Hochbegabung verstehen

Schule

Merkmale und Anzeichen von Hochbegabung

Lisa kann mit fünf Jahren schon lesen. Hochbegabt, na klar! Mohammed hat angeblich einen IQ von 132. Aber dann würde er doch nicht dauernd schlechte Noten schreiben? Justus sitzt in der Pause immer nur mit einem Buch in der Ecke. Typisch hochbegabt. Hannah stellt im Unterricht dauernd unpassende Fragen. – Undiszipliniert oder hochbegabt?

Von: Claudia Pauly


Alltagsvorstellungen über Hochbegabte

Wenn es um Anzeichen für eine Hochbegabung geht, gelangt man schnell zu gewissen Alltagsvorstellungen, zum Teil regelrechten Mythen darüber, was Hochbegabte kennzeichnet. Medial unterstützt wird dies durch diverse Checklisten, die zur eindeutigen Verifizierung einer möglichen Hochbegabung verführen. Das Problem solcher Listen: Oft sind die dort angeführten Merkmale so allgemein formuliert, dass sie auch auf viele nicht Hochbegabte zutreffen können. Die meisten Merkmalsbeschreibungen lassen zudem offen, ab wann genau bestimmte Leistungen (z. B. ein außergewöhnlich großer Wortschatz) als besonders herausragend gelten. Nicht zuletzt hängt es auch von der Intensität der Förderung ab, ob Kinder und Jugendliche ihr Potenzial in sichtbaren Anzeichen offenbaren können 1.

Hilft ein IQ-Test?

Aber da gibt es ja noch den IQ-Wert! Tatsächlich stellen Intelligenztestverfahren ein oft genutztes und allgemein anerkanntes Verfahren dar, um kognitive Fähigkeiten zu erfassen und einzuordnen. So erreichen in Tests etwa 2% eines Jahrgangs einen Intelligenzquotienten von 130 und höher und gelten damit als hochbegabt (rund 14 % liegen zwischen 115 und 130 und gelten damit als überdurchschnittlich begabt). Intelligenz mit Hochbegabung gleichzusetzen, wäre jedoch zu kurz gedacht: Hochbegabung ist „mehr als Intelligenz, da die Denkfähigkeit allein noch nicht von selbst besondere Leistungen hervorbringt“ 2; sie ist ein komplexes Konstrukt mit vielfältigen Faktoren.

Hochbegabte Schüler:innen begegnen uns entsprechend vielfältig in ihrem Verhalten, ihren Interessen, ihrer Persönlichkeit. Um diese Schüler:innen zu erkennen, braucht es einen gezielten und gleichzeitig umfassenden Blick. Die pädagogische Diagnostik spielt dabei eine wichtige Rolle. In dieser wird darauf geschaut, welche Voraussetzungen Schüler:innen mitbringen, wie sie sich im Unterricht verhalten, welchen Entwicklungsstand sie in unterschiedlichen Bereichen haben und welche Unterstützung sie für ihre weitere Entwicklung benötigen. Hierbei ist es von großer Bedeutung, positiv und ressourcenorientiert zu arbeiten, um Schüler:innen in ihrer gesamten Persönlichkeit mit all ihren Stärken und Schwächen zu sehen. Denn wer Stärken, in diesem Fall vor allem eine hohe Begabung, erkennen möchte, muss diese Stärken prinzipiell erst einmal erwarten.

Perspektive und Haltung gegenüber Hochbegabten mitentscheidend

Perspektive und Haltung entscheiden in der Praxis oft maßgeblich, wie hochbegabte Schüler:innen wahrgenommen und begleitet werden. So neigen Fachkräfte und Eltern nicht selten dazu, auffällige Verhaltensmuster von Kindern und Jugendlichen als Disziplinprobleme, Unreife, Sozialisationsprobleme oder generelle Temperamentsschwierigkeiten abzuwerten. Manchmal wird von bestimmten Verhaltensweisen sogar fälschlicherweise auf eine konkrete Störung geschlossen 3. Bemühen sich Lehrer:innen und Eltern aber, hinter ein auffälliges Verhalten zu schauen, können sie dieses im Rahmen einer hohen Begabung „ganz anders einordnen und angemessen darauf reagieren, anstatt es mit einer Diagnose zu etikettieren“ 3. Gerade schwierige Situationen und Verhaltensweisen verändern sich oft, wenn Kinder und Jugendliche eine Umgebung vorfinden, die ihnen entspricht und in der sie stärkenorientiert wahrgenommen werden. Dies gilt natürlich nicht nur, in besonderem Maße aber für hochbegabte Kinder und Jugendliche.

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Wer Stärken, in diesem Fall vor allem eine hohe Begabung, erkennen möchte, muss diese Stärken prinzipiell erst einmal erwarten.

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Was macht Hochbegabte aus?

Hochbegabung ist „nichts Statisches oder Unveränderliches. Vielmehr kann die Hochbegabung einer Person als ihr individuelles Profil aus Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen und erlernten Fertigkeiten beschrieben werden“ 4. Dieses individuelle Profil bietet sozusagen die Grundlage für potenziell hohe Leistungen – man spricht auch von einem hohen leistungsbezogenen Potenzial 2. Ein solches Potenzial kann sich in bestimmten Merkmalen und Anzeichen äußern. Eine entsprechende Aufzählung derselben dient zwar nicht zur eindeutigen Identifikation von Hochbegabten, sie kann allerdings zur Sensibilisierung und als Anregung zur weiteren Beobachtung bzw. Diagnostik dienen. Unter den Aspekten

  • kognitive Verarbeitung,
  • soziale Kompetenz und psychische Gesundheit,
  • Entwicklungstempo und
  • Interessen

werden im Folgenden wesentliche Anzeichen zusammengefasst.

Kognitive Verarbeitung bei Hochbegabten

Hochbegabte Kinder und Jugendliche zeigen häufig abstraktes, kritisches und unabhängiges Denken. Den Lernstoff erfassen sie oft schnell und sie können ihn auch gut behalten. Mit dem erlernten Wissen gehen sie sicher und flexibel bzw. kreativ um. Sie können gut verschiedene Wissensbereiche verbinden und Zusammenhänge durchschauen. Oft zeigen sie auch eine differenzierte verbale Ausdrucksweise bzw. einen großen Wortschatz 5. Manchmal fallen (hoch-)begabte Schüler:innen auf, weil sie über einen längeren Zeitraum schlechte Schulleistungen erbringen. Die beschriebenen Anzeichen können sich dann nicht zeigen, obwohl das Potenzial dafür vorhanden ist. Man spricht in diesem Fall von Underachievement. Underachievement wird oft nicht erkannt, weil oberflächlich nur die schlechte Leistung sichtbar ist, die das eigentliche Potenzial verdeckt. Im besten Fall kann eine Lehrkraft allerdings „bei guter Beobachtung eine Diskrepanz zwischen einer schnellen Auffassungsgabe und nicht dazu passenden Leistungen bemerken“ 6. Dies wäre dann ebenfalls ein mögliches Anzeichen für eine hohe Begabung.

Soziale Kompetenz und psychische Gesundheit

Hochbegabte haben keine geringeren sozialen Kompetenzen als nicht Hochbegabte. Das widerspricht zwar dem Mythos vom seltsamen hochbegabten Einzelgänger, doch die Forschung zeigt, dass sich hochbegabte Schüler:innen in ihrem Verhalten – so auch in ihrem Sozialverhalten – nicht wesentlich von anderen Heranwachsenden unterscheiden. Gewisse Unterschiede bestehen in Verhaltensmerkmalen, die für das Erbringen von Leistung wichtig sind 78. Manchmal zeigen hochbegabte Schüler:innen im Schulalltag Ungeduld oder auch Intoleranz anderen gegenüber. Einige können auffallen durch Perfektionismus; manche zeigen auch eine große Ernsthaftigkeit bis hin zu Niedergeschlagenheit. Dahinter können eine hohe und schnelle Auffassungsgabe oder die Fähigkeit, Dinge gut strukturieren und ordnen zu können, stecken, sowie hohe Erwartungen an sich selbst und andere 9.

Auch für die psychische Gesundheit gilt: Studien belegen, dass Hochbegabte nicht mehr psychische Probleme haben als durchschnittlich Begabte 7. Sehr wichtig ist allerdings, dass „ihren intellektuellen, sozialen und emotionalen Bedürfnissen auf angemessene Weise entsprochen wird“ 10. Denn werden Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen nicht gesehen, ist das schulischen Umfeld ungeeignet oder fühlen sich die Kinder und Jugendlichen in ihrer Familie oder in ihren Peerbeziehungen nicht angenommen und verstanden, können Auffälligkeiten im Verhalten entstehen 11. Solche Verhaltensauffälligkeiten können dann auf eine Hochbegabung hindeuten, wenngleich es eigentlich keine Anzeichen für die Hochbegabung an sich sind, sondern mehr für eine Passungsschwierigkeit zwischen Person und Umwelt.

Entwicklungstempo bei Hochbegabten

Manchmal kann die Entwicklung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Fähigkeitsbereichen asynchron verlaufen. Zum Beispiel kann sich die intellektuelle Entwicklung zeitweise schneller vollziehen als die motorische, soziale oder emotionale 12. Es kann also zum Beispiel sein, dass hochbegabte Kinder dadurch auffallen, dass sie sprachlich komplexe Sachverhalte erörtern können, aber noch nicht in der Lage sind, ihre Schuhe selbst zu binden. Differenzen zwischen kognitiver und motorischer Entwicklung können auftreten, wenn hochbegabte Kinder Übungssituationen vermeiden, weil sie ihren eigenen Ansprüchen nicht genügen und sie dies stark frustriert. Auch mangelnde Übungsangebote können eine Rolle spielen. Da eine solche Entwicklungskonstellation allerdings auch ein häufiges Vorurteil gegenüber hochbegabten Kindern und Jugendlichen ist, soll festgehalten werden, dass dies nicht generalisiert werden kann. Als gesamte Gruppe sind hochbegabte Kinder nicht häufiger in ihrer motorischen Entwicklung verzögert als normal begabte Kinder.

Asynchrone Entwicklungen können auch zwischen verschiedenen kognitiven Fertigkeitsbereichen wie Lesen und Rechnen auftreten. Dies ist bis zu einem gewissen Punkt ganz normal und hängt gerade bei jüngeren Kindern oft mit Entwicklungsschüben zusammen. Bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen können die Differenzen allerdings größer erscheinen. Hinzu kommt, dass sich eine Hochbegabung auch nur in einzelnen Bereichen zeigen kann 13. Ein im mathematischen Bereich hochbegabtes Kind muss also nicht automatisch herausragende Leistungen im Lesen zeigen.

Interessen von Hochbegabten

Viele Hochbegabte haben diverse Interessen und widmen sich gerne unterschiedlichen Themen. Andere wiederum beschäftigen sich ausführlich mit – manchmal auch ungewöhnlichen – Spezialgebieten und eignen sich darin sehr hohes Detailwissen an 814. Wie bei vielen Aspekten zeigt sich also auch hier innerhalb der Gruppe der Hochbegabten eine große Bandbreite.

Zurück zum Anfang: Lisa, Mohammed, Justus und Hannah – hochbegabt oder nicht?

Lisa ist vielleicht hochbegabt – vielleicht auch nicht. Nicht wenige Kinder können schon vor Schuleintritt lesen; gerade in jungen Jahren tauchen bei vielen Kindern zeitweise Entwicklungsvorsprünge auf, die sich später aber auch wieder relativieren können. Auszuschließen ist eine Hochbegabung aber auf keinen Fall – hier müsste man für eine genauere Einschätzung noch mehr über das Mädchen erfahren.

Mohammed ist sehr wahrscheinlich hochbegabt – sein IQ-Wert spiegelt eine hohe Intelligenz wider. Schulnoten hingegen sind durch viele Faktoren bedingt, und der Zusammenhang zwischen Noten, Intelligenz und anderen Leistungen ist nicht besonders stark 15. Bei Mohammed wäre es vor allem wichtig, in einem pädagogisch-diagnostischen Prozess herauszufinden, wie er sein Potenzial noch mehr entfalten kann.

Ist Justus hochbegabt? Das ist völlig offen. Auch bei ihm darf aber genauer hingeschaut werden: Wie fühlt er sich allein mit seinem Buch? Geht es ihm gut? Warum wählt er diese Beschäftigung für sich? Wie verhält er sich in anderen Situationen? Aus dieser Suchbewegung können sich weitere Perspektiven ergeben, auch hinsichtlich einer möglichen Hochbegabung.

Hannah macht mit ihrem Verhalten auf etwas aufmerksam. Vielleicht langweilt sie sich, vielleicht hat sie auch brennende Fragen, auf die sie eine Antwort braucht. Möglicherweise steckt dahinter eine Hochbegabung, der im Unterricht nicht entsprochen wird. Vielleicht macht sie mit ihrem auf den ersten Blick störenden Verhalten auch auf einen anderen Bedarf aufmerksam. In jedem Fall braucht es auch hier einen umfassenden Blick auf die Schülerin und die Situation.

All diese Schüler:innen benötigen in jedem Fall eine Lehrkraft, die sensibel ist für Hinweise auf eine besondere Begabung, und die diese Anzeichen stärkenorientiert einzuordnen und weiterzuverfolgen weiß. Auf diese Weise werden im besten Fall alle Schüler:innen mit ihren Bedürfnissen und Stärken erkannt und entsprechend begleitet.