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Erwartungswidrige Schulleistungen

Es ist keine Neuigkeit, dass Intelligenz und Schulleistung nicht immer in einer eindeutigen Beziehung zueinander stehen. Es gibt Schüler, die bei hoher Intelligenz nur unzureichende Schulleistungen erbringen; andere weisen bei niedriger Intelligenz sehr gute Schulleistungen auf. Beide Male handelt es sich um erwartungswidrige Schulleistungen, legt man den Intelligenzwert als Prädiktor an.

November 2012

Von: Götz Müller


Es ist keine Neuigkeit, dass Intelligenz und Schulleistung nicht immer in einer eindeutigen Beziehung zueinander stehen. Es gibt Schüler, die bei hoher Intelligenz nur unzureichende Schulleistungen erbringen; andere weisen bei niedriger Intelligenz sehr gute Schulleistungen auf. Beide Male handelt es sich um erwartungswidrige Schulleistungen, legt man den Intelligenzwert als Prädiktor an. In diesem Beitrag stelle ich Aussagen eines Buch vor, welches nun knapp 40 Jahre auf dem Buckel hat. Diethelm Wahl hat sich in den 60er- und 70er-Jahren mit „erwartungswidrigen Schulleistungen als pädagogisch-psychologisches Konstrukt„ beschäftigt. Ihn interessierte, was heute immer noch viele interessiert: Was ist Underachievement? Was ist Overachievement? Und wie kommt es zustande? Die Grundlage der Überlegungen Wahls besteht darin, dass mit Hilfe einer Regressionsgleichung (x = IQ, y = SN), in der die Schulleistung durch den Intelligenzwert vorhergesagt wird, sich genaue Einschätzungen vornehmen lassen. Deutlich zeigt sich – und das schon in den 60er- und 70er-Jahren, dass die Korrelation zwischen Intelligenzwert und Schulleistung nicht gleich 1 ist, sondern vielfach darunter liegt. Wahl war dmals schon klar, dass folglich Abweichungen kleinerer Art nicht unbedingt als Over- bzw. Underachievement betrachtet werden dürfen. Somit schlug er vor, mittels der Korrelationen Abweichungen zu berechnen, die einen Abweichungsbetrag definieren, der das Achievement – die angemessene Leistung – umspannt. Innerhalb dieses Intervalls seien Abweichungen „normal„. Zudem betonen seine Ausführungen die Universalität, Generalität und Stabilität des Konstrukts „erwartungswidrige Schulleistung„, ohne die eine genaue Überprüfung nicht exakt durchführbar ist (und postuliert somit, dass erstens Intelligenz und zweitens Schulnoten stabil sein müssen). Welche Variablen für erwartungswidrige Schulleistungen verantwortlich gemacht werden können, versucht Wahl bei seinen Analysen ausführlich darzustellen. Allerdings unterstreicht er, dass häufig bei gleichen Fragestellungen unterschiedliche Effekte aufgetreten sind. Interessant scheinen die Variablen „Leistungsmotivation„ und „Verhalten unter Leistungsdruck„ zu sein, deren Ausprägung offensichtlich Unterschiede hinsichtlich der Variablen zwischen Under- und Overachievern haben müssten. Diese vermeintlich widersprüchlichen Ergebnisse versucht er aufzulösen, indem er methodologische Fehler bei einigen Studien annimmt, denn im Gesamten ist Wahl der Ansicht, Overachiever seien leistungsmotivierter und intrinsischer motiviert, Underachiever hingegen unmotivierter und extrinsisch motivierter. Underachiever sollten auch sofortiges Feedback benötigen, Overachiever verzögertes. Klarere Aussagen fanden sich schon damals bezüglich des Konstrukts „Prüfungsangst„. Underachiever seien ängstlicher als Achiever und Overachiever, trauten sich weniger zu und zeigten daher nicht die entsprechende Leistung. Wahl führt weiter aus, dass auch hinsichtlich des Selbstbildes anzunehmen sei, dass Underachiever aufgrund ihres Erfolgs-Misserfolgs-Verhältnisses eine niedrigere Selbsteinschätzung und weniger Selbstvertrauen besitzen müssten. Diese an sich anzunehmende Logik findet sich allerdings in der damaligen Forschung nicht unbedingt bestätigt, da widersprüchliche Ergebnisse vorlägen, nur in einer Hinsicht Effekte deutlich würden: Beschränkt man die Merkmale auf schulische Selbsteinschätzung und schulisches Selbstvertrauen würden die Unterschiede deutlicher. Wahl folgert, dass weitere Forschung erforderlich sei, um Faktoren herauszuarbeiten, die zum einen den Umsetzungsprozess von Begabung in Leistung hemmten bzw. förderten. Offenkundig sei die Masse durch ihre Intelligenz befähigt, angemessen zu leisten, doch sei erstaunlich, dass kaum Systematik erkennbar sei, wenn es um erwartungswidrig negative oder auch positive Leistung gehe. Und da sind wir heute nicht viel weiter: Wir können beschreiben, dass der sozioökonomische Status Einfluss nimmt; wir können Geschlecht als Einflussgröße erkennen – doch den wirklichen Zugang haben wir noch nicht gefunden. Literatur: Wahl, Diethelm (1975). Erwartungswidrige Schulleistungen. Beltz Verlag.