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Hochbegabt ist, wer der Menschheit nützt

Der von mir sehr verehrte William Stern hat es einmal so formuliert: „Begabung ist kein Verdienst, sondern eine Verpflichtung.“ Mit dem Können geht seiner Ansicht nach also eine Verantwortung einher; aber wer sind diejenigen, die bereit sind, diese zu übernehmen?

September 2017

Von: Prof. Dr. Tanja G. Baudson


Der von mir sehr verehrte William Stern hat es einmal so formuliert: „Begabung ist kein Verdienst, sondern eine Verpflichtung.“ Mit dem Können geht seiner Ansicht nach also eine Verantwortung einher; aber wer sind diejenigen, die bereit sind, diese zu übernehmen? Wenn man die Frage stellt, wozu man Begabung überhaupt erkennen und fördern sollte, gibt es zwei Arten von Antworten. Zum einen gibt es diejenigen, die besagen, dass Begabungsentfaltung zur Persönlichkeitsentfaltung insgesamt gehört und somit dazu beiträgt, dass Menschen im Leben glücklich werden. Das ist die humanistische Perspektive – Begabung impliziert eine Verantwortung sich selbst gegenüber, und idealerweise sollte die Gesellschaft das Individuum dabei unterstützen. Die eher materialistische Sicht besteht darin, dass Begabungsentfaltung der Gesellschaft insgesamt nützt. Wer gemäß herkömmlichen Erfolgskriterien etwas aus seinem Potenzial macht, verdient besser, bringt dem Staat dadurch mehr Steuern ein und schafft unter Umständen sogar noch Arbeitsplätze.

Erst fordern oder erst fördern?

Die beiden Argumentationsstränge schließen sich keineswegs aus, aber sie unterscheiden sich in ihren Implikationen. Im zweiten Fall hat das Individuum eine klare Bringschuld gegenüber der Gesellschaft, die von ihm erwartet, dass es sich für das Gemeinwohl einbringt. Im ersten Fall ist es umgekehrt: Hier liegt die Bringschuld eher bei der Gesellschaft, die dann zwar hoffen darf, dass sich das Individuum für sie engagiert, wenn sie es fördert. Die Gesellschaft erhöht dadurch jedoch allenfalls ihre Chancen. Denn eine Person, die ihre Bedürfnisse erfüllt sieht, will ein System, das sich für ihr Wohlergehen einsetzt, möglicherweise eher aufrechterhalten, fühlt sich diesem stärker zugehörig und nimmt vielleicht auch eine größere Verantwortung wahr, selbst etwas dazu beizutragen, dass das auch in Zukunft so bleibt. Eine Sicherheit gibt es indes nicht.

Intelligenz: unabdingbar für Hochbegabung?

Etwas „von hinten durch die Brust ins Auge“ komme ich so zum eigentlichen Thema dieses Beitrags. Vor einiger Zeit brachte mich ein wissenschaftlicher Artikel um den Schlaf, und obwohl ich am nächsten Tag wirklich früh raus musste, konnte ich ihn nicht aus der Hand legen. Das ist mir schon lange nicht passiert, und deshalb wollte ich dies mit Ihnen teilen. Robert J. Sternberg, der Autor des Beitrags, stellte sich nämlich die Frage, ob der IQ überhaupt noch ein hinreichendes Kriterium dafür ist, damit wir von einer Hochbegabung sprechen zu können. Auf den ersten Blick mag man das für ziemlich unsinnig halten. Wir haben mit den zahlreichen vorhandenen IQ-Tests objektive und präzise Messinstrumente, die Schulnoten, Bildungsabschlüsse, sozioökonomischen Status, Einkommen und sogar die Lebenserwartung gut vorhersagen (insbesondere im direkten Vergleich mit anderen psychologischen Einzelmerkmalen) – alles Dinge also, die man nach konventionellen Kriterien durchaus als „Erfolg im Leben“ verbuchen könnte.

Wie nutzt man Intelligenz intelligent?

Sternberg jedoch erweitert die Perspektive vom Individuum auf die Gesellschaft. Denn worum geht es eigentlich? Was sind die wirklich wichtigen Probleme, die in unserer Welt gelöst werden müssen, und was charakterisiert Persönlichkeiten, die das Potenzial haben, diese globalen Herausforderungen erfolgreich zu meistern? Klimawandel, Extremismus und Terror, Umweltverschmutzung, der Aufschwung autokratischer Herrschaftsformen, Bildungsungleichheiten, Epidemien oder die Integration von Flüchtlingen sind nur einige Beispiele. Doug Detterman, der Gründer der International Society for Intelligence Research, sagte bei der letzten und vorletzten Konferenz dieser Fachgesellschaft (und möglicherweise auch schon bei diversen vorangegangenen, bei denen ich noch nicht dabei war), Intelligenz sei die wichtigste Ressource zur Bewältigung dieser Probleme. Ich hatte ihm gegenüber bereits 2016 meine Zweifel an dieser ausschließlichen Sichtweise geäußert (anscheinend ohne nachhaltigen Erfolg). Natürlich ist Intelligenz wichtig, um komplexe Zusammenhänge zu verstehen – aber was man aus dieser Erkenntnis letztlich macht, ist ein ganz anderer Punkt, bei dem auch ganz andere Merkmale der Persönlichkeit ins Spiel kommen. Hochintelligente Konzernchefs, die Unternehmen vor die Wand fahren, schlaue, aber skrupellose Politiker (erstaunlich viele der zwischen 1945 und 1949 in den Nürnberger Prozessen verurteilten Nazigrößen waren überdurchschnittlich intelligent), clevere Manager, die Daten fälschen lassen, um nicht nur für ihre Firma, sondern auch für sich selbst satte Gewinne einzufahren – anscheinend schützt einen Intelligenz nicht wirklich davor, kurzfristige egoistische Ziele vor nachhaltige gemeinverträgliche zu setzen und ethisch inakzeptabel zu handeln. „The problem is not a lack of ideas about how to solve any of these problems; rather, it is a lack of people wanting to take fully into account interests other than their own„, schreibt Sternberg (2016, S. 8f. im verlinkten PDF-Dokument).

Messen IQ-Tests das, was man im echten Leben braucht?

Verschiedene IQ-Tests erfassen je nach Zielsetzung unterschiedliche Aspekte der Intelligenz; Sternberg nennt exemplarisch abstraktes logisches Schlussfolgern, mentale Geschwindigkeit, Wortschatz, aber auch metakognitive Fähigkeit wie Zeitmanagement und Strategien wie Entscheiden unter Unsicherheit (educated guessing). Das Leben stelle dagegen ganz andere Anforderungen. Klar definierte Aufgaben mit einer richtigen Lösung sind eher die Ausnahme; oft genug muss man überhaupt erst einmal definieren, wo das Problem liegt. Auch braucht man in der Regel länger als ein paar Minuten, um sinnvolle lebensrelevante Entscheidungen zu treffen, nicht zuletzt deshalb, weil oft viel daran hängt – für einen selbst, aber auch für andere, die unter Umständen ganz andere Interessen verfolgen als man selbst. Was eine gute Antwort auf eine „große“ Frage ist, ist darüber hinaus viel stärker kulturabhängig, als das bei IQ-Tests der Fall ist. Der Erfolg von IQ-Tests, so Sternberg weiter, sei zumindest teilweise eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denn ein gutes Testergebnis eröffnet Chancen auf dem weiteren Bildungsweg, von denen Personen mit schlechterem Testergebnis von vornherein ausgeschlossen sind; und das akkumuliert sich über die Zeit. (Dass dadurch auch die sozioökonomische Schere im Lauf der Zeit immer weiter klafft, kann man sich lebhaft vorstellen.) In den USA mit einer ausgeprägten Testkultur (und einem Evaluationssystem, in dem beispielsweise Schulen dann als erfolgreich gelten, wenn ihre Schüler/innen gute Testergebnisse erhalten – eventuelle Parallelen auf nationaler Ebene zu PISA sind rein unzufällig) brennt das Thema natürlich noch einmal stärker unter den Nägeln als hierzulande; aber im Zuge der steigenden Quantifizierung unserer Lebenswelt betrifft das auch uns.

Was ist Hochbegabung?

Peter Hofstätter[1] definierte Intelligenz 1957 als „den innerhalb einer bestimmten Kultur Erfolgreichen gemeinsame Fähigkeit„. Nun ist „Erfolg“ ja ein eher unscharfer Begriff – und, wie die Definition impliziert, hochgradig kulturabhängig.[2] Nun kann man Erfolg ja nicht nur kurzsichtig-individualistisch konzipieren, sondern auch nachhaltig. Wenn alle Menschen ein glückliches und gesundes Leben in Frieden führen können, in dem es auch der Umwelt gut geht und Ressourcen geschont werden, wäre das auf globaler Ebene sicherlich ein schöner Erfolg. So, wie es aktuell läuft, werden wir den Karren über kurz oder lang auf jeden Fall an die Wand fahren. Die Unterstützung der Hochbegabten, so Sternberg, können wir also gut brauchen: Menschen, die nicht egoistisch ihre eigenen kleinen Misthaufen verteidigen, um von dort herabzukrähen, sondern die das große Ganze im Blick haben und verantwortungsvoll daran arbeiten, die Welt für alle besser zu machen. Wie aber finden wir solche Menschen? Sternberg hat hierzu ein Modell entwickelt: ACCEL – Active Concerned Citizenship and Ethical Leadership, durch das aktive Menschen, die sich um das Gemeinwohl sorgen und kümmern und auf ethische Weise führen, erkannt und gefördert werden sollen. Wir brauchen verantwortungsvolle Menschen, die die wichtigen Probleme erkennen und etwas dagegen tun wollen – und andere mitziehen. „The ACCEL model recognizes that the greatest problem we have in our society is not a lack of leaders with high IQs or sterling academic credentials, but rather of transformational leaders who behave in ethical ways to achieve, over the long- as well as the short-term, a common good for all“ (ibid., S. 17f.).

Wie erkennt man die ACCELenten?

Sein Hochbegabungsbegriff ist also ein völlig anderer als der, den wir bislang kennen. Sternberg sieht das Individuum in seinem Wirkkontext und definiert Hochbegabung von ihrem Zweck her. IQ-Tests verfolgten den gesellschaftlich relevanten Zweck, die kurz davor eingeführte Schulpflicht überhaupt praktisch umsetzen zu können. Mit einem Mal war die Schüler/innenschaft extrem heterogen geworden, und man brauchte Anhaltspunkte, wie „weit“ ein einzelnes Kind geistig war, um es ggf. angemessen fördern zu können. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, sind die Anforderungen eine Nummer größer – deshalb brauchen wir andere Indikatoren als den IQ. Auf welche Eigenschaften sollte man also achten? Zumindest reicht ein hoher IQ nicht. Sternberg nennt folgende Merkmale:

  • kritisches (analytisches) Denken, sich also nicht für dumm verkaufen lassen und unredliche Argumentationen durchschauen;
  • Kreativität, wozu beispielsweise Flexibilität im Denken, eine maßvolle Risikobereitschaft oder Widerstandsfähigkeit beim Auftreten von Hindernissen (etwa auch, dass Leute eine tolle Idee nicht gleich willig annehmen, sondern man sie ihnen verkaufen muss) gehören;
  • „praktische Intelligenz“, so etwas wie „gesunder Menschenverstand“, der einem hilft, im Leben klarzukommen;
  • Weisheit und Ethik – die Balance zwischen eigenen, fremden und höheren Zielen zu finden, Werte zu haben bzw. zu entwickeln und entsprechend zu handeln.
  • Leidenschaft: etwas zu finden, was einen wirklich begeistert und wofür man brennt.

Ist der IQ also überholt?

Einige erfolgreiche Ansätze zur Erfassung und Förderung dieser Merkmale werden im Artikel genannt. Sie beziehen sich hauptsächlich auf Studierende und junge Erwachsene, aber ich finde, man kann damit nicht früh genug anfangen. Die Welt verändert sich kontinuierlich, und mit ihr die Nützlichkeit von Konstrukten wie Intelligenz. Ich halte den IQ nach wie vor für ein sehr wichtiges Maß und Intelligenz für eine Eigenschaft, die wir bei der Definition von Hochbegabung weiterhin berücksichtigen sollten; um komplexe Zusammenhänge zu durchschauen, ist sie zweifelsohne ziemlich hilfreich. Aber um den Herausforderungen der Welt von heute, morgen und übermorgen zu begegnen, reicht das nicht. Ein erweiterter Begabungsbegriff kann also dazu beitragen, dass weitere wichtige menschliche Eigenschaften wertgeschätzt und gefördert werden – und möglicherweise das Leben für alle so ein bisschen besser wird. Hier werden dicke Bretter gebohrt, keine Frage; und der IQ wird uns vermutlich noch eine ganze Weile begleiten, weil Änderungen (insbesondere solche, die ja im Grunde das ganze System in Frage stellen) Zeit brauchen. Sternberg denkt die Hochbegabtenförderung „von oben“: Wir brauchen mittel- und langfristig ethisch verantwortliche Vordenker, wenn unsere Welt nicht vor die Hunde gehen soll, und müssen sie deshalb erkennen und fördern. Derzeit belohnt unser System verantwortliches Handeln jedoch nur bedingt; Whistleblower, Wissenschaftler/innen, die Forschung transparenter machen wollen, und viele andere kritisch Denkende und Handelnde stoßen auf massive Widerstände. Systeme sind träge; nicht zuletzt, weil diejenigen, die von ihnen profitieren, von ihren Pfründen nur ungern lassen, die sie häufig genug durch Verfolgung eher egoistischer als gemeinschaftsdienlicher Ziele errungen haben. Auch hier muss sich also etwas ändern. Leistung für das Gemeinwohl muss sich wieder lohnen.

Fazit

Das Konstrukt Hochbegabung von seinem Zweck her zu denken, hat seinen Reiz – und aus meiner Sicht auch seine Berechtigung. Denn wozu sollte eine Gesellschaft Begabungen identifizieren und fördern, wenn es ihr nicht nützt? Vielleicht müssen wir einen anderen Begriff finden als „hochbegabt“? Ich finde den Ansatz auf jeden Fall interessant und kontrovers; die Diskussion um den Hochbegabungsbegriff wird er sicherlich beleben. Was meinen Sie?

Fußnoten:

[1] Hofstätters Biographie und insbesondere seine Nazivergangenheit werden in diesem Buch (ab Seite 742) aufgearbeitet: http://www.hamburg.de/contentblob/8873480/7f63485de9668b3e48b965cdd86d8d02/data/taeterprofile-buch-band-2.pdf

[2] „Kultur“ ist ein sehr umfassender Begriff (selbst Petrischalen und Tanztheater fallen darunter), und entsprechend unterschiedlich sind auch die Erfolgsindikatoren. Wenn ich Bekannten außerhalb des akademischen Betriebs die Bedeutung von durch Kolleg/innen anonym begutachteten Publikationen und Impactfaktoren nahezubringen versuche, stoße ich auf verständnislose Gesichter. Häufig kommt auch die Frage, wie hoch mein Honorar für einen solchen Artikel ist; die Verständnislosigkeit steigt, wenn ich ergänze, dass ich nichts dafür bekomme, aber meinerseits Beiträge von Kollegen kostenlos begutachte. Wir Wissenschaftler/innen sind schon ziemlich verrückte Hühner.

Literatur

Sternberg, R. J. (2016). ACCEL: A new model for identifying the gifted. Roeper Review. doi: 10.1080/02783193.2016.1256739 [Online 7.11.2016] In dieser Ausgabe der Roeper Review gab es übrigens noch eine ziemlich lebhafte Diskussion über das Modell; auf die bin ich in diesem Beitrag nicht eingegangen. Sie ist außerdem hinter einer Paywall, sodass man an die Beiträge leider auch nicht ohne weiteres herankommt.