Hochbegabung verstehen

Schule

Herausforderungen beim Erkennen hoher Begabungen in der Schule

Wenn Kinder und Jugendliche in der Schule herausragende Leistungen erbringen, wenn sie auch im häuslichen Umfeld oder in der Freizeit zeigen, dass sie eine schnelle Auffassungsgabe, besondere Talente oder einen großen Wissensdurst haben, liegt es recht nahe, an eine Hochbegabung zu denken. Mit entsprechenden (pädagogischen wie psychologischen) diagnostischen Möglichkeiten kann dieser Vermutung dann nachgegangen und auf eine entsprechende Förderung geachtet werden.

Von: Claudia Pauly


Hochbegabung und gezeigte Leistung sind nicht dasselbe

Nicht immer drückt sich Hochbegabung aber so eindeutig in erkennbarer Leistung aus. Manchmal können hochbegabte Kinder ihre Stärken und Begabungen nicht (mehr) oder nicht so eindeutig zeigen. Die möglichen Gründe dafür sind vielfältig und reichen von Persönlichkeitsmerkmalen wie „Motivation, Ausdauer, Frustrationstoleranz etc., die die Entfaltung von Potenzial unterstützen“ 1 bis zu Umweltfaktoren und sozio-kulturellen Hintergründen. „Der sozioökonomische Status der Familie, der sowohl den Bildungsgrad der Eltern, den Anregungsgrad der häuslichen Umgebung, das Einkommen, die Anzahl der Bücher etc. mit einschließt, spielt hierbei eine besondere Rolle“ 1. Manchmal erschwert (zusätzlich) auch ein ungünstiges Zusammenspiel von Lehrer:in und Schüler:in das Erkennen von hohen Begabungen.

Hochbegabung in solchen Kontexten zu identifizieren, ist für pädagogische Fachkräfte eine Herausforderung – eine, der es sich zu stellen lohnt, die aber Kenntnisse in Bezug auf bestimmte Phänomene benötigt. Zwei wichtige Themenkomplexe stellen dabei häufig vorkommende Beobachtungsfehler sowie Minderleistungen (Underachievement) dar.

Underachievement

„Underachievement“ beschreibt den Umstand, in dem Kinder mit hohen kognitiven Fähigkeiten im Verhältnis dazu nur geringe Leistungen erbringen. Sie entsprechen damit nicht der gängigen Erwartung, dass sich hohes Potenzial auch zwingend in hoher Leistung zeigen muss und dass sich eine Hochbegabung – auch z. B. bei widrigen äußeren Umständen – schon „irgendwie durchsetzen“ müsse. Underachievement entwickelt sich oft in einem längeren Prozess. Manchmal entsteht es auch erst im Verlauf der Schullaufbahn.

Geringe beobachtbare Leistungen werden nicht selten durch eine Mischung an Verhaltensweisen begleitet. Die Bandbreite an zu beobachtendem Verhalten ist dabei recht groß. So können Schüler:innen versuchen, die Erledigung von Aufgaben in der Schule oder Hausaufgaben zu vermeiden, sie können den Unterricht stören oder sich auch stark zurückziehen. Manchmal lässt sich beobachten, dass Schüler:innen im Schriftlichen gute bis durchschnittliche Leistungen zeigen, im Unterricht aber oft träumen oder sich Nebenbeschäftigungen suchen. Dies sind nur einige Beispiele. Ein solches Verhalten wird oft als problematisch empfunden und kann Lehrkräfte wie Eltern vor Herausforderungen in der Begleitung der Kinder und Jugendlichen stellen. Nicht selten wird dabei auch angenommen, die Kinder und Jugendlichen seien schlichtweg zu faul und müssten sich nur mehr anstrengen bzw. mehr Disziplin zeigen, um ihr Potenzial in Performanz umzusetzen. Manchmal kommt es, insbesondere, wenn eine mögliche Hochbegabung nicht berücksichtig wird, auch zu Fehldiagnosen wie z. B. ADHS.

Spezifische Verhaltensweisen

Einen wichtigen Hinweis, dass es sich um Underachievement handeln könnte und nicht z. B. Überforderung oder andere Aspekte die Ursache für das gezeigte Verhalten sind, liefern weitere zu beobachtende Verhaltensweisen. So zeigen sich manche Schüler:innen beispielsweise bei einer Lehrperson ganz anders als bei einer anderen oder sie weisen in außerschulischen Situationen eine deutlich höhere Motivation als im Unterricht auf. Manchmal zeigt sich dabei auch ein ausgeprägtes Interesse für ein bestimmtes Thema oder eine bestimmte Tätigkeit. Oder die Schülerin bzw. der Schüler stört zwar den Unterricht mit spontanen Wortbeiträgen, diese sind aber inhaltlich sehr versiert. Alle solche Beobachtungen, die in Bezug auf ein Kind, eine:n Jugendliche:n gemacht werden, können in ihrer Gesamtheit einen guten Hinweis darauf liefern, ob ein hohes Potenzial trotz geringer Leistung vorliegt. In diesem Zusammenhang kann es auch hilfreich sein, eine Intelligenzmessung durchzuführen.

Um hohes Potenzial bei geringer Leistung und vielleicht zusätzlich als unpassend empfundenen Verhalten zu erkennen, braucht es eine umfassende, reflektierte Beobachtung des einzelnen Kindes bzw. der/des Jugendlichen und einen ressourcenorientierten Blick. Bei der begleitenden Beobachtung von Schüler:innen ist es allerdings wichtig, mögliche Beobachtungs- und Beurteilungsfehler zu kennen und zu erkennen.

Beobachtungs- und Beurteilungsfehler

Ein wichtiges Qualitätskriterium von Beobachtung ist ein hohes Maß an Objektivität. Beobachtung erfolgt allerdings durch Menschen, und diese beobachten in der Regel immer vor ihrem subjektiven Horizont. So ist die Beobachtung und damit einhergehend die Beurteilung von Schüler:innen naturgemäß geprägt durch Erfahrungen, Erwartungen und Einstellungen der beobachtenden Lehrkräfte. Dies kann dazu führen, dass das, was beobachtet wird, unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen und mit einer bestimmten Gewichtung bewertet wird.

Es gibt einige bekannte Beobachtungsverzerrungen und Beurteilungsfehler, die häufiger vorkommen und die sich eher vermeiden lassen, wenn man als pädagogische Fachkraft von ihnen weiß und das eigene Verhalten dahingehend reflektiert. Dazu gehören unter anderem der Pygmalion-Effekt, der Similar-to-me-Effekt oder der Halo-Effekt. Diese Phänomene beschreiben, wie bestimmte Vorannahmen von Lehrkräften ihr eigenes Verhalten und das der Schüler:innen beeinflussen können oder welche Auswirkung die unbewusste Projektion eigener Werte und Verhaltensweisen auf die Schüler:innen haben kann. Sie weisen auch darauf hin, welche Effekte es haben kann, wenn Beurteilungen und Einschätzungen anderer Fachpersonen ungeprüft übernommen werden, oder wenn das Verhalten von Schüler:innen in einzelnen Aspekten automatisch auf deren gesamte Persönlichkeit übertragen wird.

Eigene Beobachtungsmuster erkennen und einordnen

Das Wissen um eine subjektive Färbung von Beobachtung und die Bedeutung von weiteren Faktoren wie den oben genannten können helfen, Beobachtungen besser einzuordnen. Und auch der Einsatz von Hilfsmitteln wie strukturierte Beobachtungsbögen, die regelmäßige Reflexion von Beobachtungen und der Austausch mit anderen (Lehrkräften, weiteren Fachkräften und Eltern) kann viel dazu beitragen, dass Beobachtungen und Beurteilungen möglichst wertfrei und weniger geprägt von persönlicher Färbung erfolgen. Gerade auch bei Schüler:innen, bei denen Underachievement vorliegt, ist eine sorgfältig reflektierte Beobachtung ein wichtiger Baustein dafür, dass ihre individuellen Stärken erkannt und ihnen der Weg zu einer erfüllten Entwicklung ihrer Begabungen und ihrer Persönlichkeit geebnet werden kann.

ZitatZitat

„Jedes Kind verdient eine Chance auf angemessene Förderung, damit es aus seinen Fähigkeiten so viel wie möglich machen kann.“ 1

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Zur Vertiefung

Auf der Suche nach dem versteckten Potenzial

Beobachtungs- und Beurteilungsfehler im Unterrichtsalltag