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March for Science – auf die Straße für freie Wissenschaft und Demokratie!

Es war ein wenig still in den letzten Wochen auf diesem Blog. Dafür gibt es einen guten Grund: Ende Januar haben mein Lebensgefährte und ich den March for Science in Deutschland gestartet. Das Ganze begann mit einem Tweet: "Here we are", so lautete am 29. Januar unsere erste Nachricht an die Welt, als Antwort, nachdem das Washingtoner Organisatorenteam in die virtuelle Welt hineingefragt hatte, wo denn eigentlich Frankreich, Großbritannien oder Deutschland bei dieser Initiative seien. Nun wird der "March for Science" am 22.4. an 20 Orten in Deutschland und weltweit in über 500 Städten stattfinden – der Countdown läuft. Aber worum geht es eigentlich dabei?

April 2017

Von: Prof. Dr. Tanja G. Baudson


Es war ein wenig still in den letzten Wochen auf diesem Blog. Dafür gibt es einen guten Grund: Ende Januar haben mein Lebensgefährte und ich den March for Science in Deutschland gestartet. Das Ganze begann mit einem Tweet: "Here we are", so lautete am 29. Januar unsere erste Nachricht an die Welt, als Antwort, nachdem das Washingtoner Organisatorenteam in die virtuelle Welt hineingefragt hatte, wo denn eigentlich Frankreich, Großbritannien oder Deutschland bei dieser Initiative seien. Nun wird der "March for Science" am 22.4. an 20 Orten in Deutschland und weltweit in über 500 Städten stattfinden – der Countdown läuft. Aber worum geht es eigentlich dabei? Vermutlich waren auch unter Ihnen einige, die ziemlich ungläubig in den Medien verfolgten, wie Donald Trump tatsächlich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde. Und die noch ungläubiger die in Rambo-Manier durchgesetzten politischen Aktionen beobachteten, die darauf folgten. Bezeichnenderweise traf es ganz früh die Instanzen, gegen die, blickt man in der Geschichte zurück, sich auch Diktatoren immer schon früh gewandt hatten: zunächst die freie Presse, dann die Wissenschaft. Und bei letzterem traf es insbesondere diejenigen Zweige, die einem auf nationalistische und ökonomische Ziele fokussierten Präsidenten unnötig oder vielleicht sogar gefährlich erschienen: die Umweltforschung und die Geisteswissenschaften.

Das Prinzip Propaganda

Seine Methode war und ist: Propaganda. Das wurde bereits im Wahlkampf deutlich; aber mit seiner Wahl und der darauf folgenden Vereidigung war damit nicht Schluss. Teilweise fragte man sich als Außenstehender, warum denn bitteschön die Zahl der Besucher bei seiner Inauguration so wichtig sei, dass man – trotz Bildern, die das Gegenteil nahe legten – ständig wiederholen müsse, dass es mehr Besucher als seinerzeit bei Obama gewesen seien. Trumps Sprecherin Kellyanne Conway prägte dann den Begriff, der seitdem in aller Munde ist: "alternative Fakten" – eine verhüllende Umschreibung für unwahre Tatsachenbehauptungen, oder anders gesagt: Lügen. Genau die Konsequenz, auch bei solchen scheinbaren Kleinigkeiten die Unwahrheit in der Art einer kaputten Schallplatte ständig zu wiederholen, ist aber der Grund, warum Propaganda funktioniert. Wenn Lügen als Wahrheit präsentiert werden, sodass man am Ende nicht mehr weiß, was und wem man glauben soll, schafft das Unsicherheit und somit Instabilität. Da kann sich eine freie Presse noch so sehr bemühen: Wenn ihre soliden Recherchen genau so viel wiegen wie offensichtlichste Unwahrheiten, sinkt das Vertrauen in die Berichterstattung – und das schafft einen Nährboden, auf dem Totalitarismus wunderbar gedeihen kann. Auch scheinbar unwichtige Sachverhalte wie Besucherzahlen sind deshalb extrem wichtig: weil man sie schnell als "nicht so wichtig" abtun kann. So wird man sukzessive an die Lüge gewöhnt, sodass immer extremere Verstöße gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung als akzeptabel erscheinen.

Wissenschaft als fortschreitender Erkenntnisprozess

Analog findet sich das Phänomen, dass differenzierte Befunde von Plattheiten überrollt werden, auch in der Wissenschaft. Hier haben wir das zusätzliche Problem, dass wir als Wissenschaftler/innen stets nur auf der Suche nach Erkenntnis sind, diese jedoch nie in Gänze erlangen können. Wir untersuchen deshalb Phänomene anhand verschiedener Methoden, aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven, um aus diesen Mosaiksteinchen die "Wahrheit" zu erahnen. Und mit jedem Mosaiksteinchen wird das Bild vollständiger. Auch aus diesem Grund sind Replikationsstudien, also Untersuchungen, die eine frühere Studie komplett oder zumindest konzeptuell nachstellen, so wichtig: Jede Bestätigung eines vorangegangen Befundes sichert diesen ab. Deshalb kommt der freien Wissenschaft auch im politischen Geschehen eine zentrale Rolle zu. Ihre Befunde gründen auf Erkenntnissen, die anhand nachvollziehbarer Methoden gewonnen wurden. (Der Wissenschaftsbetrieb in seiner aktuellen Form entspricht dem Ideal der rein nach Erkenntnis strebenden Wissenschaft nur bedingt, das wissen wir alle. Viele Probleme im System Wissenschaft, etwa die unsichere Situation des akademischen Nachwuchses, Replikationskrisen, Fälschungsskandale, fehlendes Engagement in der Öffentlichkeit – kommen jedoch auch durch aus meiner Sicht falsche politische Entscheidungen zustande.) Das Risiko, falsch zu entscheiden, ist deshalb dann besonders hoch, wenn die Entscheidungen nicht aufgrund der bestmöglichen verfügbaren Informationslage getroffen werden, sondern aufgrund von Meinungen oder "gefühlten Wahrheiten", was der Durchsetzung politischer Agenden dient. Lobbyismus ist weltweit ein Problem.

Die Rolle der Wissenschaft und ihrer Kommunikator/innen in der Politik

Wissenschaft kann in der Politik deshalb auch nur eine beratende Funktion haben. Das Mandat für die eigentlichen Entscheidungen liegt bei den gewählten Volksvertretern. Aber diese beratende Funktion ist verdammt wichtig. Dass die Hinweise der Wissenschaft gehört werden, setzt jedoch zudem einiges voraus. Die Freiheit der Forschung hatte ich bereits erwähnt. Außerdem müssen die Entscheidungsträger fähig sein, diese Erkenntnisse einzuordnen. Des Weiteren müssen sich die Wähler/innen darüber im Klaren sein, ob die Person, die sie wählen, Entscheidungen tatsächlich auf der Grundlage mehr oder weniger objektiver Informationen trifft oder sein Fähnchen nur in den Wind hängt (und es ist nicht leicht, Personen kritisch zu betrachten, die einen in den eigenen Ansichten so erfreulich bestätigen). Dies wiederum setzt informierte Bürger/innen voraus. An dieser Stelle kommen dann auch diejenigen ins Spiel, die zwischen Wissenschaft und Bevölkerung vermitteln. Die Balance zwischen Differenziertheit und notwendiger Vereinfachung ist eine Gratwanderung, mit der viel Verantwortung einhergeht.

Konsequenzen unzulässiger Vereinfachung

Populismus ist ein probates Mittel, um Widerstand zu schwächen, Menschen zu entmündigen und sie dann auch dumm und unmündig zu halten. Populismus bietet Scheinwahrheiten an, die die Welt einfach und verständlich darstellen. Da die Welt schon immer komplex war und Menschen schon immer beschränkt waren in ihrer Fähigkeit und Gewilltheit, komplexe Informationen zu verarbeiten, bietet Populismus somit eine enorme geistige Energieersparnis, um den unangenehmen Zustand des Es-nicht-so-genau-einordnen-Könnens schnell beenden können. Die Flüchtlinge, Frau Merkel, die Verschwörung der Pharmabranche oder Chemtrails sind an allem schuld – fabelhaft! Dann brauchen wir ja nur gegen den Sündenbock anzugehen und können die komplexen Systemzusammenhänge ignorieren! Lügen ständig zu widerlegen, ohne große Erfolge wahrzunehmen, zermürbt, nicht zuletzt durch das Gefühl, allein auf weiter Flur gegen die Massen anzukämpfen (die möglicherweise so zahlenstark gar nicht sind, dies jedoch erfolgreich durch Lautstärke kompensieren). [1] In so einer Situation haben alle, die die Wirklichkeit differenziert darstellen wollen, ganz schlechte Karten; denn sie verursachen aus Sicht der Populisten und derer, die ihnen anhängen, unnötige und unangenehme geistige Arbeit (und verschwenden dabei auch noch Steuergelder!!!1elf). Und oft genug entsteht der Eindruck, die Wissenschaftler/innen wüssten es ja selbst nicht so genau. Das ist jedoch der oben skizzierten Tatsache geschuldet, dass sie sich mittels wissenschaftlicher Methoden der Wahrheit stets nur annähern können, ohne sie je zu erreichen. Widerspruch ist ein notwendiger und nützlicher Schritt in diesem Erkenntnisprozess, denn er bringt Wissenschaftler/innen dazu, die Reichweite von vermuteten Zusammenhängen auszuloten. Möglicherweise stimmen Zusammenhänge nur für einen Teil der Stichprobe, und bei anderen Subgruppen sieht es ganz anders aus. Genau diese Stärke der wissenschaftlichen Methode wird ihr jedoch zum Verhängnis, wenn es um die Kommunikation ihrer Befunde geht; denn um die Einschränkungen zu begreifen, braucht es Kenntnisse in Methoden und Wissenschaftstheorie, die in der Schule jedoch allenfalls rudimentär vermittelt werden – die meisten Menschen haben bezüglich dieser "scientific literacy" vermutlich Nachholbedarf (hatten aber möglicherweise auch schlichtweg nicht die erforderlichen Lerngelegenheiten). Auch hierzu brauchen wir qualifizierte Kommunikator/innen, die nicht aus Eigeninteresse dem Wissenschaftsbetrieb nach dem Mund reden, sondern die sowohl realistisch als auch idealistisch genug sind, um ihre Rolle verantwortlich auszufüllen. Und natürlich gute Lehrkräfte – die spielen für unsere Zukunft eine zentralere Rolle, als ihnen möglicherweise selbst bewusst ist.

Keine Chance den sogenannten „alternativen Fakten“ – für eine freie Wissenschaft!

Weil Wissenschaft nach Nachvollziehbarkeit und Transparenz strebt, sind ihre Aussagen denjenigen überlegen, die auf diffusen „gefühlten Wahrheiten“ beruhen. Wir alle kennen das Prinzip der selektiven Wahrnehmung aus eigener Anschauung; man muss sich schon sehr zwingen, die eigene Filterblase auch einmal zu verlassen, um einen vollständigeren Blick auf die Wirklichkeit und somit repräsentativere Daten zu bekommen, die man dann im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit abwägen muss. Sogenannten „alternativen Fakten“ etwas entgegenzusetzen – insbesondere, wenn offensichtlich wird, dass diese eine klare politische Agenda stützen sollen – ist eine Verantwortung jedes Einzelnen; denn ein solcher Diskurs bedroht, wie oben ausgeführt, unsere Demokratie und damit uns alle. Wissenschaftler/innen, die in der Materie tiefer drin sind, haben aus meiner Sicht noch einmal eine besondere Verantwortung, solange die Forschung frei ist. Letzteres ist ganz klar in unserem Grundgesetz verankert: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei„, und das ist auch unabdingbar. Denn unfreie Wissenschaft ist in ihren Möglichkeiten, objektive Erkenntnis anzustreben, eingeschränkt. Dass die Wissenschaft frei bleibt, ist somit im Interesse aller, denen unsere Demokratie wichtig ist. Wie schnell das kippen kann, wie schnell Geldhähne abgedreht und Wissenschaftler/innen zum Schweigen gebracht werden, sehen wir nicht nur in den USA, sondern auch in Ländern wie der Türkei oder Ungarn. Im Vergleich dazu geht es uns in Deutschland sehr gut; aber wir wollen auch, dass das so bleibt – oder vielleicht sogar noch besser wird, denn auch hier sind die Bedingungen, insbesondere für den wissenschaftlichen Nachwuchs, aber auch für wirklich transparente Forschung, in der Praxis ja alles andere als optimal.

Der March for Science: gemeinsam für diese Ziele auf die Straße gehen

Mit dem March for Science wollen wir dafür demonstrieren, dass Forschung frei bleiben muss, weil solide Erkenntnisse das Fundament einer funktionierenden Demokratie sind. Darüber, dass Wissenschaft das Leben vieler Menschen ganz massiv verbessert hat, und auch darüber, dass sie cool ist und Spaß macht, bestehen wohl kaum Zweifel; aber sich in seiner Aussage auf etwas zu beschränken, über das ohnehin Konsens besteht, wäre relativ folgenlos. Deshalb sind uns als Initiatoren die politischen Implikationen so wichtig. In diesem Zusammenhang begegnen wir immer wieder der These, dass Wissenschaft ihre Freiheit einbüße, sobald sie sich politisiere. Dieser Gedanke übersieht jedoch zwei wesentliche Punkte: Zum einen agiert Wissenschaft nicht im luftleeren Raum. Welche Probleme uns relevant genug erscheinen, um sie zu beforschen, ist abhängig von den gesamtgesellschaftlichen und historisch gewachsenen Umständen. Beispielsweise die vielen Geflüchteten in unsere Gesellschaft zu integrieren, stellte auch die Forschung vor neue, ungeahnte Herausforderungen. Zum anderen scheint es mir wichtig, zwischen Wissenschaft und Wissenschaftler/innen zu unterscheiden. Wissenschaft ist ein Konstrukt; Wissenschaftler/innen sind Menschen, die unter konkreten individuellen Lebensumständen Teil einer Gesellschaft sind. Jede einzelne Entscheidung, die man trifft, resultiert somit aus der individuellen Lerngeschichte, die in einen gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Kontext eingebettet ist. [2] Auch Wissenschaftler/innen können also gar nicht anders, als politisch zu sein. Der olle 1968-er Spruch, das Private sei politisch, ist aus meiner Sicht gar nicht dumm. Natürlich bleibt es weiterhin jedem Forscher und jeder Forscherin selbst überlassen, inwieweit er oder sie sich einbringen und den Dialog suchen will (möglicherweise auch auf anderen Wegen als durch eine solche weltweite Kundgebung). Nicht alle wollen das, und nicht alle können das auch. Unser aktuelles Wissenschaftssystem schafft hierzu noch relativ wenig Anreize. Jede Stunde, die in Publikationen und Drittmittelanträge fließt (die Währung bei Berufungen auf Professuren), ist aus pragmatischer Sicht gut investiert – und Sie können mir glauben, dass in die Koordination der deutschen Marches sehr viele Stunden eingeflossen sind, die mir anderweitig gefehlt haben. Ich rechne das lieber nicht hoch. Aber wenn wir so tun, als gingen uns die derzeitigen politischen Tendenzen nichts an, weil Wissenschaft und Gesellschaft nichts miteinander zu tun haben sollten und es uns ja doch eigentlich ganz gut geht, gefährden wir dadurch nicht nur die Existenzgrundlage der Wissenschaft, sondern gleich die ganze Demokratie. Und das geht uns alle an. Ich würde mich deshalb sehr freuen, Sie am 22.4. in einer der zahlreichen teilnehmenden Städte auf der Straße begrüßen zu dürfen, um mit Ihnen für unsere Demokratie und für das stete Streben nach Wahrheit zu demonstrieren (deutschlandweite und weltweite Übersicht der Kundgebungen; in Kiel gibt es übrigens schon eine sehenswerte Vorabendveranstaltung). Es ist ein March FOR Science, der hoffentlich einen Dialog anstoßen und zur Verbesserung des Systems Wissenschaft beitragen wird – kein March OF Science, bei dem sich Wissenschaftler/innen gegenseitig darin bestätigen, wie toll Wissenschaft ist. Mich treffen Sie gemeinsam mit meinem Mitinitator Claus Martin übrigens in Bonn. Lassen Sie uns Wissenschaft gemeinsam wieder zu dem machen, was sie sein kann: freies Streben nach Erkenntnis im Dienste aller. Vielen Dank an die Karg-Stiftung dafür, dass ich zum March for Science bloggen konnte, auch wenn der Beitrag so direkt gar nichts mit dem Thema Hochbegabung zu tun hat. Dennoch betrifft das Thema Forschungsfreiheit natürlich auch die Begabungsforschung.

Weiterführende Links

March for Science Deutschland – Mission Statement Liste der lokalen Veranstaltungen Unterstützerliste (mit Möglichkeit zum Eintragen; lohnt aber auch so einen Blick, oder auch mehrere) Crowdfunding und Spenden Ideensammlung, wie es nach dem March weitergeht Folgen Sie dem March of Science Germany auf Twitter oder Facebook. Infos zum March for Science in Washington D.C. Liste der Satellite Marches weltweit Zum March for Science haben sich auf Scilogs außerdem die Kollegen Martin Ballaschk und Markus Pössel geäußert.

Fußnoten

[1] Auch deshalb ist Solidarität so wichtig; mein Eindruck ist ja, dass sich linksliberale Bewegungen deshalb eher untereinander zerfleischen als rechtsgerichtete, weil für erstere die Autonomie, für zweitere die soziale Eingebundenheit ein ganz zentrales Motiv ist.

[2] Schwierigkeiten mit dieser Argumentation, wenn Sie mir diesen kleinen Seitenhieb erlauben, sind mir häufig in Diskussionen rund um das Thema Feminismus mit Menschen begegnet, die beispielsweise behaupten, dass Frauen selber daran schuld sein, wenn sie weniger verdienen, weil sie die falschen Entscheidungen treffen, und Mädchen deshalb in Rosa gewandet werden, weil sie es ja selbst so wollen. Wie solche Entscheidungen zustandekommen, ist aus meiner Sicht ja die viel interessantere Frage, aber diese Systemzusammenhänge sind kompliziert.