Hochbegabung verstehen

Schule

Auf der Suche nach dem versteckten Potenzial

Dieser Artikel widmet sich einer Herausforderung der pädagogischen Diagnostik innerhalb der (Hoch-)Begabtenförderung: dem Erkennen besonderer Potenziale und von Kindern und Jugendlichen, die aus verschiedenen Gründen ihre Stärken und Begabungen nicht (mehr) zeigen.

Von: Andrea Fiebeler


Underachievement auf den ersten Blick

Hochbegabte oder besonders begabte Kinder und Jugendliche, die ihr kognitives Potenzial nicht in dementsprechende Leistung umsetzen können, begegnen bei ihren Eltern oder Lehrpersonen häufig der Annahme, dass sich hinter ihrer fehlenden Performanz Faulheit verberge. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass sich bei den Kindern und Jugendlichen eine diffuse Mischung von Verhaltensweisen zeigen kann, die sich nicht eindeutig einer Ursache, einem Auslöser, einer körperlichen, psychosomatischen oder psychischen Auffälligkeit zuordnen lässt. Andererseits auch mit der Annahme, dass sich ein hohes kognitives Potenzial doch irgendwie (wieder) zeigen muss – ist dies nicht der Fall, kann es doch, überspitzt formuliert, nur daran liegen, dass das Kind bzw. der/die Jugendliche nicht will und sich verweigert. Besonders häufig ist diese Sichtweise anzutreffen je älter die Kinder/Jugendlichen werden. Waren sie bis zum Eintritt in die Mittelstufe des Gymnasiums (sehr) erfolgreiche Schüler:innen und zeigen dann schwächere Leistungen, wird schnell die Pubertät als Grund und Erklärung für die Veränderungen herangezogen.

Unterschiedliche, nicht immer eindeutige Anzeichen bei Underachievement

Wie zuvor beschrieben, gibt es nicht exakt fünf Merkmale anhand derer sich das Underachievement bei eine:r Schüler:in zeigt. Es sind vielfältige Varianten, die auf den ersten Blick im Unterricht, in der Schule und zu Hause beobachtet werden können. Die Ausprägung der einzelnen Verhaltensweisen ist je nach Kind, Beziehung zu Lehrpersonen oder in der Familie, Situation und Kontext individuell unterschiedlich:

  • ausgeprägtes Ausweichverhalten, z. B. bei Schreibaufgaben, Übungsaufgaben, Hausaufgaben
  • intensives Hinterfragen von Aufgaben, Regeln und Autoritäten
  • ausgeprägtes Diskutieren bis hin zur offenen Konfrontation
  • Schuld nach außen verlagern – ein bunter Blumenstrauß an Gründen und Ursachen, warum andere „Schuld“ sind an fehlendem Material, Versäumnissen, schlechter Organisation oder Leistungen
  • sich über Jahre aufbauend: fehlende Lern- und Arbeitstechniken und Arbeitsorganisation

Darüber hinaus lassen sich Auffälligkeiten spezifisch in der Schule oder zu Hause beobachten.

Auffälligkeiten bezüglich Underachievement in der Schule:

  • Unterrichtstörungen
  • signifikante Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Leistung, z. B. geringe mündliche Beteiligung (abgelenkt, Nebenbeschäftigungen, träumen), aber gute bis durchschnittliche Leistungen in Testsituationen
  • Vermeiden von schriftlichen Arbeitsaufgaben
  • bei älteren Jugendlichen: hohe Fehlzeiten, Schule schwänzen

Auffälligkeiten bezüglich Underachievement zu Hause:

  • Vermeidungsverhalten eskaliert (z. B. bei den Hausaufgaben, der Organisation des Schulmaterials, beim Ranzen packen; beim Vokabeln oder für Arbeiten lernen; bei der Mitarbeit im Haushalt)
  • mit zunehmendem Alter, eher bei Jungen anzutreffen: Computerspiele (= das perfekte Ausweichverhalten, das sich auch zu einer schleichenden Sucht entwickeln kann, bis Ursache oder Auswirkungen nicht mehr voneinander getrennt werden können)
  • ältere Jugendliche z. B. Cannabis-Missbrauch
  • Schulunlust

Versteckte Hinweise auf die (Hoch-)Begabung

Wichtig ist an dieser Stelle noch einmal zu betonen, dass diese aufgeführten Merkmale nicht alleine ausreichen, um ein Underachievement zu vermuten oder zu erkennen. Dazu sind die versteckten Hinweise auf eine (Hoch-)Begabung notwendig, die die Kinder und Jugendlichen in einzelnen Momenten oder anderen Kontexten zeigen oder bereits gezeigt haben. Diese Hinweise können folgende sein:

  • Bis zu einem gewissen Zeitpunkt haben die Kinder und Jugendlichen in der Kita, der Grundschule oder zu Beginn der weiterführenden Schule gute bis sehr gute Leistungen, überdurchschnittliche Ergebnisse, ungewöhnliche Lösungswege oder Denkmuster gezeigt. Bei manchen Kindern und Jugendlichen waren diese über einen längeren Zeitraum oder in deutlicherer Ausprägung zu sehen als bei anderen, dennoch sind die Situationen in der Biografie sicher zu finden.
  • Die (Hoch-)Begabung zeigt sich in anderen Kontexten als in den Situationen, in denen das negative Verhalten dominiert, z. B. in einem anderen Unterrichtsfach, bei einer anderen Lehrperson, in einer anderen schulischen Aktivität oder im außerschulischen Bereich. In diesen Situationen verfügen die Kinder und Jugendlichen auch über Anstrengungsbereitschaft, Einsatz und Motivation. Je nach Intensität können sie so für ein Thema brennen und sich darin so vertiefen, dass sie höchste Performanz erreichen.
  • Es ist auch möglich, dass sich in der sonst eher negativ konnotierten Lernumgebung auch positive Verhaltensweisen beobachten lassen, die in der angespannten Situation oft untergehen und als solche nicht bemerkt werden: Beispielsweise verzichtet eine Schülerin oder ein Schüler auf das Melden, stört den Unterricht durch das Hineinrufen eines Beitrages, der dennoch fachlich als sehr gut zu bewerten ist. Oder sie/er sagt anderen Mitschüler:innen etwas vor, sodass ihr/sein ursprünglicher Beitrag indirekt auf ihre/seine Kompetenzen schließen lassen kann.
  • Auch der genaue Blick auf die Bearbeitung einer Klassenarbeit oder eines Tests kann sehr aufschlussreich sein, indem darauf geachtet wird, warum beispielsweise das Thema der Arbeit verfehlt wurde oder wie einzelne Fragen beantwortet wurden.

Wie kann die (Hoch-)Begabung im Underachievement erkannt werden?

Grundsätzlich lässt sich eine Hochbegabung per Definition nur mittels einer psychologischen Intelligenztestung ermitteln 7. Liegt also ein aktuelles Gutachten eines Psychologin / eines Psychologen vor, das Auskunft über die hohen kognitiven Fähigkeiten der Schülerin / des Schülers gibt, ist die Bestätigung für das hohe Potenzial vorhanden. Dann gilt es, sich den Fragen der Problemlösung zu widmen, wie die Situation so verändert und die Schülerin / der Schüler, die Familie, die Lehrpersonen so begleitet werden können, dass sich die Gesamtsituation positiv wendet. Wichtig ist dabei, dass das Gutachten möglichst aktuell ist und nicht zu lange zurückliegt.

Liegt eine Intelligenzmessung vor, in der der Gesamt-IQ-Wert des Kindes/Jugendlichen zwischen 115 und 129 liegt, ist es empfehlenswert eine:n Expert:in hinzuziehen, um das Intelligenzprofil genauer zu verstehen. Es kann sein, dass sich die Verhaltensweisen des Kindes/Jugendlichen u. a. auch aufgrund sehr ausgeprägter, individueller kognitiver Stärken oder Schwächen erklären lassen.

Herausforderungen für Lehrpersonen im Kontext mit Underachievement

Die größte Herausforderung für Lehrpersonen ist die Situation, dass ein:e Schüler:in ihre Klasse besucht, die/der die oben beschriebenen negativen Verhaltensweisen zeigt, die Hinweise auf die Begabung sehr versteckt sind und für die Lehrerin, den Lehrer selbst nicht zu sehen sind. Ihr/ihm werden von Eltern oder anderen Kolleg:innen gegenteilige Verhaltensweisen geschildert, die er/sie sich selbst nur sehr schwer vorstellen kann. Erschwert wird diese Situation, wenn zu den Schilderungen noch Vorwürfe oder Unterstellungen hinzukommen, dass die Stärken der Schülerin oder des Schülers nicht gesehen werden wollen, dass kein Interesse an der Begabtenförderung oder der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes oder Jugendlichen besteht. Spitzt sich diese Lage zu, verstärkt sich der Konflikt zu einem Machtspiel, unter dem alle Beteiligten leiden und sich die Situation für die/den Schüler:in ausschließlich verschlechtert.

Um dies zu verhindern, ist es sehr hilfreich, sich auf den Erkennungsprozess und die Suche nach den versteckten Potenzialen einzulassen. Im Folgenden werden zunächst kurz Grundinformationen zum Underachievement und zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zusammengefasst.

Underachievement kurz gefasst

  • Underachievement ist ein Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum aufbaut, sich irgendwann manifestiert und auf einem multifaktoriellen Problemsystem beruht. Das bedeutet, es gibt sehr selten eine Ursache oder einen Auslöser für diesen Prozess, sondern eine Vielzahl von Faktoren, die sich gegenseitig verstärken. Aufgrund des manchmal sehr langen Entwicklungszeitraumes lässt sich die Wurzel des Phänomens, meist nur rückblickend rekonstruieren und erahnen 7.
  • Alle Kinder und Jugendliche haben das Bedürfnis Anerkennung zu spüren, akzeptiert zu werden und Teil des sozialen Kontextes zu sein, in dem sie leben. Je nach Alter ist dabei die Anerkennung der Lehrer:innen (bis ca. 10 Jahren) oder die der Peergroup (spätestens ab der 7. Klasse) relevanter.
  • Unabhängig des Alters haben alle Kinder und Jugendlichen das Bedürfnis aktiv zu sein, an den Aktivitäten anderer teilzuhaben und ihre Meinungen und Entscheidungen zu artikulieren.
  • Jeder Mensch (auch alle Kinder und Jugendlichen) handelt kontextabhängig 6. Dabei wird aus einer Vielzahl an Handlungsoptionen diejenige für sich ausgewählt, die ihnen in der Sekunde unbewusst am passendsten oder funktionalsten erscheint. Jedes Handeln ist damit auch eine unbewusste Entscheidung gegen Handlungsalternativen und kann in den Augen anderer und je nach Kontext als nicht sinnvoll oder unpassend bewertet werden.
  • Eine besondere Begabung oder eine Hochbegabung zeigt sich nur dann, wenn neben den kognitiven Voraussetzungen auch die Umweltfaktoren und die Persönlichkeitsmerkmale zusammenspielen und ein Kind, ein:e Jungendliche:r ein positives Selbstkonzept entwickeln konnte. Dies geschieht wiederrum u. a. durch die Vision, das Gefühl eine Bestimmung zu haben, durch die Einstellungen zu Optimismus und Leistungsfreude, Mut und Unabhängigkeit, die Hingabe an ein Ziel oder eine Disziplin 5.
  • Um ein positives Selbstkonzept zu entwickeln, ist ein ganzheitlicher Blick, die Betrachtung des Kindes/Jugendlichen als Person notwendig. Neben der Ganzheitlichkeit zeichnet der Personbegriff die Autonomie der Person, die Verantwortungsübernahme für ihren eigenen Bildungs- und Lernprozess, die Aktivität der Person und das Selbstvertrauen in die eigenen Interessen, Fähigkeiten und Begabungen aus. Das bedeutet die Person, die Kinder und Jugendlichen werden zu „Gestalterinnen des eigenen Lernens und der Persönlichkeitsbildung.“ Die Entwicklung und Entfaltung der Begabung ist somit gleichzusetzen mit der Persönlichkeitsentwicklung. Dies geschieht in der Interaktion mit anderen. Daher ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass Interaktion, Partizipation und Gestaltung miteinschließt. Eine gelungene Begabtenförderung wird nicht von außen vorgegeben, sondern in der Interaktion zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen gemeinsam entwickelt. Übernehmen die Erwachsenen die alleinige Verantwortung für die Lern-, und Begabungsentwicklung, entziehen sie den Schüler:innen die Eigenaktivität und bestärken ihre Passivität 2.
  • Dazu braucht es u. a. die Gestaltung und Entwicklung einer Lernatmosphäre in der Klasse und der gesamten Schule, in der verschiedene Persönlichkeiten, deren Stärken und Begabungen willkommen sind, in der jede Person ihren Platz hat und den Raum erhält, sich aktiv einzubringen 4.
  • Das Ermöglichen einer Lernumgebung, einer Begabtenförderung, die die Kinder und Jugendlichen aktiv nutzen und selbst mitgestalten können 2.

Macht man sich diese Grundvoraussetzungen bewusst, fällt es leichter, hinter die Fassade der negativen Verhaltensweisen und scheinbarer Faulheit zu blicken und sich die Frage zu stellen, warum sich die Schülerin oder der Schüler in dieser Situation dazu entscheidet so handeln zu müssen, dass es aus ihrer/seiner Perspektive sinnvoll ist.

Rote Ampel mit grünem Ampelpfeil
Bild: iStock/Jpreat

Strategien zum Erkennen

Wie kann es gelingen, das Potenzial einer Schülerin, eines Schülers, der/dem es aktuell nicht gelingt, dieses in Leistung umzusetzen, dennoch zu erkennen? Selbst wenn das Ergebnis einer psychologischen Diagnostik vorliegt, aus der ein sehr hoher IQ abzuleiten ist, ist es nicht selten so, dass dieses angezweifelt wird, wenn der Blick auf das Potenzial verstellt ist.

Die im Folgenden aufgeführten Strategien können sowohl beim Erkenntnisgewinn als auch bei der Lösungssuche sehr hilfreich sein, denn sie führen alle zu einer positiven Beziehung zwischen Lehrer:in und Schüler:in. Zunächst richtet sich der Blick auf die eigene Person, die eigene Haltung. Erst nach einer Selbstreflexion ist ein offener Blick auf die Schülerin, den Schüler möglich. Danach gestaltet sich die Spurensuche einfacher, es erschließen sich neue Quellen und neue Informationen. Damit wird die Basis gelegt für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Eltern und das echte Interesse an der/dem Schüler:in ist wirklich authentisch.

Die eigene Reflexion

Der erste Schritt beginnt als Lehrer:in idealerweise bei der eigenen Person, die eigene Reflexion. Folgende Leitfragen können den Reflexionsprozess unterstützen:

  • Wenn ich die Schülerin / den Schüler einer Person, die die Klasse nicht kennt, beschreiben müsste, mit welchen Worten würde ich das tun?
  • Ein ehrlicher Blick auf die gewählten Wörter: Überwiegen eher negative Beschreibungen /Zuschreibungen?
  • Was löst die Schülerin / der Schüler bei mir selbst aus?
  • Warum fällt es mir bei dieser Schülerin / diesem Schüler eher schwer das Positive zu sehen? Wie erkläre ich es mir selbst?
  • Wie begegne ich der Schülerin / dem Schüler?
  • Möchte ich, dass sich an dem Zustand etwas verändert?
  • Fallen mir selbst Unterschiede in der Beziehung im Vergleich zu meinen anderen Schüler:innen auf?
  • Welches Verhältnis habe ich zum Thema „Begabten-/Hochbegabtenförderung“?
  • Wie nehme ich die Eltern wahr? Wie begegne ich den Eltern?
  • Was hält aus meiner Sicht das Problem aufrecht?

Manchmal ist der Blick auf das eigene Verhalten so verstellt, dass es hilfreich sein kann, sich mit einer vertrauten Kollegin oder einem vertrauten Kollegen offen auszutauschen, in einem kollegialen Reflexionsgespräch, einer kleinen Intervision.

  • Wie nimmt die Kollegin oder der Kollege meine Beziehung zu der Schülerin, dem Schüler wahr?
  • Welche Beobachtungen sind ihr/ihm aufgefallen?

Eine weitere Unterstützung kann dabei auch die kollegiale Hospitation sein. Auch wenn die Ressourcen knapp sind, kann es sehr lohnenswert sein, diese in eine kurze Hospitation zu investieren. Das Feedback und die gemeinsame Reflexion können für die eigene Arbeit und die Veränderungsprozesse sehr hilfreich sein.

Ein offener Blick auf die Schülerin / den Schüler

Der nächste Schritt, um klar und weit zu sehen, ist es die Sicht umzukehren und eine Positivliste anzulegen, die nicht nur den eigenen Unterricht betrifft, sondern den gesamten Kontext Schule.

  • Welche Stärken hat die Schülerin, der Schüler?
  • In welchen Situationen werden diese Stärken sichtbar?
  • In welchen Stunden, bei welchen Kolleg:innen tritt das negative Verhalten NICHT auf?
  • Was ist in diesen Situationen anders?
  • Welche Schritte, welche Maßnahmen, die bisher unternommen wurden, waren erfolgreich?
  • Welche Informationen, die ich aus den ersten Fragen ableiten kann, kann ich für die nächsten Lösungsschritte ableiten?
ZitatZitat

Unter dem Blickwinkel ihrer eigenen Potenziale sind [die Kinder und] und Jugendlichen motiviert und ermutigt sich z. B. mit ihren Ängsten, Unsicherheiten, familiären oder schulischen Konflikten sowie ihrer eigenen Identitätsentwicklung auseinanderzusetzen.

Stephanie Heine 3
ZitatZitat

Auf Spurensuche – Informationen sammeln

Wie oben beschrieben, kann der Zeitraum, in dem die Schülerin oder der Schüler ihre / seine Stärken gezeigt hat, etwas länger zurückliegen oder in einem Kontext geschehen, der für Lehrpersonen schwer zugänglich ist. Daher ist es hilfreich so viele Informationen wie möglich zu sammeln:

  • vorliegende Informationen aus der Schülerakte
  • Dokumente (Zeugnisse oder Berichte auch aus der Grundschulzeit)
  • Gespräche, Eindrücke, Beobachtungen von Kolleg:innen
  • Informationen von den Eltern
  • Ergebnisse, Informationen, Präsentationen von außerschulischen Erfolgen
  • ggf. vorliegende Gutachten

Kontakt zu den Eltern

In einigen Fällen ist die Beziehung zwischen Schule im Allgemeinen oder den Klasssenlehrer:innen und den Eltern angespannt bis herausfordernd. Dennoch ist es für die nachhaltigen Veränderungsprozesse notwendig, dass alle Beteiligten gut zusammenarbeiten, und gemeinsam eine Lösung herbeiführen wollen. Daher ist es sehr wichtig, sich als Lehrer:innen die eigene Profession bewusst zu machen und Eltern als Expert:innen ihrer Kinder anzusehen, sie immer wieder zu Gesprächen einzuladen und die Beziehung zu ihnen nicht aufzugeben. Manchmal kann sich die Situation klären lassen, wenn andere Personen bei dem Gespräch dabei sind: entweder eine Kollegin oder ein Kollege, die/der ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern hat, eine Beratungslehrkraft oder ein:e externe Expert:in beispielsweise einer Beratungsstelle oder ein:e Schulpsychologe:in. Manchmal bieten die Eltern an, eine außerschulische Person (Psycholog:in oder Berater:in) zu dem Gespräch hinzuzuziehen. Dies ist als positives Signal der Kooperationsbereitschaft zu werten und sollte daher auf jeden Fall angenommen werden.

Die Beziehung mit der Schülerin / mit dem Schüler – echtes Interesse

Als letzte Strategieempfehlung folgt die Wichtigste, die für den gesamten Erkenntnisgewinn von großer Bedeutung ist: der Kontakt, die Beziehung und der Dialog mit der /dem Schüler:in. Es gibt Situationen, in denen es so scheint, dass von Seiten der Schülerin / des Schülers kein Interesse mehr an Kontakt oder einem Dialog besteht, doch gerade dann ist es wichtig, dass die Lehrperson echtes Interesse zeigt und ihr/ ihm signalisiert, dass ihr die Beziehung zu ihr/ihm sehr wichtig ist. Die / Der Schüler:in braucht diese Beziehung. Auch wenn sie/er provoziert oder ablehnend regiert, steckt dahinter ein sehr großes Bedürfnis nach Anerkennung, nach Unterstützung zur Problemlösung 5. Auch in diesen Situationen ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, warum die/der Schüler:in so reagieren könnte. Vielleicht schämt sie/er sich? Vielleicht möchte sie/er nicht das Gesicht vor den Mitschüler:innen verlieren? Vielleicht findet sie/er selbst keinen Ausweg aus der Situation und blockt daher zunächst alle Kontaktbemühungen ab? Vielleicht ist der Selbstwert auch schon so gesunken, dass sie/er annimmt, dass gar kein echtes Interesse mehr an der eigenen Person bestehen kann. Daher ist es wesentlich, die Beziehung nicht aufzugeben und an die/den Schüler: in zu glauben, auf eine positive Veränderung zu vertrauen und echtes, ehrliches Interesse an ihr/ihm zu zeigen.

Sollte die Beziehung wirklich so angegriffen sein, dass das echte Interesse nur vorgetäuscht wäre, ist eine professionelle Herangehensweise notwendig, sich dies einzugestehen und aufrichtig damit umzugehen. Dazu gehört beispielsweise, sich einer Kollegin / einem Kollegen anzuvertrauen und ihr/ihm die Begleitung und Unterstützung des Kindes / des Jugendlichen und der Familie zu übertragen und sich aus dem Prozess zurückzuziehen. Im Einzelfall (je nach Situation und Alter des Kindes/Jugendlichen) kann es auch empfehlenswert sein, offen mit der/dem Schüler:in ins Gespräch zu gehen. Eine wesentliche Voraussetzung ist dabei, die Verantwortung für die eigenen Emotionen und inneren Konflikte zu übernehmen und nicht der/dem Schüler:in die Schuld zu übertragen.

Wenn es gelingt die Beziehung auch in den herausforderndsten Situationen gut zu gestalten und aufrechtzuerhalten, ist es wichtig immer wieder positive Aspekte zu fokussieren. Dann gelingt es auch, über die angespannten, schwierigen Momente sprechen zu können und gemeinsam neue Erkenntnisse zu gewinnen, die für eine Lösung richtungsweisend sind.