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Vom überschätzten Selbstwert

Hochbegabte zu begleiten, ist immer wieder von herrlichem Staunen und Entdecken der Gedankenspiele und -produkte der menschlichen Spezies begleitet. Losgelöst von psychotherapeutischen Aspekten, so steht in vielerlei Hinsicht das Schlagwort Selbstwert auf dem Programm. Maik, in diesem Blogbeitrage mein 18-jähriger Ideengeber, besucht mich alle vier Wochen, reflektiert seine schulische und soziale Situation mit mir und wurde von Außenstehenden umschrieben als jemand mit Selbstwertproblemen.

Juli 2011

Von: Götz Müller


Hochbegabte zu begleiten, ist immer wieder von herrlichem Staunen und Entdecken der Gedankenspiele und -produkte der menschlichen Spezies begleitet. Losgelöst von psychotherapeutischen Aspekten, so steht in vielerlei Hinsicht das Schlagwort Selbstwert auf dem Programm. Maik, in diesem Blogbeitrage mein 18-jähriger Ideengeber, besucht mich alle vier Wochen, reflektiert seine schulische und soziale Situation mit mir und wurde von Außenstehenden umschrieben als jemand mit Selbstwertproblemen.

Nun ja: Bei Maik ermangelt es nicht den typischen Beschreibungen von auffälligem Verhalten in der Schule, einem gewissen Egozentrismus und auch einer nicht zu verachtenden Starre beim Versuch Dritter, Kompromisse zu finden. Etwas zurückgezogen, nicht aber sozial desinteressiert, könnte man Maik zudem auch bezeichnen. Jedenfalls liegen seine schulischen Leistungen ein Jahr vor dem Abitur mittlerweile wieder im guten Durchschnitt, während nach sehr guter Grundschule eine miserable Mittelstufe zwischenzeitlich den Verbleib auf dem Gymnasium in Frage gestellt hatte. Nun sind wir durch.

Maik weiß darum, dass ihm von seinen Eltern und auch Lehrern unterstellt wird, Selbstwertprobleme zu haben und demzufolge eine Disposition zu auffälligem Verhalten. Die dahinter stehende Grundannahme ist in etwa so wiedergegeben, dass Selbstwertmängel durch Fremdaufmerksamkeit, die wiederum durch nicht-angepasstes Verhalten verursacht wird, kompensiert würden. Allein das ist schon ein Schmunzeln wert. Aber weiter im Text: Maiks nicht-angepasstes Verhalten besteht aktuell eher darin, Meinungen von Lehrern (so im Originalton) zu hinterfragen und hierbei gelegentlich grundlegende Gesprächsregeln zu missachten. „Früher war das auch so“, heute hingegen gehe es um die Sache oder um die Diskussionfreude, da in der Schule kaum Meinungen, sondern Fakten etwas zu suchen hätten.

Das Gerede über seinen Selbstwert sei fehl am Platze – und: der Selbstwert an sich doch ohnehin völlig überschätzt. In unseren Gesprächen hatten wir immer wieder Wertschätzung anderer, Selbstwertdienlichkeit und Dissonanzen beleuchtet, doch führt Maik hier seine Gedanken allein fort. Der Wert eines Menschen sei ja doch höchst individuell – solle man ihn an den Leistungen des Menschen festsetzen? An seinem Nutzen für die Gesellschaft? An äußeren Merkmalen? Wie misst man also Selbstwert?

Genährt von philosophischen Impulsen aus dem Religionsunterricht kommt er zu dem Schluss, dass der Selbstwert nicht messbar ist, sondern eine gegebene Größe. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der Wertschätzung anderer, die zum einen nicht kontrollierbar sei und zum anderen den subjektiven Wahrheiten derer Köpfe entspringe. Die Frage ist eben nur, wer einem Selbstwert gibt. Die Antwort lautet: Nicht Mutter, nicht Vater, nicht Lehrer – eben jeder selbst. Die weiteren Überlegungen aber führten uns zur Annahme, dass der Selbstwert letztlich als „neutralisiert bzw. neutral“ zu bezeichnen ist, wenn man denn zur Erkenntnis gekommen sei, dass er individuell ist. Somit sind insbesondere die, die annehmen, sie hätten einen niedrigen Selbstwert aus Mangel an Wertschätzung anderer, dem Irrglauben verfallen, Wertschätzung anderer sei gleich dem eigenen Selbstwert. Da Maik Selbstwert und Wertschätzung anderer voneinander trennen kann, liegt für ihn somit kein Selbstwertproblem vor. Denn den gibt er sich ja selbst.

Stoisch anmutend, nicht? Daher sei das Schlusswort mit Epiktet geschrieben: „Es gibt nur einen Weg zum Glück und der bedeutet, aufzuhören mit der Sorge um Dinge, die jenseits der Grenzen unseres Einflussvermögens liegen.“