Archiv Hochbegabungs-Blog

Allgemein
< Zurück zur Übersicht des Blog-Archivs

Multipel schwerstbegabt, oder: Sind wir nicht alle ein bisschen hochbegabt?

Auch beim dritten IQ-Test die magische 130 nicht geknackt? Naja, nicht so schlimm. Intelligenz ist ja auch nicht alles, und kognitive Fähigkeiten sind nur ein Teil des menschlichen Fähigkeitsspektrums. Dafür kann man ja gut mit Menschen ... eine soziale Hochbegabung, das wäre doch was. Und künstlerische, musische oder sonstwie kreative Aspekte erfasst ein Intelligenztest ja schließlich auch nicht. Und mit einem derart unvollständigen Instrument will man Hochbegabung feststellen?!

Oktober 2010

Von: Prof. Dr. Tanja G. Baudson


Auch beim dritten IQ-Test die magische 130 nicht geknackt? Naja, nicht so schlimm. Intelligenz ist ja auch nicht alles, und kognitive Fähigkeiten sind nur ein Teil des menschlichen Fähigkeitsspektrums. Dafür kann man ja gut mit Menschen ... eine soziale Hochbegabung, das wäre doch was. Und künstlerische, musische oder sonstwie kreative Aspekte erfasst ein Intelligenztest ja schließlich auch nicht. Und mit einem derart unvollständigen Instrument will man Hochbegabung feststellen?!
Gardners Konzept der "multiplen Intelligenzen" löste seinerzeit eine regelrechte Welle der Identifikation verschiedenster Intelligenzformen aus, die bis heute nicht abgeebbt ist. "Der Poker-IQ" oder "sexuelle Intelligenz" sind nur einige der skurrilen Blüten, die diese Bewegung bislang hervorgebracht hat. Dabei ist Gardners Konzept auf den ersten Blick doch gar nicht so abwegig. Ihm war der rein IQ-basierte Begabungsbegriff zu eng – und wenn man sich den Erfolg des Konzepts anschaut, ist er nicht der einzige, dem es so geht. Ursprünglich waren es sieben. Die ersten drei, linguistische, logisch-mathematische und visuell-räumliche Intelligenz sind durch empirische Forschung noch gut abgesichert. Musikalische und körperlich-kinästhetische Intelligenz sind ebenfalls noch nachvollziehbar, die Differenzierung der inzwischen zum populären Allgemeingut gehörenden "sozialen Intelligenz" in interpersonale (andere Leute verstehen und mit ihnen umgehen) und intrapersonale Intelligenz (sich selbst wahrnehmen und sich entsprechend zu verhalten) mit etwas gutem Willen auch noch. Inzwischen ist er bei zehneinhalb angelangt: Die zwei Aspekte der sozialen Intelligenz wurden in der neuesten Fassung dann doch wieder zusammengefasst; hinzu kamen die so genannte "naturalistische Intelligenz" (Verstehen von Naturphänomenen) und die "existenzielle Intelligenz" (die Übereinstimmung mit dem Kosmos). In der Diskussion waren außerdem spirituelle und moralische Intelligenz, der "geistige Suchscheinwerfer" (die Fähigkeit, ein Feld überblicken zu können) und die "Laser-Intelligenz" (eine Intelligenz, die sowohl Fortschritt als auch Katastrophen bewirken kann); vielleicht schafft es der Poker-IQ ja auch noch irgendwann in die Liste.

Gardner stellte sogar einen richtiggehenden Kriterienkatalog auf, wann ein Fähigkeitsbereich als eigenständige "Intelligenz" gelten kann – aus wissenschaftlicher Sicht grundsätzlich eine gute Idee. Dazu gehören, (1) dass eine "Intelligenz" durch Hirnschädigungen ausfallen kann, (2) dass sie bei Menschen, die eigentlich als geistig behindert gelten, aber in einem Bereich herausragende Leistungen zeigen, als Inselbegabung auftreten kann, (3) dass ihr bestimmte grundlegende geistige Operationen, beispielsweise die Unterscheidung von Tonhöhen, zugrunde liegen, (4) dass sie in der individuellen Entwicklung bei allen Personen bestimmten Entwicklungslinien folgt, (5) dass sie evolutionär bedeutsam ist, (6) dass es experimentelle Hinweise auf ihre Existenz gibt und (7) dass sie in Form eines Symbolsystems (Sprache, Noten, Zahlen …) darstellbar ist. Leider setzt er nicht voraus, dass jede Intelligenz diese Kriterien erfüllen muss – das weicht das Konzept massiv auf. Erschöpfend ist weder seine Liste der Intelligenzen (was ist etwa mit den Bildenden Künstlern?) noch sein Kriterienkatalog, der als selektiv und willkürlich kritisiert worden ist. Und nicht zuletzt sind seine "Intelligenzen" hoch korreliert – sie hängen also statistisch teilweise sehr stark zusammen. Wer generell Zusammenhänge gut versteht und gut schlussfolgern kann, tut das in der Regel unabhängig vom Inhalt.

Im Grunde spricht also alles für eine allgemeine Intelligenz – und die ist, im Gegensatz zu Gardners Theorie, gut abgesichert. Warum erfreuen sich seine Ideen dennoch so großer Beliebtheit? Wenn sich selbst das Produkt einer bekannten Burgerbraterei mit dem Etikett "hochbegabt" schmückt (das Foto wurde im Garten meiner Nachbarn aufgenommen), zeigt sich: Hochbegabung ist auf jeden Fall attraktiv. Aber so, wie die Konsumenten der dort hergestellten Fritten und Burger auch in Muskelshirts und teilweise abenteuerlich kurzen Miniröcken und Shorts nicht unbedingt alle gleich anziehend aussehen, so kann auch nicht jeder hochbegabt sein. Statistisch ist das nun mal so. Sorry! Nun wird aber auch klarer, wie der Mechanismus funktioniert: Wer nachgewiesenermaßen nicht intellektuell hochbegabt ist, sucht sich ein anderes Gebiet, auf dem er oder sie gut ist. Eine solche Begabung gleich als Hochbegabung zu bezeichnen, wäre nicht unbedingt notwendig (ja sogar schädlich); aber augenscheinlich würden die meisten ja doch gerne was von dem leckeren Konzept abbekommen und sich mit dem Etikett schmücken. Die Abwertung der rein intellektuellen Aspekte ist da quasi notwendige Konsequenz.

Das Problem ist: Eine Stärke in einem bestimmten Gebiet ist nicht gleich eine Hochbegabung – da muss sie schon deutlich überdurchschnittlich ausgeprägt sein. Mit einer Inflation der Hochbegabungen, wie sie die Popularisierung der "Multiplen Intelligenzen" nach sich zog, ist letzten Endes aber niemandem gedient. Eine solche Aufweichung des Konzepts führt zwar dazu, dass jeder und jede sich irgendwie hochbegabt fühlen kann – aber wenn alle hochbegabt sind, ist es letzten Endes auch wieder keiner. Die "wirklich" Hochbegabten, deren intellektuelle Begabung durch qualitativ überzeugende Testverfahren nachgewiesen werden kann, stehen dann hingegen vor dem Problem, dass ihre Begabung weder anerkannt noch gefördert wird. Schließlich ist ja jedes Kind hochbegabt, da braten wir keine Extrawürste!

Natürlich soll jedes Kind seinen Stärken gemäß gefördert werden und Gelegenheit bekommen, an seinen Schwächen zu arbeiten. Aber eben jedes Kind – denn auch Hochbegabte sind nicht automatisch in allen Bereichen spitze, selbst wenn diesem Aberglauben nur schwer beizukommen ist. Einfach jede relative Stärke gleich als bereichsspezifische Hochbegabung zu deklarieren, ist sicherlich der falsche Weg – denn davon hat keiner etwas.