie, empathische Prozesse und womöglich eine gewisse Arroganz und Hochnäsigkeit nachdenken, doch im Kern ist doch zunächst interessant, wieso Sebastian die Fehler auffallen und anderen nicht. Sicherlich gibt es auch welche, denen die Fehler auffallen, sie aber nicht anmerken. Aber auch hier muss man den Fehler erst einmal erkennen können. Rechtschreibung und Grammatik sind vielleicht nicht das beste Beispiel, da ja auch Teilleistungsprobleme denkbar wären, doch das vernachlässige ich einfach mal. Und dass Intelligenz nicht durch Rechtschreibregeln oder Grammatik abgebildet werden sollte, ist auch klar.

Sebastian kann außerdem noch mehr. Ihm fallen leicht und schnell Abweichungen und Veränderungen in Ortschaften, bei Beschilderungen, bei Tafelskizzen oder Zeichnungen auf. Den meisten seiner Mitschüler kann er die entsprechende Handschrift zuweisen oder am Schriftbild der Adresse erkennen, wer der Familie einen Urlaubsgruß zukommen lässt. Hinter diesen Fähigkeiten verbirgt sich letztlich eine bunte Mischung aus unterschiedlichen kognitiven Facetten, die da visuelle Wahrnehmung, Mustererkennung und insbesondere Musterspeicherung heißen.

In seinem Falle trifft Forschung eben Praxis: Sebastian macht mit seinen besonderen Fähigkeiten deutlich, wie Modelle der Wissenschaft praktisch aussehen können. Aktuell herrschen Modelle in der Intelligenz- und Begabungsforschung vor, die einen dreistufigen Ansatz wählen: Cattell-Horn-Carroll-Theorie, kurz CHC, wird diese genannt. Sie verbindet unterschiedliche Ansätze der Intelligenz- und Begabungsforschung miteinander. In der CHC-Theorie findet sich auch Sebastian wieder, der eine sehr gut entwickelte visuelle Informationsverarbeitung besitzt. Diese ist z.B. gepaart mit einer hohen und schnellen Informationsverarbeitung, die ihn befähigt, bekannte Muster abzurufen und mit neuen zu vergleichen.

Wer eine kurze und prägnante Übersicht zu einigen Modellen zu Intelligenz und Begabung lesen will, der lese z.B. den Beitrag von: Rohrmann, Sabine: Hochbegabung – was ist das? In: Koop, C. (et.al./ Hrsg): Begabung wagen. (2010).

Und wer es viel ausführlicher mag, der nehme: Rost, Detlef: Intelligenz - Fakten und Mythen. (2009).