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Positiv desintegriert – Krise als Chance

Nach längerer Pause (hauptsächlich bedingt durch Umzug und drei äußerst kurzfristig vorzubereitende Vorlesungen – ganz so viel Action hätte ich im letzten halben Jahr eigentlich nicht gebraucht, aber so tobt nun mal das Leben!) gibt es nun endlich mal wieder einen Blogbeitrag. Ich freue mich, dass Sie nach wie vor dabei sind! – Vor einiger Zeit wünschte sich eine Leserin einen Beitrag zu Kazimierz Dabrowskis Theorie der Positiven Desintegration und dem Konzept des Entwicklungspotenzials, das dabei eine wichtige Rolle spielt. Dem komme ich mit etwas Verspätung, aber dafür um so lieber nach!

Januar 2018

Von: Prof. Dr. Tanja G. Baudson


Nach längerer Pause (hauptsächlich bedingt durch Umzug und drei äußerst kurzfristig vorzubereitende Vorlesungen – ganz so viel Action hätte ich im letzten halben Jahr eigentlich nicht gebraucht, aber so tobt nun mal das Leben!) gibt es nun endlich mal wieder einen Blogbeitrag. Ich freue mich, dass Sie nach wie vor dabei sind! – Vor einiger Zeit wünschte sich eine Leserin einen Beitrag zu Kazimierz Dabrowskis Theorie der Positiven Desintegration und dem Konzept des Entwicklungspotenzials, das dabei eine wichtige Rolle spielt. Dem komme ich mit etwas Verspätung, aber dafür um so lieber nach! Weshalb mich die Anfrage so gefreut hat: Dabrowskis Buch „Positive Disintegration“ (1964 – ich glaube, es ist bis heute nicht ins Deutsche übersetzt, wenn ich mich irren sollte, gern in den Kommentaren anmerken!) steht bei mir in der Rubrik „lebensverändernde Bücher“, denn seinerzeit hat es mir einen ganz neuen Blick auf das Phänomen Hochbegabung im Sinne eines Potenzials nicht nur zur Leistung, sondern zur individuellen Entwicklung insgesamt eröffnet. Dabrowskis Ansatz ist also ziemlich anders als gängige Ansätze der Hochbegabungsforschung. Bei ihm geht es weniger um den Aspekt der Intelligenz als vielmehr um Persönlichkeit als Ganzes, um menschliche Entwicklung und Wachstum; seine Theorie könnte somit der Positiven Psychologie zugeordnet werden (wenn es die denn damals schon gegeben hätte). Dabrowski nimmt an, dass sich Menschen in ihrem Potenzial zur persönlichen Entwicklung unterscheiden und dass dieses Potenzial bei hochbegabten und hochkreativen Personen nicht nur besonders hoch ist (= quantitativer Unterschied), sondern der Prozess, der dahinter steht, auch ein anderer ist (= qualitativer Unterschied). In diesem Beitrag werde ich deshalb auch nicht auf empirische Befunde eingehen, die intellektuell Hochbegabte mit durchschnittlich Begabten verglichen haben (das wäre vermutlich einen eigenen Beitrag wert …), sondern ausschließlich auf die Theorie selbst.

Overexcitabilities

Eine zentrale Komponente der Theorie Dabrowskis sind die sogenannten overexcitabilities („Übererregbarkeiten“), die einen Menschen dazu prädisponieren, auf Reize unterschiedlichster Art besonders stark zu reagieren – in einer Intensität, die stärker ausfällt, als der Reiz selbst es war. Jede Overexcitability (im Folgenden mit „OE“ abgekürzt) äußert sich in charakteristischen Erlebens- und Verhaltensweisen. Dabrowski unterscheidet fünf verschiedene Bereiche, in denen sich OEs manifestieren können:

  • psychomotorisch: Diese äußert sich in einem hohen Energieniveau und Tempo bis hin zu einem Eindruck von Getriebenheit. Anspannung wird körperlich abgebaut (beispielsweise durch dauerndes Reden, impulsive Handlungen, aber auch Tics und Nägelkauen).
  • sensorisch: Diese ist charakterisiert durch besondere Freude an sinnlichen und ästhetischen Eindrücken, die sich auch physisch äußern kann (z. B. Gänsehaut). Anspannung wird beispielsweise durch übermäßiges Essen, sexuelle Ausschweifungen oder auch das Streben danach, ständig im Mittelpunkt zu stehen, abgebaut.
  • intellektuell: Diese steht dem konventionellen Begriff der intellektuellen Hochbegabung konzeptionell wohl am nächsten. Sie zeichnet sich durch hohe geistige Aktivität, Neugier, den Wunsch, Dingen auf den Grund zu gehen, ein Streben nach Wahrheit und hohes Reflexionsvermögen aus.
  • imaginativ: Menschen, bei denen diese OE besonders ausgeprägt sind, haben eine starke Vorstellungskraft, viel Phantasie und eine geringe Toleranz für Langeweile.
  • emotional: Eine starke emotionale OE zeigt sich in intensiven Gefühlen, die sich auch körperlich (z. B. Erröten) und affektiv äußern (z. B. Enthusiasmus, aber auch Schuldgefühle oder Depressivität). Diese Menschen sind zu intensiven Bindungen in der Lage (an Menschen, aber auch an Tiere oder Dinge) und mit ihrem eigenen Gefühlsleben sehr vertraut.

Wie wirken diese fünf OEs nun auf Menschen, die eher im durchschnittlichen Erregungsbereich liegen? Hierzu einige Beispiele:

  • Wer „hibbelig“ ist (= psychomotorische OE), wird (insbesondere als Kind) schnell als hyperaktiv etikettiert.
  • Ausschweifende Sinneslust (= sensorische OE) gilt als mangelnde Selbstkontrolle und ist mit den aktuellen Tendenzen zur Selbstoptimierung und -beherrschung so gar nicht kompatibel.
  • Wer zu viel (hinter)fragt (= intellektuelle OE), hat es in unserem noch zu wenig individualisierten Bildungssystem nicht leicht, in dem Lehrkräfte den Lehrplan einhalten müssen.
  • Wer in seine Phantasiewelt abdriftet (= imaginative OE), wird schnell als Spinner abgetan.
  • Sehr gefühlvolle Menschen (= emotionale OE) gelten als nicht tough genug und müssen aus Sicht der anderen lernen, dass das Leben kein Kindergeburtstag ist.[Fussnote 1]

Die positive Umdeutung: Overexcitabilities und Entwicklungspotenzial

Aus Sicht des Durchschnittserregten klingt das alles vermutlich ziemlich anstrengend – und das ist es auch. Wie aus den Beispielen deutlich wird, laufen Menschen mit hoher OE durchaus Gefahr, pathologisiert zu werden. Dem Gedanken, dass Overexcitabilities einen Krankheitswert hätten, widerspricht Dabrowski jedoch entschieden. Denn das, was von außen wie eine psychische Störung (etwa eine Depression) aussieht, ist womöglich nur ein Indiz dafür, dass sich die Person weiterentwickelt: „The distinction between mental health and mental illness rests on the presence or absence of the capacity for positive psychological development“ (Dabrowski, 1964, S. 17). Denn die Desintegration auf der niedrigeren Stufe ist Voraussetzung dafür, eine qualitativ höhere Entwicklungsstufe zu erreichen – bevor man aufsteigen kann, muss es einen also erst mal ordentlich zerlegen. Da eine solche Krise die Entwicklung jedoch insgesamt voranbringt, spricht Dabrowski von einer „positiven Desintegration“. Am Anfang steht der von Impulsen und Instinkten angetriebene Mensch, der auf einem Niveau der primitiven Integration im Hier und Jetzt ganz passabel funktioniert. Um zu einer reichen und kreativen Persönlichkeit zu werden, ist Desintegration (und zwar eine umfassende) jedoch unabdingbar; und in der Disposition zur Desintegration unterscheiden sich die Menschen. Einerseits spielen Lebensphasen des Umbruchs, etwa Pubertät oder Menopause, eine wichtige Rolle; andererseits begünstigt aber auch Nervosität (beispielsweise hervorgerufen durch Overexcitabilities) eine Desintegration, und gesteigerte Overexcitability findet sich umgekehrt oft in Phasen intensiver Weiterentwicklung, bei sehr kreativen Menschen und solchen hohen moralischen, sozialen und intellektuellen Kalibers (Dabrowski, 1964, S. 14, Übers. TGB). Die Overexcitabilities (insbesondere die Kombination aus intellektueller, emotionaler und imaginativer OE) sind jedoch nur ein Faktor der Persönlichkeitsentwicklung. Neben dieser Disposition, auf die Welt in einer bestimmten Weise zu reagieren, spielen die Fähigkeit (besondere Begabungen, etwa intellektuelle oder sportliche Begabung) und die Motivation einer Person (speziell ein starker „Drive“, seine Individualität zu entwickeln; vgl. Mendaglio & Tillier, 2006) eine wichtige Rolle. Desintegration ist dabei auch nicht gleich Desintegration. Dabrowski unterscheidet eine eindimensionale (unilevel), eine Lockerung der mentalen Struktur, die dem Individuum jedoch nur wenig bewusst ist, und eine mehrdimensionale (multilevel), einen bewussten Prozess der Differenzierung der Innenwelt des Individuums, das idealerweise zu einer Integration auf einer höheren Ebene (secondary integration) führt. (Darüber hinaus gibt es auch noch eine chronische und eine pathologische Desintegration, die hier aber nur von sekundärem Interesse sind.) Die Marschroute gibt dabei das sogenannte „disposing and directing center“ vor, eine mehr oder weniger organisierte psychische Struktur, welche das Individuum seinem Idealselbst näher bringt und das kurzfristige Verhalten sowie die längerfristige Planung steuert – mehr dazu gleich. Das Idealselbst ist dabei zunächst eher als eine grobe Idee zu verstehen, derer sich das Individuum aber durchaus bewusst ist. Es stellt ein dynamisches Ziel dar, dem sich das Individuum unter Aufwendung seiner mentalen Energien annähert.

Einflussfaktoren auf die Persönlichkeitsentwicklung: Persönlichkeit, Umwelt und der „dritte Faktor“

Entwicklung geschieht in der Interaktion zwischen persönlicher Disposition und der Umwelt. Diese beiden Aspekte bezeichnet Dabrowski als „ersten“ und „zweiten“ Faktor. Das Entwicklungspotenzial kann sich durchaus auf diese beiden Faktoren beschränken: Im ersten Fall agiert und entwickelt sich das Individuum eher instinkt- und triebgesteuert und hat dabei hauptsächlich seine egoistischen Interessen im Blick. Der Einfluss des zweiten Faktors – hierzu gehört insbesondere das familiäre und gesellschaftliche Milieu – funktioniert über soziale Normen und Erwartungen; auch unter der „Diktatur des Man“ lässt es sich passabel leben. In beiden Fällen sind Verhalten und Entwicklung also fremdbestimmt; Triebe und Instinkte sind für Dabrowski eher als eine Art Programm zu verstehen, das mehr oder weniger automatisch abläuft, aber keine bewusste Auseinandersetzung erfordert. Da aber bekanntlich aller guten Dinge drei sind, gibt es auch noch den „dritten Faktor“ – und dieser ist nun für die internale, autonome Motivation zuständig. Denn er gibt sich den Gegebenheiten nicht einfach hin, sondern beurteilt sie im Hinblick auf die eigene Entwicklungsförderlichkeit. Jede Umweltgegebenheit, jede Handlung des Individuums wird also daraufhin bewertet, ob sie konsistent mit dem Idealselbst ist. Das hat nicht nur Folgen für das Individuum, sondern auch hinaus. Denn die Person wird auch wählerischer, was ihre soziale Umgebung angeht – und das finden andere möglicherweise nicht so nett. Intensive Entwicklung geht daher oft mit Isolation, Einsamkeit und dem Gefühl des Unverstandenseins einher. Der dritte Faktor entfaltet seine Dynamik in kritischen und stressigen Lebensphasen. Er charakterisiert Individuen mit einer starken Tendenz zur positiven Entwicklung, mit anderen Worten: besonders begabte Menschen im Sinne Dabrowskis.

Konsequenzen für die Diagnostik psychischer Störungen

Aus dem Gesagten ist nachvollziehbar, warum Dabrowski davor warnt, eine Diagnose allein auf Grundlage der Symptome des Patienten oder der Patientin zu fällen. Stress, Nervosität, Angst, Depression können zwar bei manchen Menschen auf tiefere Probleme hindeuten, bei anderen jedoch Indizien für eine tiefgreifende Entwicklung und psychische Umstrukturierung sein. Symptomfreiheit reicht für ihn nicht, um psychische Gesundheit zu diagnostizieren: Gesund ist für ihn jemand, der kontinuierlich nach Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit strebt. Und dafür schafft die positive Desintegration mit allen scheinbar negativen Begleiterscheinungen die besten Voraussetzungen. Wer diese im Zuge seiner Selbstentwicklung erfährt, ist also insofern psychisch gesund, als diese zur positiven Entwicklung dazugehören. Soziale Vergleichsnormen wären in dieser Situation fehl am Platze: Denn das Kriterium ist das dynamische Idealselbst, mithin etwas ganz Individuelles.[Fussnote 2] Menschen, die sich ihrer Kreativität und der mit der Krise einhergehenden Veränderungen ihrer Person bewusst sind und überdies ein klares und dynamisches Idealselbst vor Augen haben, sind besonders fähig zur „Selbsttherapie“ und somit zu einer erfolgreichen Integration auf höherer Ebene. Andere können diesen Prozess am besten unterstützen, wenn sie einfühlsam und empathisch auf die sich entwickelnde Person eingehen, sie darin bestärken, eigene positive Standards in Form ihres Idealselbsts zu entwickeln, und weniger lenkend als vielmehr unterstützend den Entwicklungsprozess begleiten, der in unserer Gesellschaft und in unserem Bildungssystem so oft auf Unverständnis stößt.

Fußnoten

[1] Ich habe selbst zwar noch keinen Kindergeburtstag ausgerichtet, aber Menschen mit Kindern haben mir glaubhaft versichert, es gäbe kaum etwas Realitätsferneres als diese Metapher. Und auch Ponyhöfe sind für Eltern wohl nicht immer das reine Vergnügen. [2] Dazu passt Dabrowskis Beobachtung, dass „Normalität“ ja oft definiert wird als Übereinstimmung mit der Mehrheit. Normal, das beinhaltet:

  • praktische Intelligenz, weniger theoretische Intelligenz
  • egozentrische, weniger alterozentrische Einstellungen zur Gesellschaft
  • überwiegend instinktgesteuerte Selbsterhaltung.

Das als „normal“ zu bezeichnen, erachtet Dabrowski als demütigend für die Menschheit: „a more suitable definition of mental health must contain, besides average values, exemplary ones“ (Dabrowski, 1964, S. 113). – Meine persönliche Definition von „Normalität“ orientiert sich an der Normalverteilung und umfasst einfach alles, was darunter liegt. Da die Verteilung sich bekanntlich auf beiden Seiten asymptotisch an die x-Achse anschmiegt, ohne sie je zu erreichen, ist mein Normalitätsbegriff eher inklusiv ;)

Literatur