Hochbegabte unterstützen

Schule

Formen des Überspringens von Klassen

Während die Lehrpläne in der Schule für den Großteil der Schüler:innen passend sind, was das Anspruchsniveau und den Umfang der Lerninhalte betrifft, ist dies für einen kleinen Teil der besonders schnell Lernenden nicht immer der Fall. Eine Förderung durch Akzeleration (Beschleunigung) soll diesen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, in einem Tempo zu lernen, dass besser zu ihnen passt. Dies muss jedoch nicht immer das Überspringen einer ganzen Klassenstufe bedeuten. Im Folgenden werden verschiedene weitere Formen des Überspringens von Klassen vorgestellt.

Von: Karen Johannmeyer


Einführung: Förderung durch Akzeleration

Die Förderung durch Akzeleration folgt der Grundidee, hochbegabten Kindern Wissen dann und in dem Tempo beizubringen, wie es zu ihrer Entwicklung am besten passt. Vock 1 nennt drei Ziele von Akzelerationsmaßnahmen: 1. Eine verbesserte Passung von Anforderungen und Lernmöglichkeiten durch angemessenere Platzierung bzw. angemesseneres Tempo; 2. Ein gemeinsames Lernen mit Älteren in höheren Jahrgangsstufen; 3. Das Gewinnen freier Zeiträume für vertieftes Lernen oder die Beschäftigung mit anderen Lerninhalten. „Hinzu kommt oft der Wunsch, die soziale Situation der betreffenden Schüler:innen zu verbessern, wenn Freundschaften mit Gleichaltrigen aufgrund des unterschiedlichen geistigen Entwicklungsstands oder unterschiedlicher Interessen nicht gelingen.“ 1

Vorzeitige Einschulung

Bei der Förderung hochbegabter Kinder kann beim Übergang von der Kita in die Grundschule die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt aufkommen. Gemeinsam mit pädagogischen Fachkräften, Eltern, Grundschullehrer:innen und dem Kind kann überlegt werden, ob für das Kind eine vorzeitige Einschulung in Frage kommt 2. Sorgen von Eltern oder Lehrpersonen, beispielsweise bezogen auf die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder, zeigen sich in empirischen Studien als in der Regel nicht begründet. Stattdessen zeigt sich, dass die positiven Effekte bei Kindern mit hoher kognitiver Begabung in der Regel überwiegen 3. Wenn die pädagogischen Fachkräfte der Kita, die Lehrpersonen an der aufnehmenden Grundschule, die Eltern und das Kind eine vorzeitige Einschulung nach sorgfältiger Überlegung für geeignet halten, kann über diese Akzeleration dem Lerninteresse und Entwicklungsstand der Kinder entsprochen werden.

Überspringen von Klassen

Eine bekannte Maßnahme der Akzeleration stellt das Überspringen von Klassen dar. Damit ein Überspringen erfolgreich verlaufen kann, sind einige Kriterien zu berücksichtigen 3,4. So sollte sowohl der/die Schüler:in der Maßnahme gegenüber positiv eingestellt sein als auch die Eltern und die beteiligten Lehrpersonen. Eine enge Zusammenarbeit der abgebenden und aufnehmenden Lehrpersonen auf Klassen- und Fachlehrerebene kann eine gute Unterstützung der Schülerin oder des Schülers gewährleisten. Auch die aufnehmende Klasse sollte durch ein gutes soziales Klima und eine gewisse Offenheit gekennzeichnet sein. Neben diesen Aspekten sollten die schulischen Leistungen weit überdurchschnittlich sein, Lernmotivation, Selbstwertgefühl und Durchhaltevermögen der Schülerin bzw. des Schülers sollten ausgeprägt sein. Die psychosoziale Verfassung sollte so sein, dass vom Überspringen profitiert werden kann. Um eine kognitive Überforderung auszuschließen, kann es zudem hilfreich sein, eine Intelligenzüberprüfung vorzunehmen. Ein (schul-)psychologisches Beratungsangebot kann gegebenenfalls zur Unterstützung der Entscheidung herangezogen werden. Es lässt sich zusammenfassen, dass das Überspringen von Klassen eine komplexe Maßnahme ist, und sorgfältig geprüft, vorbereitet und begleitet werden sollte, damit die positiven Effekte überwiegen.

Neben dem Überspringen einer gesamten Klassenstufe gibt es auch Möglichkeiten, nur teilweise zu überspringen. Eine Form der Umsetzung kann beispielsweise über das sogenannte „Drehtürmodell “ erfolgen. Dabei verlassen einzelne Schüler:innen für einen begrenzten Zeitraum den Regelunterricht, um in dieser Zeit ein anderes Angebot wahrzunehmen. Häufig werden über das „Drehtürmodell“ Maßnahmen des Enrichment wie Forschendes Lernen, Projektarbeit oder Arbeitsgemeinschaften umgesetzt. Darüber hinaus kann über dieses Format aber auch die Akzeleration für Schüler:innen mit hoher Begabung und besonders guten Leistungen in einem Schulfach ermöglicht werden, indem sie zeitweise am Unterricht einer höheren Klasse teilnehmen.

Weinbergschnecke auf Skateboard
Bild: iStock/BRULOVE

Frühstudium

Über das Frühstudium wird besonders leistungsstarken Schüler:innen ermöglicht, bereits vor dem offiziellen Abschluss ihrer Hochschulreife in einem Studienfach Lehrveranstaltungen an der Universität zu besuchen. Für diesen Zeitraum werden sie vom Schulunterricht freigestellt, verpflichten sich damit aber, die verpassten Unterrichtsinhalte eigenständig aufzuarbeiten. Während die Initiative für das Konzept des Frühstudiums ursprünglich von mehreren Instituten für Mathematik ausging, wurde die Idee mittlerweile auf vielfältige Studienfächer und Universitäten ausgeweitet. Die Konzepte zur Auswahl der Teilnehmenden, der Ablauf und die Koordination weisen je nach Standort Unterschiede auf 5. Es zeigt sich, dass die Frühstudierenden mit der Betreuung durch die Universitäten sehr zufrieden sind 6. Damit auch die Organisation von Seiten der Schulen erfolgreich laufen kann, haben sich enge Kooperationen zwischen Hochschulen und den Gymnasien in ihrer Umgebung als hilfreich erwiesen 5.

Zielgruppe des Frühstudiums oft recht klein

Grenzen des Frühstudiums liegen beispielsweise in der eingeschränkten Zielgruppe: in der Regel sind dies besonders leistungsstarke Gymnasiast:innen, die sich gut selbstständig organisieren können. Der Zugang zu Angeboten für jüngere Schüler:innen unter 14 Jahren, für begabte Schüler:innen beispielsweise auf Realschulen, für Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien oder für Underachiever ist eher nicht gegeben 5. Ebenso liegen Grenzen in der räumlichen Erreichbarkeit von Universitätsstandorten für Schüler:innen aus ländlichen Gebieten. Im Rahmen einer Förderung durch Akzeleration bietet sich ein Frühstudium beispielsweise besonders dann an, wenn ein:e Schüler:in über ein Drehtürmodell bereits in einem Schulfach am Unterricht in höheren Jahrgangsstufen teilgenommen hat.

Besondere Schulkonzepte

Neben der vorzeitigen Einschulung, dem (teilweisen) Überspringen von Klassen und dem Frühstudium gibt es Schulkonzepte, in denen über jahrgangsübergreifenden Unterricht eine Akzeleration für einzelne Schüler:innen leichter möglich ist. Vermehrt gibt es Konzepte jahrgangsübergreifenden Unterrichts an den Grundschulen. Eine Option ist die flexible Eingangsstufe, bei der Kinder der ersten beiden Jahrgangsstufen gemeinsam unterrichtet werden, und diese je nach individuellem Bedarf in ein bis drei Jahren durchlaufen können. Andere Optionen sind, auch die Klassen 3 und 4 gemeinsam zu unterrichten, nur die Klassen 1-3 zu mischen und die 4. Klasse als Jahrgangsklasse beizubehalten, oder eine gesamte Jahrgangsmischung der Klassen 1-4 vorzunehmen.

Für besonders begabte Kinder bietet dies mehrere mögliche Vorteile. Sie können ihren Lernstand mit älteren Kindern messen und erhalten dabei möglicherweise neue Anreize für ihr Lernen 7. Ebenso gibt es einen deutlicheren Blick auf die Heterogenität der Kinder, und eine Individualisierung des Lernens 8. Durch das jahrgangsgemischte Lernen fällt für besonders begabte Kinder auch das „Überspringen“ weg: statt des Wechsels in eine andere Klasse können begabte Kinder im gewohnten Klassenverband anspruchsvolle Lernangebote nutzen, und ein Übergang auf eine weiterführende Schule ist ggf. frühzeitig gemeinsam mit älteren Klassenkamerad:innen möglich.

An den weiterführenden Schulen gibt es vergleichsweise seltener Konzepte, in denen ein jahrgangsübergreifender Unterricht umgesetzt wird. Für eine flexible Oberstufe jenseits von G8 und G9 gibt es jedoch Modellprojekte wie das „Abitur im eigenen Takt“, bei dem über eine Modularisierung der Lerninhalte das Abitur in zwei oder drei Jahren abgelegt werden kann 9. In diesem Konzept übernehmen die Schüler:innen selbst die Entscheidung über ihre Schullaufbahn und können individuell nach Bedarf einzelne Module wiederholen, oder auch Wochenstunden reduzieren. Somit können unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten berücksichtigt werden, und es ist auch eine Akzeleration möglich.

Akzeleration: Vorurteile und Vorteile

Für die Förderung durch Akzeleration gibt es vielfältige Formate, die sich im gesamten Verlauf der Schullaufbahn einsetzen lassen. Häufig befürchten Eltern oder Lehrpersonen jedoch, dass durch Maßnahmen der Akzeleration wie das Überspringen die betroffenen Schüler:innen überfordert werden könnten oder soziale Schwierigkeiten in der neuen Schulklasse bekommen könnten. In der empirischen Forschung zeigt sich jedoch, dass das Überspringen entgegen den Befürchtungen meist eine sehr wirksame Fördermaßnahme darstellt. Es zeigen sich mittlere bis große positive Effekte für die Entwicklung der Schulleistungen sowie kleinere positive Effekte für die soziale Entwicklung 10. Wenn die kognitiven Voraussetzungen erfüllt sind und ein Überspringen von allen Beteiligten als positiv bewertet wird, dann zeigen die hochbegabten Schüler:innen meist bald nach dem Überspringen wieder sehr hohe Leistungen. In einigen Fällen können sich jedoch Herausforderungen ergeben, wenn es im Anschluss an ein Überspringen wieder zu einer Unterforderung kommt, sodass weitere Fördermaßnahmen gewählt werden sollten. Für vorzeitig eingeschulte Kinder in der Grundschule zeigt sich überwiegend eine positive Entwicklung, wenn eine hohe Intelligenz vorliegt 1. Trotz der positiven Befunde wird eine Akzeleration durch vorzeitige Einschulung oder Überspringen allerdings recht selten umgesetzt 11. Flexible Schulkonzepte beispielsweise mit jahrgangsübergreifendem oder modularisiertem Unterricht bieten hier besondere Chancen.