Hochbegabung verstehen

Beratung

Herausforderungen beim Erkennen hoher Begabungen in der Beratung

Ob eine Hochbegabung vermutet und erkannt wird, hängt zum einen davon ab, ob und wie Hinweise darauf in Erscheinung treten, und zum anderen, wie sensibel das Umfeld für diese Hinweise ist. Beim Erkennen und Diagnostizieren von Hochbegabung gibt es einige Herausforderungen und Tücken, die Berater:innen kennen sollten, um eine mögliche Hochbegabung mit und ohne vorherige Vermutung aufspüren und abklären zu können.

Von: Anne-Kathrin Stiller


Das nicht-prototypische hochbegabte Kind

Starre Stereotypen darüber, wie sich Hochbegabung zeigt und wer hochbegabt sein kann, trüben häufig den Blick für die bunte Realität. Hierfür sensibilisierte Berater:innen können eine mögliche Hochbegabung unvoreingenommener in Betracht ziehen und diagnostisch abklären.

Traditionell unterrepräsentierte Gruppen

Vorurteile (Bias) und -annahmen bei Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften in Kitas, Eltern und anderen Bezugspersonen führen dazu, dass Hochbegabung eher bei privilegierten Jungen ohne Migrationshintergrund vermutet werden, während hochbegabte Mädchen sowie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder bildungsferneren soziokulturellen Milieus häufiger unentdeckt bleiben.

Underachiever: Hohe Begabung ohne hohe Leistung

Das Erkennen hoher Begabungen kann dadurch erschwert werden, dass manche Kinder und Jugendlichen ihre Begabung nicht in schulische Leistung umsetzen. Ein solches Underachievement (Minderleistung) kann dazu führen, dass eine Hochbegabung übersehen wird. Anlass für das Aufsuchen einer Beratung sind oft andere Probleme wie Noteneinbrüche, Motivationsschwierigkeiten oder Konflikte. Hier braucht es im Thema Hochbegabung sensibilisierte und qualifizierte Berater:innen, die eine mögliche Hochbegabung im Gespräch thematisieren.

Twice Exceptional: Doppelt außergewöhnlich

Hochbegabung und andere Besonderheiten können zusammen ein schwer zu durchschauendes Bild erzeugen. Bei Kindern oder Jugendlichen, die eine weitere Besonderheit aufweisen („Twice Exceptional“), wie eine Störung des Lernens, des Verhaltens, der Wahrnehmung oder eine körperliche Besonderheit, wird eine Hochbegabung daher oft übersehen. Berater:innen, deren Blick geschult ist, können eine Hochbegabung in solchen komplexen Gefügen eher erkennen und Betroffene damit besser unterstützen.

Hochbegabte Kinder auf dem Bolzplatz

Kinder mit einer unerkannten Hochbegabung können auch beim Arzt, in der Erziehungsberatungsstelle, in anderen psychosozialen Zusammenhängen oder in außerschulischen (Bildungs-)Situationen auftauchen. Dann braucht es jemanden mit dem richtigen Riecher. Eine Hochbegabung sollte daher auch dann als Möglichkeit in Betracht gezogen werden, wenn der Beratungsanlass oder der Beratungskontext ein anderer ist.

Herausforderungen meistern mit professioneller Diagnostik

Psychologische Diagnostik kann dabei helfen, bisher unerkannte hohe Begabungen zu entdecken. Berater:innen sollten dabei individuelle Gegebenheiten besonders berücksichtigen:

Sprachfreie Tests

Sprachfreie Tests eignen sich insbesondere für das Erkennen von Begabungen bei Kindern und Jugendlichen mit einer Sprachbarriere oder für Kinder, die unter einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leiden.

Erfassung der fluiden Intelligenz

Soziokulturelle oder sozioökonomische Faktoren verzerren das Ergebnis einer Leistungsdiagnostik, wenn diese stark abhängig von Bildung, Förderung und deren Erfolgen ist, also auf bereits angeeignetem Wissen aufbaut. Um das Leistungspotenzial auch unabhängig von solchen Einflüssen einschätzen zu können, eignen sich Tests, die fluide Intelligenzkomponenten (z. B. Problemlösen, Lernen oder Muster erkennen) erfassen.

Universelle Screenings

Damit bestimmte Gruppen nicht länger durch das Raster fallen und ihnen damit Chancen auf begabungsgerechte Förderung verwehrt bleiben, hilft der Einsatz universeller IQ-Screenings. Hier nehmen z. B. alle Kinder eines Jahrgangs an einem kurzen IQ-Test teil. Die Ergebnisse können objektive Hinweise auf hohe Begabungen liefern, die vom Umfeld bislang nicht wahrgenommen wurden.

Geeignete und aktuelle Testverfahren

Bei der Auswahl von Intelligenztests ist es von besonderer Wichtigkeit, dass Testverfahren für das Alter und die Fragestellung geeignet und aktuell sind. Aktuell bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Normierung (d. h. die Eichung) eines Intelligenztests nicht länger als zehn Jahre zurückliegen sollte, da ansonsten aufgrund des Flynn-Effekts die Gefahr besteht, die Intelligenz zu überschätzen.

Informationen zu aktuellen und für verschiedene Altersgruppen und Fragestellungen geeigneten Testverfahren für die Diagnostik im Bereich Hochbegabung bietet unsere IQ-Test-Datenbank.

Zur Vertiefung

Underachievement bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen

Twice Exceptionals sicher erkennen, sensibel beraten und individuell fördern

Psychologische Hochbegabungsdiagnostik bei sprachlichen und kulturellen Barrieren