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Interview: Dr. Jakob Pietschnig und der Flynn-Effekt

Es ist ja immer schön, wenn man Leute findet, die zu einem speziellen Thema so richtig Ahnung haben. Über den Flynn-Effekt habe ich selbst auf der ISIR-Konferenz in St. Petersburg einiges Neues gelernt; um so mehr freue ich mich, dass Dr. Jakob Pietschnig von der Universität Wien, der dort einen der interessanten Vorträge gehalten hat, sich bereit erklärt hat, dazu auch der geschätzten Leserschaft dieses Blogs etwas zu diesem faszinierenden Phänomen zu erzählen!

September 2016

Von: Prof. Dr. Tanja G. Baudson


Es ist ja immer schön, wenn man Leute findet, die zu einem speziellen Thema so richtig Ahnung haben. Über den Flynn-Effekt habe ich selbst auf der ISIR-Konferenz in St. Petersburg einiges Neues gelernt; um so mehr freue ich mich, dass Dr. Jakob Pietschnig von der Universität Wien, der dort einen der interessanten Vorträge gehalten hat, sich bereit erklärt hat, dazu auch der geschätzten Leserschaft dieses Blogs etwas zu diesem faszinierenden Phänomen zu erzählen! TGB: Jakob, vielen Dank, dass Du Dich zum Interview bereiterklärt hast – schön, Dich in diesem Blog zu Gast zu haben! Zunächst vielleicht einmal die ganz grundlegende Frage: Was ist der Flynn-Effekt überhaupt? Dr. Jakob Pietschnig: Unter dem Flynn-Effekt wird in der Intelligenzforschung die (typischerweise positive) Veränderung von IQ-Testleistungen über Generationen hinweg in der Allgemeinbevölkerung verstanden. Damit meinen wir also nicht Veränderungen der kognitiven Leistung einer Person über die Lebensspanne hinweg, sondern einen Anstieg der Leistungen von Personen die in verschiedenen Jahren oder Jahrzehnten geboren worden sind. TGB: Heißt das, dass wir intelligenter werden? Dr. Jakob Pietschnig: Unsere neueste Forschung zeigt, dass sich die Leistungsveränderungen nicht auf der globalen kognitiven Fähigkeit (im allgemeinen als „psychometrisches g„ bekannt) abspielen, sondern Zuwächse auf gewissen Intelligenzdomänen darstellen. Insbesondere dürfte das Abschneiden auf Tests zum schlussfolgernden Denken am stärksten betroffen sein. Es zeigt sich jedoch auch ein kleinerer Zuwachs für Tests, die näher mit dem traditionellen Schulwissen verwandt sind. Salopp könnte man formulieren, dass wir uns scheinbar mehr dem Spezialistentum als dem Generalistentum hinwenden. TGB: Waren Menschen in früheren Epochen also weniger in der Lage, logisch zu denken? Dr. Jakob Pietschnig: Das ist eine sehr umfassende Frage, aber eine kurze Antwort dahingehend wäre, das abstraktes Denken heutzutage wichtiger ist, währenddem konkrete Aufgaben den Personen vor einigen Dekaden mehr gelegen sind. TGB: Bedeutet das nicht in letzter Konsequenz, dass die Tests heute etwas anderes messen? Etwas anderes als Intelligenz möglicherweise? Und falls ja, stellt der Effekt die Intelligenzmessung insgesamt dadurch nicht in Frage? Dr. Jakob Pietschnig: Pragmatisch gesagt ist Intelligenz das was IQ-Tests messen. Und das hat sich bei gleichbleibenden Testmethoden über die Zeit auch nicht geändert (vielleicht mit Ausnahme von vermehrtem Rateverhalten auf multiple-choice Tests, die mit mehr Testerfahrung von modernen Populationen zu tun hat). Es ist aber natürlich wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass nicht alle IQ-Tests das gleiche messen. Das ist aber auch richtig und wichtig so, nachdem man ja mit verschiedenen Testmethoden verschiedene Fähigkeiten erfassen will. Zum Beispiel wird eine gewisse Testleistung einer gewissen Person in einem Raumvorstellungstest vermutlich unterschiedlich sein von einem IQ-Wert der von der gleichen Person in einem Wortschatztest erzielt wird. Trotzdem werden über die Allgemeinbevölkerung hinweg die Testleistungen in verschiedenen Fähigkeitstests positiv miteinander zusammenhängen. Das bezeichnet man im Allgemeinen als die positive Kupplung oder "positive manifold" der Intelligenz. TGB: Das ergibt Sinn – schließlich sind ja bei den wenigsten alle Teilfähigkeiten gleich stark ausgeprägt. Für Hochbegabte zeigt sich das übrigens noch stärker als bei der durchschnittlich begabten Bevölkerung! – Aber eine ganz praktische Frage: Wie weist man den Flynn-Effekt eigentlich nach? Dr. Jakob Pietschnig: Das kann auf mehrere Arten geschehen, wichtig ist jedoch dabei, immer eine annähernd populationsrepräsentative Auswahl von Testpersonen zur Verfügung zu haben. Am gängigsten sind jedenfalls zwei verschiedene Zugänge: Einerseits werden oft populationsrepräsentative Stichproben, die in unterschiedlichen Jahren den gleichen Test bearbeitet haben, mit einander verglichen. Man denke da zum Beispiel an Stellungsuntersuchungen von nationalen Wehrpflichtigenheeren. Da wird zumeist ein gesamter Jahrgang von Männern eines Jahres dem gleichen Test unterzogen. Findet das über mehrere Jahre (jedoch mindestens 2) hinweg statt und ändert sich der Test in dieser Zeit nicht, so kann man die Differenz zweier Kohorten als Leistungsveränderung interpretieren. Meist wird es jedoch wenig Sinn machen, Kohorten zweier aufeinanderfolgender Jahre zu vergleichen, da eine mögliche Veränderung in diesem Falle sehr gering wäre. Hat man jedoch eine angemessene Bandbreite zur Verfügung, lässt sich so ein Trend feststellen. Andererseits kann man den Flynn-Effekt auch querschnittlich untersuchen, indem man die Ergebnisse einer Stichprobe von Testpersonen mit Original- und Restandardisierungen eines IQ-Tests vergleicht. Dafür muss man natürlich beide Normierungsmaßstäbe zur Verfügung haben und auch sicherstellen dass bei der Testrestandardisierung keine inhaltliche Veränderung des Testinstruments stattgefunden hat. Dieses Design ist deswegen recht beliebt, weil die längsschnittliche Komponente wegfällt (d.h., dass man nach der Testung der ersten Stichprobe nicht Jahre warten muss, um eine zweite Stichprobe testen zu können). TGB: Abgesehen davon ist es vermutlich auch deutlich leichter, querschnittliche Studien zu finanzieren ;-) Gibt es denn Hypothesen oder sogar Befunde, was die Ursachen des Flynn-Effekts sind? Dr. Jakob Pietschnig: Mittlerweile scheint gesichert, dass es sich nicht um eine einzige Ursache handelt, sondern dass mehrere Faktoren verantwortlich sein dürften. Aus einer Vielzahl an vorgeschlagenen Theorien (es gibt derer so um die 20) scheinen bessere und längere Beschulung, verbesserte Ernährung sowie medizinische Versorgung und Hygiene am plausibelsten mit den beobachteten Daten übereinzustimmen. Aber auch die oben angesprochenen Testrateeffekte und sogenannte soziale Multiplikatoren (d.h. verstärkte Belohnung durch die Umwelt für gewisse intelligente Verhaltensweisen) scheinen eine Rolle zu spielen. Interessanterweise zeigt sich jedoch in den letzten 2-3 Jahrzehnten eine scheinbare Abflachung und sogar eine Stagnation oder Umkehr des Flynn-Effekts in einigen Ländern. Theorien zur Erklärung von dieser Beobachtung gibt es noch nicht so viele. Denkbar wären natürlich Deckeneffekte von IQ-steigernden Faktoren und die Manifestierung von negativen Zusammenhängen des Flynn-Effekts mit psychometrischem g. TGB: Spannend! Zeigt sich der Effekt denn universell, oder sind bestimmte Gruppen (Männer/Frauen, Kulturen, Alterskohorten …) selektiv vom Flynn-Effekt betroffen? Dr. Jakob Pietschnig: Grundsätzlich kann man festhalten, dass der Flynn-Effekt in verschiedenen Ländern verschiedene Ausprägungen zeigt. Nichtsdestoweniger waren bis in die Mitte der achtziger Jahre die Veränderungen fast überall positiv. Erst seitdem zeigt sich Evidenz für ein Abflachen und spätere Stagnation und Umkehr in Ländern wie Dänemark, Frankreich, aber auch Deutschland und Österreich. Erwachsene dürften übrigens mehr von den IQ-Zuwächsen profitiert haben als Kinder, währenddem das Geschlecht keine Rolle zu spielen scheint. TGB: Zuletzt noch eine Frage: Was fasziniert Dich persönlich am Flynn-Effekt? Dr. Jakob Pietschnig: Der Flynn-Effekt ist einerseits methodisch interessant, weil er eine Herausforderung für die moderne psychometrische Testpraxis darstellt. Andererseits ist natürlich die Idee dass die Allgemeinbevölkerung über einen relativ kurzen Zeitraum solche massive Zuwächse zeigt, selbst wenn es sich nur um spezifische Fähigkeiten handelt, höchst interessant. Dieses Phänomen hat natürlich auch eine gesellschaftspolitische Komponente. Es kann zum Beispiel die Entscheidung, ob ein Kind eingeschult wird oder ein Jahr zurückgestellt wird, mitunter davon abhängen, ob ein Test mit veralteten oder aktuellen Normen im Rahmen der Einschulungsdiagnostik verwendet wurde (heutzutage würde man sich natürlich wünschen, dass im Falle einer adäquaten Entscheidung nicht nur zurückgestellt bzw. eingeschult würde, sondern dass auch entsprechende Förderungen im Falle von spezifischen Leistungsdefiziten erfolgen würden). TGB: Auch bei der Hochbegabungsdiagnostik ist das im übrigen eine ziemlich relevante Frage. Darüber, dass man mit veralteten Tests Hochbegabte quasi produzieren kann, habe ich mich vor langer Zeit schon einmal ausgelassen – und es gibt leider auch einige wenige schwarze Schafe, die ihrer Verantwortung, psychologische Diagnostik gemäß den Regeln der Kunst vorzunehmen, nur unzureichend nachkommen. Dr. Jakob Pietschnig: Noch krasser ist der Fall zum Beispiel in einigen Bundesstaaten der USA, wo für Personen mit IQ Testergebnissen < 70 die Todesstrafe nicht angewendet wird. Da kann die Entscheidung für einen veralteten oder aktuellen Test den Unterschied zwischen Leben und Tod machen. TGB: Jakob, ganz herzlichen Dank dafür, dass Du Dein Wissen mit uns geteilt hast! War schön, Dich hier zu haben! Mag. Dr. Jakob Pietschnig ist Psychologe und Forscher an der Universität Wien. Nach einem dreijährigen Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Britischen Middlesex University Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten widmet er sich nun im Arbeitsbereich Differentielle Psychologie der Psychologischen Fakultät an der Universität Wien Themen im Rahmen der Intelligenzforschung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Flynn-Effekt, biologische Korrelate von Intelligenz sowie die Anwendung und Entwicklung meta-analytischer Methoden.