Hochbegabung verstehen

Beratung

Twice Exceptionals sicher erkennen, sensibel beraten und individuell fördern

Hochbegabte, die ebenfalls durch eine Störung oder Schwäche im Lernen, im Verhalten, in der Wahrnehmung oder durch eine körperliche Behinderung herausgefordert sind, werden selten als „zweifach außergewöhnlich“ erkannt. Dabei ist es besonders wichtig, dass auch sie in ihren Potenzialen und Schwächen gesehen und gefördert werden.

Von: Wiebke Evers


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Hochbegabt unter besonderen Bedingungen

Twice exceptional – 2e – zweifach außergewöhnlich! So bezeichnet man Personen, die hochbegabt und gleichzeitig durch eine Entwicklungs-, eine Lern- oder Leistungsstörung oder auch eine körperliche Behinderung herausgefordert sind. Denn entgegen der allgemeinen Annahme schließt eine Hochbegabung Störungen der Entwicklung, im Lernen oder in bestimmten Leistungsbereichen nicht aus. Hochbegabte Kinder und Jugendliche sind dabei nicht seltener, aber auch nicht häufiger von Störungen betroffen als normalbegabte 1.

Zweifach außergewöhnliche Kinder und Jugendliche werden manchmal auch zweifach auffällig genannt. Dabei ist es vielmehr so, dass sie häufig unauffällig bleiben. Denn oft macht es die Konstellation aus besonderer Begabung und Lern- oder Entwicklungsstörung der Familie, pädagogischen Fachkräften sowie Berater:innen besonders schwer, die Potenziale und Herausforderungen dieser Kinder zu erkennen und angemessen darauf einzugehen. Das liegt zum einen daran, dass die Symptome der Störung das intellektuelle Potenzial eines Kindes verbergen und die Umsetzung des Potenzials in Leistung verhindern 2. Zum anderen hilft eine besonders hohe Begabung diesen Kindern, ihre Schwächen zu kompensieren und durchschnittliche Leistungen zu erzielen 3. Dadurch fallen sie oft durch die Raster.

Als Folge dieser gegenseitigen Einflussnahme wird sowohl die besondere Begabung als auch die Lern- oder Entwicklungsstörung oft erst spät oder auch gar nicht erkannt. Daher wird betroffenen Kindern und Jugendlichen auch nicht die Förderung zuteil, die sie benötigen. Dies kann langfristige Folgen für ihre sozial-emotionale Entwicklung sowie ihren schulischen Werdegang bedeuten. Oft merken die Kinder und Jugendlichen selbst, dass sie zu mehr in der Lage wären, aber dieses Potenzial aus einem ihnen unbekannten Grund nicht ausschöpfen können. Dies führt dazu, dass sie frustriert sind oder sich minderwertig fühlen. Manche zweifach außergewöhnlichen Schüler:innen zeigen in der Schule Vermeidungsverhalten oder Verhaltensauffälligkeiten, da sie nicht wissen, wie sie mit diesen Diskrepanzen umgehen können. Aus diesem Grund ist es äußerst wichtig, dass Fachkräfte in Kita, Schule und Beratung für Hinweise auf zweifache Außergewöhnlichkeit sensibel sind, um auf die besondere Potenzial- und Bedürfnislage dieser Kinder und Jugendlichen eingehen zu können.

Zwischen Unsichtbarkeit und Fehldiagnose: zweifach außergewöhnliche Kinder erkennen

Die Schwierigkeiten in der Diagnose von zweifach außergewöhnlichen Kindern und Jugendlichen liegen oft darin, dass sich Hinweise und Symptome nicht eindeutig zu Hochbegabung oder einer Lern- und Entwicklungsstörung zuordnen lassen oder die Hochbegabung die Ausprägung der Symptome abschwächt oder verdeckt. So kann es zum einen zu Fehldiagnosen kommen, bei denen eine Störung diagnostiziert wird, aber eigentlich eine Hochbegabung vorliegt, oder auch eine vorliegende Störung aufgrund der Hochbegabung übersehen wird. Dass Hochbegabte mit körperlichen Erkrankungen, psychischen Störungen oder mit Teilleistungsschwächen seltener erkannt werden, liegt auch daran, dass beim Vorliegen einer Störung wie einer Lese­-Rechtschreib-­Schwäche (LRS) eine besondere Begabung fälschlicherweise weniger erwartet wird.

Sowohl die Interpretation der Hinweise aus Schule und Familienalltag als auch die Wahl der Instrumente in der Diagnostik zur Identifikation zweifach außergewöhnlicher Kinder setzt bei Berater:innen Kenntnisse sowohl im Thema Hochbegabung als auch über Lern- und Entwicklungsstörungen voraus. Die Diagnose psychischer Störungen erfolgt anhand von Symptomchecklisten, die in Fachbüchern wie dem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems der WHO) oder dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association) zu finden sind.

Im Folgenden werden die zwei Störungsbilder Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Störung (AD(H)S) und Autismus-Spektrum-Störung (ASS) näher beschrieben und die Herausforderungen in der Diagnostik in Verbindung mit sowie in Abgrenzung zu Hochbegabung dargestellt.

Nicht nur die Verbindung mit Störungen wie AD(H)S und ASS erschwert das Erkennen von besonderen Begabungen. Auch durch Teilleistungsstörungen wie einer Lese-Rechtschreib- oder einer Rechenschwäche werden Hinweise auf Hochbegabung oft nicht vermutet, nicht gesehen oder nicht richtig gedeutet. Im Allgemeinen wirken diese oft als Tarnmantel, hinter dem eine Hochbegabung verborgen bleibt. In den beiden folgenden Grafiken sind die gängigen Hinweise zum einen für eine Lese-Rechtschreib-Schwäche und zum anderen für eine Rechenschwäche aufgeführt sowie mögliche Hinweise auf eine zusätzlich vorliegende Hochbegabung im Sinne von zweifacher Außergewöhnlichkeit.

In Verbindung mit Hochbegabung wirken Teilleistungsstörungen oft als „Masken“, während die Kombination mit Verhaltensstörungen eher die Gefahr birgt, dass Hinweise im Denken und Verhalten des Kindes oder des/der Jugendlichen nur in eine bestimmte Richtung interpretiert werden und die andere „Besonderheit“ übersehen wird.

Für eine akkurate Diagnose ist es wichtig, dass im Vorfeld Informationen aus möglichst allen Lebensbereichen des Kindes oder des Jugendlichen vorliegen. Ergeben sich daraus Hinweise sowohl auf besondere Begabungen als auch auf Entwicklungs- oder Leistungsstörungen, müssen Psycholog:innen dies in der Auswahl der Testverfahren berücksichtigen, da sich diese gegenseitig beeinflussen können. Besteht z. B. der Verdacht auf eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, muss das in der Auswahl der Intelligenztests beachtet werden, da Kinder mit Schwierigkeiten in der Schriftsprache in gängigen Intelligenztestungen oft schlechter abschneiden. Sowohl die Auswahl von passenden Testverfahren als auch die Durchführung sollte daher ausschließlich von psychologischem Fachpersonal durchgeführt werden, das über vertiefte Kenntnisse im Thema Hochbegabung sowie zu psychologischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter verfügt.

Beratung und Förderung zweifach außergewöhnlicher Kinder

Eine umfassende psychologische Diagnostik bringt Klarheit über die jeweiligen Potenziale und Herausforderungen eines Kindes. Nach der Diagnostik nimmt sich der oder die Beratende ausreichend Zeit, die Ergebnisse gemeinsam mit dem Kind und den Eltern zu besprechen. Im Gespräch können Fragen geklärt und die Kommunikation der Befunde z. B. an die Schule besprochen werden. Die Aufklärung aller Beteiligten ist besonders wichtig, um die Besonderheiten zu verstehen, die sich aus der Kombination der Hochbegabung und des Störungsbildes ergeben, und auf diese angemessen eingehen zu können.

Im nächsten Schritt stimmt der oder die Beratende mit den Ratsuchenden die weitere Vorgehensweise in Bezug auf die Förderung ab. Die Diagnostik kann dabei wichtige Hinweise auf Anknüpfungspunkte für die Förderung liefern. Dabei sollte mit Blick auf die verschiedenen Lebensbereiche des Kindes oder des Jugendlichen überlegt werden, wie Fördermaßnahmen gut ineinandergreifen können. Nach der Entscheidung für spezifische Maßnahmen sollte die Frage, unter welchen Bedingungen diese Kinder und Jugendlichen ihre Begabung entwickeln und zeigen können, wegweisend sein. Die Einnahme bzw. die Entwicklung einer ressourcenorientierten Haltung bei allen beteiligten Personen ist dabei Voraussetzung dafür, die Stärken zu sehen und diese als Ansatzpunkte für Förderung zu nutzen.

Die meisten Angebote für besonders Begabte richten sich an Lernende mit einem ausgeglichenen Begabungsprofil. Sie berücksichtigen nicht die Herausforderungen, die bei einer Teilnahme durch ein zweifach außergewöhnliche Kinder und Jugendliche entstehen können. So können Angebote mit starker sozialer Komponente (z. B. Gruppenausflüge ins Museum) Hochbegabte mit einer Autismus-Spektrum-Störung schnell überfordern. Bei zweifach außergewöhnlichen Kindern ist oft besondere, d. h. individualisierte Förderung nötig, die sowohl die Begabung als auch die Störung im Blick behält. Dies macht eine Kombination aus verschiedenen Ansätzen (wie z. B. Verhaltens- und Lerntherapie, Training der Selbststeuerung und Teilnahme an Enrichment-Programmen) oft am wirkungsvollsten.

Gesucht: Offene Haltung und fachliche Expertise

Zweifach außergewöhnliche Kinder und Jugendliche brauchen mit ihrer besonderen Kombination aus Potenzialen und Herausforderungen sensible Expert:innen, die sie sehen, ihre Bedürfnisse verstehen und dabei helfen, Bedingungen zu schaffen, unter denen sie sich entwickeln und entfalten können. Dies setzt sowohl einen offenen Blick und eine ressourcenorientierte Haltung voraus als auch wesentliche Kenntnisse über Hochbegabung und über verschiedene Entwicklungs- und Leistungsstörungen. Für die wirksame Förderung sowohl in Bezug auf die besondere Begabung des Kindes oder Jugendlichen als auch auf Hilfestellung hinsichtlich des individuellen Störungsbildes braucht es außerdem eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Elternhaus, der Schule und den psychologischen und sonderpädagogischen Diensten.