Hochbegabung verstehen

Beratung

Diagnostische Fragestellungen im Schulalter

Fragen und Themen, mit denen Eltern von (vermutlich) hochbegabten Schulkindern psychologische Beratung aufsuchen, sind vielfältig. Psychologische Diagnostik nutzt daher eine Vielzahl von Methoden und Verfahren. Ihre Ergebnisse können Ratsuchenden wie Beratenden bei der Suche nach Lösungen hilfreiche Hinweise geben.

Von: Christine Koop


„Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder …“

Das Schulalter umfasst eine große Altersspanne: Kinder und Jugendliche, die die Schule besuchen, sind ungefähr zwischen sechs und 19 Jahren alt. Entsprechend stark variieren die Anliegen, mit denen sich Eltern an psychologische Beratungsstellen wenden. Im Zusammenhang mit Hochbegabung suchen Eltern besonders häufig Rat, wenn sie Fragen zur Begabung ihres Kindes und zu schulischen und außerschulischen Fördermöglichkeiten haben. Oft geht es dabei nur vordergründig um eine Diagnostik zum „Selbstzweck“ und die Klärung der Frage, ob das Kind „wirklich“ hochbegabt ist. Hinterfragen die Beratenden die Gründe für das Aufsuchen einer Beratungsstelle, treten in den Erstgesprächen häufig vielfältige Fragestellungen zutage, z. B. zur Gestaltung der Schullaufbahn oder zu Erziehung und Wohlergehen des Kindes. Ein relativ hoher Anteil an Beratungsanfragen betrifft aber auch Leistungs- und Motivationsprobleme, den Umgang mit schulischen Anforderungen, Probleme in Beziehungen zu Gleichaltrigen oder erwachsenen Bezugspersonen (Eltern, Lehrkräfte) oder das psychische Erleben und emotionale Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen. Oft werden im Erstgespräch auch mehrere Fragen und Probleme genannt. Dabei lässt sich beobachten, dass mit dem Alter der Kinder auch Anzahl und Schweregrad der Probleme ansteigen. Treten beispielsweise im Grundschulalter häufiger noch Motivationsprobleme und erste Anzeichen von Unterforderung auf, sind bei älteren Schüler:innen ernsthaftere schulische Leistungsprobleme bis hin zu Underachievement Beratungsanlass.

Generell gilt: Ratsuchende suchen eine Beratungsstelle wegen eines Problem auf, für das sie gegenwärtig keine Lösung sehen.

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Psychologische Beratung ist ein Prozess, in dem die Ratsuchenden darin unterstützt werden, Lösungen für ihre Probleme oder andere Umgangsformen mit den problemauslösenden Faktoren zu entwickeln. Psychologische Diagnostik ist Bestandteil dieses Prozesses und trägt dazu bei, Faktoren einzugrenzen, die zum Problem beitragen und es aufrechterhalten.

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Darüber hinaus hilft sie dabei, Ressourcen aufzudecken, die Kind und/oder Familie zur Bewältigung des Problems haben. Und manchmal besteht das Problem auch einfach in einer Unsicherheit der Ratsuchenden. Dann kann eine Beratung und ggf. durchgeführte Diagnostik den Ratsuchenden auch die notwendige Sicherheit vermitteln, ohne dass nachfolgend etwas Spezielles unternommen werden müsste. Im Folgenden sollen die Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Diagnostik beispielhaft für einige typische Beratungsanliegen näher erläutert werden.

Grafik häufige Beratungsanliegen in der Hochbegabtenberatung
Häufige Beratungsanliegen in der Hochbegabtenberatung 1

Diagnostische Fragen im Kontext schulischer Förderung

Die Anliegen im Rahmen der Schullaufbahnberatung umfassen in Abhängigkeit vom Alter des Kindes oder Jugendlichen sehr unterschiedliche Fragestellungen: Dazu gehören die Fragen nach einer möglichen vorzeitigen Einschulung oder dem Überspringen einer Klassenstufe, nach dem Besuch einer Spezialklasse bzw. -schule oder dem Verbleib in einer „Regelschule“, dem Besuch eines Internates oder nach der Teilnahme an einem Enrichment-Programm oder Frühstudium. Nicht immer ist für die Beantwortung dieser Fragen eine psychologische Diagnostik erforderlich. Sind jedoch für Eltern und Lehrkräfte die Grundlagen für ihre Entscheidung nicht eindeutig oder gar strittig, wird häufig eine psychologische Diagnostik erbeten, um Eindrücke aus Familie und Schule näher zu beleuchten. In einigen Bundesländern ist zudem die psychologische Leistungsdiagnostik durch die Schulpsychologie wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme in Spezialklassen oder -schulen.

Intelligenzdiagnostik

Unbestritten spielt die Intelligenzdiagnostik im Zusammenhang mit den aufgeführten Fragestellungen eine zentrale Rolle. Sie kann entscheidend dazu beitragen, das kognitive Leistungsvermögen eines Kindes oder Jugendlichen zuverlässiger und objektiver zu beurteilen, als es für Eltern und Lehrkräfte auf der Basis ihrer alltäglichen Eindrücke möglich ist. Einschätzungen von Eltern und Lehrkräften sind bspw. nachweislich durch die schulischen Leistungen und das soziale Verhalten des Kindes oder durch seine familiäre und soziale Herkunft beeinflusst – und davon, über welches Leistungsvermögen andere Kinder im Umfeld der Familie und Schule verfügen. Intelligenztests sind genau zu diesem Zweck „erfunden“ worden: Sie sollen helfen, diese durchaus menschlichen Urteilsfehler auszuschließen und Schullaufbahnentscheidungen „begabungsgerechter“ zu treffen. Darüber hinaus können Intelligenztests helfen, Begabungsschwerpunkte zu identifizieren, um Fördermaßnahmen besser darauf abzustimmen.

Erhebung motivationaler Eigenschaften und Merkmale des Kindes

Doch die Feststellung einer weit überdurchschnittlichen Intelligenz stellt für sich genommen keine hinreichende Voraussetzung dar, wenn die Frage beurteilt werden soll, ob eine spezifische Fördermaßnahme im individuellen Falle empfehlenswert ist. Um diagnostische Fragen im Zusammenhang mit Schullaufbahnentscheidungen gut beantworten zu können, müssen die Beratenden auch wissen, welche Anforderungen die einzelnen Fördermaßnahmen beinhalten und in welcher Form ggf. eine Begleitung des hochbegabten Kindes erfolgt. So können sie die Intelligenzdiagnostik um weitere diagnostische Instrumente ergänzen, z. B. zur Erhebung motivationaler Eigenschaften und Merkmale des Kindes. Das hilft zu beurteilen, ob das jeweilige Kind von der spezifischen Maßnahme profitieren kann und ob es sie selbst als passend empfindet oder ob eine andere Maßnahme vielleicht geeigneter ist. Aus diesem Grund ist auch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pädagogik und Psychologie im Zusammenhang mit Förderentscheidungen wünschenswert.

Als Beispiel sei die Frage nach dem Besuch einer Spezialschule oder -klasse genannt. Hierfür sind nicht nur allgemeine hohe kognitive Fähigkeiten eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Maßnahme. Bisher gute oder sehr gute schulische Leistungen sind von Vorteil, weil das Kind beim Erlernen der neuen Lerninhalte gut an Vorwissen anknüpfen und so leichter die Anforderungen eines beschleunigt zu durchlaufenden Schulcurriculums bewältigen kann. Hat die Hochbegabtenklasse oder -schule zudem einen inhaltlichen Fokus (z. B. Naturwissenschaften), sollten nicht nur Tests zur Bestimmung der allgemeinen Intelligenz, sondern auch Verfahren zum Einsatz kommen, die ein differenzierteres Leistungsprofil mit individuellen Stärken (z. B. für den sprachlichen oder eher mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich) erstellen können.

Wichtig sind darüber hinaus leistungsbezogene Persönlichkeitsvariablen, wie zum Beispiel Ausdauer bei schwierigen Aufgaben, Frustrationstoleranz, ein konstruktiver Umgang mit Misserfolgen oder Rückschlägen, Durchsetzungsfähigkeit usw. 2. Nicht zuletzt sollten neben allen diagnostischen Daten selbstverständlich auch die Sichtweise und die Wünsche der Kinder und Jugendlichen in den Beratungsprozess einbezogen werden und die sehr weitreichende Entscheidung einer Schulwahl beeinflussen.

Diagnostische Fragen im Problemfeld von Leistung und Motivation

Neben Fragen zu geeigneten Fördermaßnahmen stellen im Zusammenhang mit Hochbegabung Probleme im Bereich der Schulleistung die häufigsten Anlässe für das Aufsuchen einer psychologischen Beratungsstelle dar. Die Bandbreite ist dabei groß: Von motivationalen Problemen in Schule oder Familie (z. B. in einzelnen Schulfächern oder in Hausaufgabensituationen) über temporäre Minderleistung in einzelnen Schulfächern bis hin zu dauerhafter Minderleistung bzw. einem Underachievement mit Versetzungsgefährdung oder einer allgemeinen Schulunlust sind zahlreiche Nuancen zu beobachten.

Während bei allgemeinen Fragen zur Schullaufbahnentscheidung die Frage nach der Passung von individueller Begabung und Fördermaßnahmen im Mittelpunkt steht, erfordert die psychologische Diagnostik im Zusammenhang mit schulischen Leistungsproblemen ein differenzierteres Vorgehen. Zum Teil streift sie auch Bereiche der klinischen Psychologie, wenn die vorhandenen schulischen Probleme und die damit verbundenen Konflikte mit Lehrkräften oder Eltern das psychische Erleben der Kinder und Jugendlichen beeinträchtigen.

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Eine hohe kognitive Begabung per se ist kein Garant für gute schulische Leistungen. Neben weiteren Persönlichkeitsmerkmalen des Kindes beeinflussen auch Merkmale des schulischen oder familiären Umfeldes die Schulleistungen.

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Entsprechend vielfältig sind die eingesetzten psychodiagnostischen Instrumente bei der Abklärung von Ursachen für schulische Leistungs- und Motivationsprobleme. Zunächst müssen sowohl eine Unterforderung als auch eine kognitive oder emotionale Überforderung ausgeschlossen werden. Intelligenztests und standardisierte Leistungstests setzen unabhängig von den Schulnoten die allgemeinen kognitiven Voraussetzungen ins Verhältnis zu den erzielten Fertigkeiten in einzelnen schulischen Leistungsbereichen (z. B. der Mathematik oder dem Lesen und Schreiben). Darüber hinaus können mit standardisierten Schulleistungstests möglicherweise vorliegende Teilleistungsstörungen (wie z. B. eine Lese-Rechtschreibschwäche, einer Dyskalkulie oder eines AD(H)S) ausgeschlossen werden. Ferner werden weitere schulleistungsrelevante Merkmale erhoben, wie die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit oder sogenannte Basiskompetenzen für spezifische Schulleistungen (z. B. die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit).

Fragebögen zu leistungsbezogenen Persönlichkeitseigenschaften

Neben der psychologischen Leistungsdiagnostik spielen Fragebögen zu leistungsbezogenen Persönlichkeitseigenschaften des Kindes eine Rolle: Verfügt ein Kind beispielsweise über eine übermäßige Prüfungsangst? Was motiviert das Kind beim Lernen für die Schule – die Freude am eigenen Kompetenzzuwachs oder die Sorge vor schlechten Noten? Wie verarbeitet es Misserfolge und Rückschläge und wie beeinflusst das sein Lernverhalten? Sowohl Einschätzungen des Kindes selbst als auch von Lehrkräften und Eltern können dafür erhoben werden. Oft bringt gerade der Vergleich von Selbst- und Fremdeinschätzungen wichtige Erkenntnisse und Ansatzpunkte für weitere Gespräche mit Kind, Familie und Schule. Im Rahmen einer schulpsychologischen Beratung besteht zudem die Möglichkeit, dass eine Schulpsychologin oder ein Schulpsychologe auch eine Unterrichtsbeobachtung durchführt, um das Kind in der Interaktion mit anderen Schüler:innen und der Lehrkraft zu erleben.

Ausschluss von psychisch beeinträchtigenden Ursachen

Ausgeschlossen oder eingegrenzt werden müssen schließlich auch mögliche Ursachen, die das psychische Wohlbefinden beeinträchtigen und in der Folge zu Leistungsproblemen führen können, wie Mobbing, Depressionen, kritische Lebensereignisse wie dem Verlust eines nahen Angehörigen oder der Scheidung der Eltern. Fragebögen können die Eingrenzung der Ursachen für schulische Motivations- und Leistungsprobleme erleichtern, da sie eine zeitsparende Methode sind, viele verschiedene Möglichkeiten zu ergründen. Bei Vorliegen näherer Hinweise auf eine mögliche Ursache werden Psycholog:innen diesen Aspekt und seine Auswirkungen im Gespräch sorgfältiger eruieren.

Wie es nach der Diagnostik weitergeht

Damit ist in einem Überblick aufgezeigt worden, welche Möglichkeiten eine psychologische Diagnostik prinzipiell umfasst. Ihr Umfang wird sich in der Praxis immer am Ausmaß der Problematik orientieren getreu dem Motto „So viel wie nötig, so wenig wie möglich.“

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Die erhobenen Daten müssen mit Blick auf die Fragestellung bzw. den Beratungsanlass verständlich für Eltern und Kind dargestellt und interpretiert werden und sollten Ansatzpunkte für spezifische Interventionen oder Lösungswege aufzeigen.

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Dabei kann es hilfreich sein, wenn beratende Psycholog:innen sowohl einerseits die Eltern im Gespräch mit der Schule als auch andererseits die Schule bei der Wahl von geeigneten schulischen Unterstützungsmaßnahmen für das Kind unterstützen. Analog zur Schullaufbahnberatung geht es dabei darum, einzelne mögliche Maßnahmen mit Blick auf die individuellen Voraussetzungen des Kindes abzugleichen und eine möglichst gute Passung herzustellen. Auch eine weitere Beratung der Familie, z. B. zur kommunikativen Gestaltung von Situationen rund um die Schulleistung des Kindes, oder spezifische Interventionen für das Kind (z. B. eine lerntherapeutische Unterstützung) können in Abhängigkeit von den diagnostischen Ergebnissen für die Behebung der schulischen Leistungsprobleme eine Rolle spielen.