Hochbegabung verstehen

Schule

Wer keine Leistung zeigt, ist nicht begabt? (Hoch-)Begabung bedeutet nicht gleich (Hoch-)Leistung

(Hoch-)Leistung und (Hoch-)Begabung sind zwei Begriffe, die auf den ersten Blick das gleiche oder zumindest sehr ähnliches zu beschreiben scheinen. Aufzuzeigen, dass dies ein Trugschluss ist, ist Ziel dieses Artikels, in dem die Unterschiede zwischen (Hoch-)Leistung und (Hoch-)Begabung herausgearbeitet werden und die Bedeutung der Unterscheidung für die Diagnostik und Förderung von Begabung dargelegt wird.

Von: Carolin Kiso


Von der statischen zur dynamischen Auffassung von Begabung

In den vor allem durch Psychologen dominierten Anfängen der Begabtenforschung herrschte die Auffassung, Begabungen seien statische, genetische Leistungsdispositionen, die vorhanden sind oder auch nicht 1. Beispielhaft kann hier die Längsschnittstudie zur Begabungsforschung des Psychologen Terman genannt werden. Ziel der heute als Terman-Studie bekannten Langzeitstudie war eine Datensammlung zu Kindern, bei denen Terman, auf Grund ihres Ergebnisses eines Intelligenztestes, eine Hochbegabung vermutete. In allen Bereichen wiesen die untersuchten hochbegabten Kinder höhere Werte auf als die Kontrollgruppe. Er selbst deutete diese Ergebnisse als einen Nachweis für die Vererbung von Intelligenz 2. Die Ergebnisse seiner Studien wurden später allerdings genau gegenteilig ausgelegt und als Indiz dafür herangezogen, dass Begabungen auch umweltbedingt sind. Ausschlaggebend für Erfolg scheint unter anderem auch der sozioökonomische Hintergrund und nicht allein der von Terman angenommene angeborene IQ zu sein. So konnten beispielsweise Holahan und Sears nachweisen, dass die an Termans Studie teilgenommenen Hochbegabten genauso erfolgreich sind wie eine Zufallsstichprobe von Probanden gleichen sozioökonomischen Status 3. Hier deutet sich also bereits an, dass Erfolg nicht mit Begabung gleichzusetzten ist und gezeigte Leistung sich nicht allein auf das Erbgut zurückführen lässt, wie es anfangs angenommen wurde.

Begabung als dynamisch-veränderliche Größe

Im pädagogischen Diskurs war für die Auseinandersetzungen zur Begabtenförderung vor allem der von dem Pädagogen Heinrich Roth 1969 erschienene Herausgeberband „Begabung und Lernen“ prägend. Seine darin vertretene Auffassung eines dynamischen Begabungsverständnisses regte zu einer neuen Sichtweise auf das Begabungskonstrukt an. Roth plädiert nun für ein dynamisches Begabungsverständnis, bei dem davon ausgegangen wird, dass Begabung keine für sich stehende, unveränderliche Eigenschaft ist. Vielmehr steht sie immer in einer lebendigen Wechselbeziehung zu weiteren inneren und äußeren Bedingungen 4.

Aus einer solchen dynamischen Auffassung von Begabung ist abzuleiten, dass (Hoch-)Leistung nicht allein aus einer (Hoch-)Begabung resultiert. Umgekehrt bedeutet diese Erkenntnis damit auch, dass (Hoch-)Begabung sich nicht zwingend auch in (Hoch-)Leistung ausdrückt, sondern dass ganz unterschiedliche Faktoren, wie beispielsweise das soziale Umfeld oder auch Persönlichkeitsfaktoren, wie fehlende Planungsfähigkeit, dazu beitragen können, dass eine hohe Begabung sich nicht in hoher Leistung zeigt. Diese Zusammenhänge werden im Folgenden anhand des Münchner (Hoch-)Begabungsmodells von Heller und seiner Arbeitsgruppe 5 aufgezeigt.

Unterscheidung von Begabung als Potenzial und Begabung als Leistung

Der Unterschied zwischen (Hoch-)Leistung und (Hoch-)Begabung wird im Münchner (Hoch-)Begabungsmodell (siehe Abb. 1) veranschaulicht.

Abb. 1: Das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell
Abb. 1: Das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell 11

Auf der linken Seite im Modell befinden sich die Begabungsfaktoren, also das Potenzial, das ein Mensch in sich trägt (Intelligenz, Kreativität, Soziale Kompetenz, Musikalität, Psychomotorik 6). Auf der rechten Seite befinden sich die Leistungsbereiche (Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften), also die sichtbare Leistung, die ein Mensch zeigt. Ob ein Mensch Leistung zeigt, ist von dem Potenzial abhängig, dies verdeutlicht der Pfeil in der Mitte. Begabung wird im Münchner Hochbegabungsmodell folglich als dynamischer Prozess sichtbar. Beeinflusst wird dieser Prozess allerdings noch von anderen Faktoren: Zum einen durch die unten angeordneten Umweltmerkmale, wie beispielsweise das Familien- und Schulklima und zum anderen durch die oben angeordneten nicht kognitiven Persönlichkeitsmerkmale, wie beispielsweise die Stressbewältigung und das Arbeitsverhalten.

Zur Veranschaulichung wie Begabungsfaktoren, Umweltmerkmale, nicht kognitive Persönlichkeitsfaktoren und Leistung zusammenspielen können, sei nachfolgend ein kleines Beispiel aufgeführt 6:

Konsequenzen für die Diagnostik und Förderung von (Hoch-)Begabung

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Zunächst und vielleicht auch als wichtigste Erkenntnis aus Mehrfaktorenmodellen wie dem Münchner (Hoch-)Begabungsmodell ist festzuhalten, dass (Hoch-)Begabung sich nicht immer in (Hoch-)Leistung zeigt, folglich ist Begabung nicht immer sichtbar.

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Das Verständnis von Begabung als Fähigkeitspotenzial impliziert, dass Faktoren existieren, die die Performanz positiv oder negativ beeinflussen. Dies können beispielsweise Herkunft, Gender oder Behinderung sein 8. Es können aber auch noch weitere Faktoren sein. Es kann beispielsweise eine Herausforderung darstellen den Schüler, der besonders gut zeichnen kann, sich aber nicht traut zu zeichnen, als begabt zu erkennen. Ebenso wird es schwerer fallen, den hohen Intellekt eines Kindes oder Jugendlichen zu erkennen, das bzw. der eine Sprachstörung hat. Auch eine Schülerin, die auf Grund der Trennung ihrer Eltern momentan mit ihren Gedanken ganz wo anders ist und sich nicht konzentrieren kann, wird eventuell nicht als begabt erkannt. Hoyningen-Süess und Gyseler fordern aus einer sonderpädagogischen Perspektive heraus daher, auch „diejenigen Kinder und Jugendlichen im Blick [zu haben], die zwar über ein hohes Begabungspotenzial verfügen, das sie jedoch aus biologischen, emotionalen oder sozialen Gründen nicht umzusetzen in der Lage sind und bei denen deshalb Beeinträchtigung der Entwicklung diagnostiziert oder prognostiziert werden“ 9. Es gilt für Bedingungen sensibel zu sein, die die Performanz eines Kindes oder Jugendlichen beeinflussen können. Einen Anhaltspunkt für Faktoren, die die Begabungsentwicklung verstellen können, liefert hier erneut das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell mit den Umwelt- und nicht-kognitiven-Persönlichkeitsmerkmalen, wobei diese sicherlich kein vollständiges Abbild zeigen.

Sprach- und Kultursensibilität beim Erkennen von (Hoch-)Begabung erforderlich

Was bedeutet das nun konkret im Zusammenhang mit (schulischer) Begabungsförderung? Vor allem für die Diagnostik von Begabung oder Hochbegabung scheint es wichtig zu sein, sich die Frage zu stellen, ob es in der Diagnose Hindernisse gab, die dazu beigetragen haben, dass die Schüler:innen ihr Potenzial nicht zeigen konnten. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn Tests nicht sprach- oder kultursensibel sind. Ein Kind, dass noch nie in den Genuss gekommen ist, Urlaub zu machen, braucht beispielsweise jede Menge Fantasie, um sein schönstes Urlaubserlebnis zu schildern. Eine sehr gute Sprachgewandtheit reicht hier nicht aus. Ein Kind, das regelmäßig in den Ferien in den Urlaub fährt, ist bei dieser Aufgabe im Vorteil und ihm fällt es hingegen leichter hier seine Sprachbegabung zu präsentieren, sofern nicht andere Faktoren negativ beeinflussen. Nicht nur bei schulischer Leistungsdiagnostik bzw. -abfrage, sondern auch bei (professionellen) Intelligenztests ist daher darauf zu achten, dass diese sprach- und kultursensibel sind und möglichst viele Begabungsbereiche, die in dem (Hoch-)Begabungsmodell von Heller (siehe Abb. 1) beispielhaft auf der linken Seite abgebildet sind, abdecken. Eine solche pädagogische Diagnostik kann dann den Ausgangspunkt für eine individuelle Begabungsförderung darstellen, die unter anderem in der Lage ist, hemmende Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen zu kompensieren.

Was kann die Schule tun?

Lehrkräfte können ihre Schüler:innen in vielfältiger Weise bei der Leistungserbringung unterstützen. Sie haben einen Einfluss auf manche Umweltmerkmale wie beispielsweise das Schulklima und die Instruktionsqualität und haben damit auch direkten Einfluss auf die Begabungsentwicklung und -performanz. Aber auch die Entwicklung der nicht-kognitiven Persönlichkeitsmerkmale wird stark von der Umwelt beeinflusst 10. Schule und ihre Akteure – Lehrkräfte, pädagogische Mitarbeiter:innen, Schulpsycholog:innen usw. – können beispielsweise zur Selbstmotivation beitragen oder bei Prüfungsangst unterstützen, zu mehr Planungsfähigkeit verhelfen und über diese Förderung der nicht-kognitiven Persönlichkeitsmerkmale auch indirekt dazu beitragen, dass die Schüler:innen ihre (Hoch-)Begabungen in (Hoch-)Leistung zeigen können 12.

Sich den Unterschied von (Hoch-)Begabung und (Hoch-)Leistung vor Augen zu führen, ist wichtig, um dafür sensibilisiert zu sein, dass nicht immer die Leistung gezeigt wird, die das Potenzial zulässt. Eine Berücksichtigung von Einflussfaktoren auf die Begabungsentwicklung und -performanz bei der Diagnostik und Förderung von (Hoch-)Begabungen trägt somit zur Chancengerechtigkeit im Bildungssystem bei. Der Unterschied zwischen (Hoch-)Leistung und (Hoch-)Begabung wird im Münchner (Hoch-)Begabungsmodell (siehe Abb. 1) veranschaulicht.