Hochbegabung verstehen

Beratung

Wann ist eine psychologische Intelligenztestung sinnvoll?

Bei konkreten Fragestellungen oder Entscheidungen im Zusammenhang mit einer (vermuteten) Hochbegabung kann eine psychologische Intelligenzdiagnostik hilfreich sein. So können kognitive Fähigkeiten objektiv erfasst und vor dem Hintergrund der individuellen Situation interpretiert werden.

Von: Anne-Kathrin Stiller


Typische Fragestellungen: Hier kann eine IQ-Diagnostik hilfreiche Informationen liefern

Wird bei einem Kind oder Jugendlichen eine Hochbegabung vermutet, geht es häufig auch um die Frage, ob eine psychologische Intelligenzdiagnostik sinnvoll ist. Eltern sowie auch die Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte in der Kita suchen Antworten und wünschen sich Gewissheit in Bezug auf ihre Vermutung. Die Intelligenzdiagnostik spielt daher eine zentrale Rolle in diagnostischen und Beratungsprozessen rund um Hochbegabung. Eine Intelligenzdiagnostik ist dann sinnvoll, wenn sie zur Klärung einer praktisch relevanten Fragestellung beiträgt: z. B. bei Schullaufbahnentscheidungen, bei der Entscheidung über die Aufnahme in spezielle Klassen oder Schulen für Hochbegabte (Selektionsentscheidungen) oder bei Unsicherheit darüber, wie das Kind oder die/der Jugendliche angemessen gefördert werden kann.

Solche diagnostischen Fragestellungen können nicht alleine mit einer Intelligenzdiagnostik beantwortet werden. Weitere Facetten, wie beispielsweise das Lern- und Sozialverhalten, das Selbstkonzept, die Motivation oder individuelle Interessen müssen je nach Fragestellung im diagnostischen Prozess einbezogen werden. Die Grafik gibt einen Überblick über typische Fragestellungen, bei denen eine Intelligenzdiagnostik hilfreich sein kann:

Intelligenz, IQ und was das mit Hochbegabung zu tun hat

Intelligenz bezieht sich auf die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit. Sie setzt sich aus unterschiedlichen Teilfähigkeiten zusammen, die typischerweise gemeinsam auftreten 1. Jedoch ist dies nicht starr zu verstehen: Die unterschiedlichen Denkfähigkeiten können gerade im Bereich hoher Intelligenz mitunter unterschiedlich ausgeprägt sein. Es sind daher auch unausgeglichene Begabungsprofile möglich, in denen individuelle Stärken deutlich hervortreten, die sich auch auf spezifische Leistungen auswirken: Beispielsweise wirkt sich eine hohe verbale Intelligenz besonders auf sprachliche Leistungen aus.

Warum spielt die Intelligenz eine so zentrale Rolle bei der Beurteilung, ob eine Person hochbegabt ist? Intelligenz als Fähigkeit zum Verstehen, Lernen und Problemlösen kann akademische und auch berufliche Leistungen vorhersagen 1. Das Vorliegen oder Fehlen passender Bildungs- und Fördermöglichkeiten hat wiederum einen Einfluss darauf, wie die Intelligenz sich entwickelt. Für eine Hochbegabung ist eine hohe Intelligenz zwar eine notwendige Voraussetzung, aber für sich genommen noch nicht ausreichend, da auch die Persönlichkeit und erlernte Kompetenzen von Bedeutung sind. Intelligenztests spielen eine wichtige Rolle in der Identifikation einer intellektuellen Hochbegabung, weil sie das objektivste, verlässlichste und valideste Identifikationsinstrument sind. Sie werden um weitere Informationen ergänzt, um eine Hochbegabung abzuklären.

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Intelligenztests machen das nicht Beobachtbare beobachtbar: Vorhandene Fähigkeiten eines Kindes können entdeckt werden, auch wenn es (noch) keine entsprechenden Leistungen zeigt.

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Das Ergebnis eines Intelligenztests – der Intelligenzquotient (IQ) – setzt die intellektuelle Fähigkeit einer Person ins Verhältnis zu ihrer Bezugsgruppe, also zur Fähigkeit anderer Personen mit derselben Muttersprache und in derselben Altersgruppe und beträgt im Durchschnitt 100. Besonders hohe IQ-Werte ab 130 kommen bei rund 2% der Bevölkerung vor. Für die Identifikation und begabungsgerechte Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher wird dieser willkürlich gesetzte Wert häufig weiter gefasst (IQ 125 oder 120). Er findet manchmal aus rein pragmatischen Gründen Anwendung, z. B. beim wissenschaftlichen Vergleich hochbegabter und normalbegabter Gruppen oder bei Auswahlprozessen für stark nachgefragte Förderangebote.

Welcher Test ist der Richtige und wie werden die Ergebnisse eingeordnet? Vom Wert professioneller psychologischer Diagnostik

Es gibt nicht den einen besten oder den richtigen Intelligenztest. Abhängig vom Alter, von individuellen Bedingungen und von der konkreten Fragestellung wählen Psycholog:innen einen passenden Test aus. Soll beispielsweise über den Besuch einer Spezialschule mit einem sprachlichen Schwerpunkt entschieden werden, sollte ein Test gewählt werden, der die Betrachtung des Intelligenzprofils ermöglicht, damit die relevanten spezifischen Teilfähigkeiten (hier insbesondere verbale) beurteilt werden können. Wird ein Kind getestet, das bisher einen eingeschränkten Zugang zu Bildungsangeboten hatte oder dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, müssen Tests herangezogen werden, die weniger bildungs- bzw. sprachabhängig sind. Um für die Hochbegabungsdiagnostik geeignet zu sein, muss ein Test insbesondere für die Messung im oberen Leistungsbereich konzipiert sein und sich in diesem Bereich bewährt haben. Die IQ-Test-Datenbank des Karg Fachportals Hochbegabung bietet Fachkräften fundierte Informationen über die spezifische Eignung von Intelligenztests im Rahmen der Hochbegabungsdiagnostik.

Vor dem Hintergrund der individuellen Fragestellung oder Zielsetzung werden neben der Intelligenz in aller Regel weitere Merkmale in die Diagnostik einbezogen. Hierbei können z. B. die Kreativität, Persönlichkeitsmerkmale oder spezifische Kompetenzen (z. B. [metakognitive] Lernkompetenzen) psychometrisch erfasst werden. Darüber hinaus werden weitere Informationen einbezogen, wie Leistungsmaße (z. B. Konzentrationsfähigkeit) oder die Einschätzungen der Kinder, Eltern und pädagogischen Fachkräfte.

Liegt das Testergebnis vor, ordnet der/die Psycholog:in es in einem Rückmeldegespräch vor dem Hintergrund der individuellen Fragestellung ein. Dabei ist nicht nur der Intelligenzquotient von Interesse, sondern auch das Begabungsprofil, da es Auskunft über die besonderen Stärken und etwaige Schwächen des Kindes oder Jugendlichen gibt. Werden solche Begabungsschwerpunkte gemeinsam mit weiteren relevanten Merkmalen wie individuellen Interessen und der Motivation betrachtet, können passende Fördermaßnahmen gefunden werden. Diese Informationen sind neben dem IQ ebenfalls hilfreich, insbesondere wenn die Aufnahme in spezielle Klassen oder Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten (z. B. naturwissenschaftlicher oder sprachlicher Schwerpunkt) erwogen wird. Weitere Informationen sind hier von Relevanz, beispielsweise helfen Informationen zum Selbstkonzept bei der Einschätzung, wie Schüler:innen mit dem hohen Leistungsniveau der Peers in speziellen Hochbegabtenklassen oder -schulen umgehen.

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Intelligenzdiagnostik darf nicht im luftleeren Raum stattfinden. Ratsuchende sollten mit einem Testergebnis nicht alleine gelassen werden.

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Damit sie bei ihrer Entscheidungsfindung oder Problemlösung unterstützt werden, ist ein fundiertes Rückmeldegespräch unerlässlich, in dem alle Informationen vor dem Hintergrund der individuellen Fragestellung betrachtet werden. Ein schriftlicher testpsychologischer Ergebnisbericht gehört ebenfalls zum guten Standard einer professionellen psychologischen Diagnostik. Mit einem IQ-Testergebnis allein ist den Ratsuchenden in den seltensten Fällen geholfen: Beratende sollten in der Lage sein, das weitere Vorgehen und die weitere Entwicklung zu begleiten.

Keine Regel ohne Ausnahme: IQ-Screenings

In der Regel ist eine Intelligenzdiagnostik nur im Zusammenhang mit einer konkreten Fragestellung angeraten. Die reine Abklärung der Höhe der Intelligenz („Ist das Kind nun hochbegabt oder nicht?“) als Selbstzweck ist nicht zielführend. Es gibt jedoch ein Argument dafür, auch ohne konkreten Anlass oder das aktive Aufsuchen einer Beratung die Intelligenz von Kindern und Jugendlichen zu testen. In breit angelegten Intelligenz-Screenings können auch solche hochbegabten Kinder und Jugendlichen entdeckt werden, die ansonsten durchs Raster fallen. Hochbegabte Mädchen, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus soziokulturellen Milieus, die eher bildungsferner sind, bleiben häufig unter ihren Möglichkeiten, weil Eltern und auch Fachkräfte seltener auf die Idee kommen, bei ihnen eine Hochbegabung zu vermuten. Diese in der Begabtenförderung traditionell unterrepräsentierten Kinder werden weniger häufig in der Beratung vorgestellt, in der eine Intelligenzdiagnostik möglich wäre. Werden im Rahmen eines IQ-Screenings beispielsweise alle Kinder oder Jugendlichen eines Jahrgangs oder einer Institution flächendeckend getestet, können auch diese unterrepräsentierten Gruppen sowie hochbegabte Underachiever eher entdeckt und begabungsgerecht gefördert werden. Universelle IQ-Screenings gewährleisten die kultur-faire Identifikation hochbegabter Kinder und Jugendlicher sowie den Abbau systematischer Verzerrungen und tragen damit zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei.