Archiv Hochbegabungs-Blog

Allgemein
< Zurück zur Übersicht des Blog-Archivs

Schneller, schlauer, besser?

Mozartbeschallung schon im Mutterleib; gleich nach der Geburt Anmeldung für den besten Kindergarten mit den erfolgreichsten Evaluationen, weil nicht nur der Spaß zählt, sondern die lieben Kleinen auch gleich was Sinnvolles lernen sollen; beim Eintritt in die Grundschule dann gleich Englisch als erste Fremdsprache – ich korrigiere mich: Chinesisch natürlich, Englisch ist doch SO letztes Jahrtausend! –, und danach dann das achtjährige Gymnasium, kurz G8. Man raubt den Jugendlichen ein Jahr ihrer Entwicklung, so die Gegner; man ermöglicht ihnen einen früheren Einstieg ins Arbeitsleben, sodass sie konkurrenzfähig sind gegenüber den Schulabsolventen anderer Länder, so die Befürworter. (Dass sie dadurch auch ein Jahr früher Steuern zahlen, spielt bei den Überlegungen natürlich keine Rolle – es geht doch nur darum, was für die Jugendlichen am Besten ist.)

Mai 2011

Von: Prof. Dr. Tanja G. Baudson


Mozartbeschallung schon im Mutterleib; gleich nach der Geburt Anmeldung für den besten Kindergarten mit den erfolgreichsten Evaluationen, weil nicht nur der Spaß zählt, sondern die lieben Kleinen auch gleich was Sinnvolles lernen sollen; beim Eintritt in die Grundschule dann gleich Englisch als erste Fremdsprache – ich korrigiere mich: Chinesisch natürlich, Englisch ist doch SO letztes Jahrtausend! –, und danach dann das achtjährige Gymnasium, kurz G8. Man raubt den Jugendlichen ein Jahr ihrer Entwicklung, so die Gegner; man ermöglicht ihnen einen früheren Einstieg ins Arbeitsleben, sodass sie konkurrenzfähig sind gegenüber den Schulabsolventen anderer Länder, so die Befürworter. (Dass sie dadurch auch ein Jahr früher Steuern zahlen, spielt bei den Überlegungen natürlich keine Rolle – es geht doch nur darum, was für die Jugendlichen am Besten ist.)

Aber wie gut ist das G8 tatsächlich? Oder, anders gefragt: Profitieren wirklich alle Schülerinnen und Schüler von einer Verkürzung der Schulzeit? Weist der Lehrplan so viele Redundanzen auf, dass man ein ganzes Jahr ersatzlos streichen kann? Kurt Heller, einer der frühen Hochbegabungsforscher in Deutschland, hatte Anfang der Nuller Jahre das G8 ursprünglich als Akzelerationsmaßnahme für Begabte evaluiert. ("Akzeleration" ist wissenschaftlich und heißt "Beschleunigung". Den selben Stoff schneller durchzuziehen ist eine der unkomplizierteren Maßnahmen, Hochbegabte zumindest zeitweilig vor Langeweile zu bewahren; dazu gehört auch das Überspringen von Klassen oder die vorzeitige Einschulung.) Das Ganze hieß in seiner frühen Form noch "D-Zug-Klasse" (heute würde man vielleicht "ICE-Klasse" sagen ... obwohl, vielleicht besser nicht). Heller fand nun heraus, dass mit dem achtjährigen Gymnasium eigentlich nur die besten 25 Prozent gut zurecht kamen; für die Mehrzahl überwog der Stress. Ein wichtiges Argument war damals sicherlich, dass in den inzwischen nicht mehr ganz so neuen Bundesländern zwölf Jahre doch auch gereicht hätten, sodass man das System doch auch gleich in ganz Deutschland einführen könne. (Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Rheinland-Pfälzern bevölkertes Bundesland hört nicht auf, dem System Widerstand zu leisten ...) Sicherlich gab es mit der breiteren Einführung des G8 einige Anpassungen des Curriculums (90% dessen, was man in der Schule lernt, braucht man später im Leben ja sowieso nie wieder); und in der Tat gibt es sogar Anzeichen für eine zunehmende Flexibilisierung, da immer mehr Bundesländer einsehen, dass die Beschleunigung doch nicht so ganz das Gelbe vom Ei ist.

Dennoch stellt sich die Frage nach den Wertvorstellungen, die hinter diesem ganzen Beschleunigungsirrsinn stecken. Schon jetzt boomt der Nachhilfemarkt wie nie zuvor, weil eine Vielzahl der Schülerinnen und Schüler mit dem Stoff nicht mehr hinterherkommt; schon jetzt wird Ritalin bei Konzentrationsproblemen verschrieben, die sich bei näherem Hinsehen oft einfach nur als Stress herausstellen. (Angeblich sollen Jugendliche ja auch noch ein paar andere Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben. Oder Interessen jenseits der Schule verfolgen wollen – selbst Hochbegabte.) Und dient die Schulzeit (und später das Studium – über Bologna hatte ich mich ja anderweitig schon ausgelassen) tatsächlich nur dem Ziel, möglichst schnell ein Zertifikat in der Hand zu haben? So wie ich es von Freunden und Bekannten gehört habe, schätzten ausländische Arbeitgeber an den deutschen Absolventen gerade ihre größere persönliche Reife (die ja vielleicht doch ein bisschen mit dem Alter zusammenhängt).

Ist der Entscheidungsspielraum tatsächlich so eingeschränkt? Gehört man zu den Rabeneltern, wenn man sein Kind durch das Bildungssystem hetzt? Oder ist man doch eher der Böse, wenn man das nicht tut – und das eigene Kind nicht mehr wettbewerbsfähig ist? Das G8 sollte das bleiben, was es ursprünglich einmal sein sollte: eine Begabtenfördermaßnahme – denn für Hochbegabte und Hochleister ist die Schulzeitverkürzung tatsächlich eine sinnvolle Möglichkeit, die Anforderungen zu erhöhen und so Langeweile zu reduzieren. Aber Kinder und Jugendliche unterscheiden sich nun mal in ihrem Leistungspotenzial – und man muss niemanden zu Höchstleistungen prügeln, die er nicht erbringen kann. Im Gegenteil wäre eine Binnendifferenzierung die viel sinnvollere Alternative zur Turbo-Laufbahn ohne Rücksicht auf individuelle Voraussetzungen. Resignation, Depression und chronische Erschöpfung mitten in der zentralen Phase der Identitätsentwicklung muss nicht sein. Burnout ist was für Manager; aber ehrlich gesagt, wünsche ich das nicht mal denen.

P.S.: Wer Interesse daran hat, auch die ergänzende Innenperspektive kennenzulernen (sofern er/sie sie nicht ohnehin täglich an den eigenen Kindern sieht), findet in der aktuellen ZEIT den offenen Brief eines Vaters an seine von Terminen und Dauerpaukerei gestresste Tochter, die gerade die fünfte Klasse besucht.