Hochbegabung verstehen

Allgemein

Hochbegabung – ein Kosmos

Mitunter finden sich in den Medien Berichte über hochbegabte „Wunderkinder“, deren Entwicklung rasant zu sein scheint. Gilt das tatsächlich für alle hochbegabten Kinder und Jugendlichen? – Eine Einordnung.

Von: Lisa Pohlmeier, Claudia Pauly und Anne-Kathrin Stiller


Zwei Fallbeispiele von hochbegabten Kindern

Ein Kind, das mit vier Monaten in ganzen Sätzen spricht, mit 15 Monaten lesen kann und mit drei Jahren mathematische Gleichungen löst – das ist alles andere als gewöhnlich [...] Aber Michael Kearney war ein solch ungewöhnliches Kind. Und in diesem Tempo ging es auch weiter: Mit sechs Jahren studierte er am College, mit zehn hatte er seinen ersten Graduiertenabschluss in der Tasche. Einen so jungen Studenten und Absolventen hatte es noch nie gegeben – damit schaffte es Michael ins Guinness-Buch der Rekorde. Bei seiner Promotion war er 22 (und hatte in der Zwischenzeit noch einen weiteren Masterstudiengang abgeschlossen)“ 1.

„Eine solche Entwicklung ist natürlich erstaunlich. Sie ist jedoch nicht kennzeichnend für den Großteil ‚ganz normaler‘ Hochbegabter“ 2.

Theo, ein vielseitig interessierter und aufgeschlossener Junge, geht in die sechste Klasse eines Gymnasiums. Durch seine charmante und wortgewandte Art gewinnt er Menschen leicht für sich. Aktuell ist Theo jedoch versetzungsgefährdet. In der Grundschule flog ihm alles zu; ganze Schulstunden verbrachte er damit, aus dem Fenster zu schauen oder selbst erfundene Geschichten aufzuschreiben. Seine Lehrerinnen ließen ihn weitestgehend in Ruhe, denn meistens konnte er auf Nachfragen korrekt antworten. So hatte Theo während der Grundschulzeit durchgehend gute bis sehr gute Noten, ohne dafür mehr als ein Minimum tun zu müssen. Mit dem Wechsel auf das Gymnasium änderte sich die Situation: Theo sollte plötzlich regelmäßig Vokabeln und andere Inhalte lernen, und er hatte keine Idee, wie der das bewerkstelligen sollte. Seine Noten wurden deutlich schlechter. […] Theo zeigte kaum jemandem, wie verzweifelt er ist, wenn er sich vorstellt, dass er das Schuljahr tatsächlich wiederholen muss“ 3.

Allein diese beiden Fallspeispiele zeigen, wie vielseitig Hochbegabungen und ihre Ausprägungen sein können. Da ist es nicht verwunderlich, dass viele Fragen rund um den Kosmos Hochbegabung entstehen, die Unsicherheiten mit sich bringen können und einer Auflösung bedürfen. Zudem festigen sich bei Beispielen wie Michael die Klischees über Hochbegabte, die ebenfalls einer Bearbeitung und Reflexion bedürfen.

Ein Verständnis für Begabungen entwickeln

Die Entfaltung von Begabungen steht in einem engen Zusammenhang mit der Umwelt. So kann Hochbegabung als ein geistiges Potenzial verstanden werden, welches sich unter günstigen Bedingungen zu herausragenden Leistungen entwickeln kann, aber nicht muss 4. Zudem ist es „für Kinder im Alter von null bis sechs Jahren […] aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich, genau zu unterscheiden, ob sie begabt oder hochbegabt sind. Daher kann es sinnvoll sein, im Kita-Alter von Kindern mit hohen oder besonderen Begabungen zu sprechen, wenn man bei ihnen ein überdurchschnittliches oder weit überdurchschnittliches Leistungspotenzial vermutet“ 5. Hierbei ist vor allem die noch nicht stabile Messbarkeit von Intelligenz bei sehr jungen Kindern ein ausschlaggebender Faktor für die differenzierte Betrachtung. Neben der Intelligenz sind weitere Aspekte, wie die Persönlichkeit und die Motivation bedeutsam zu berücksichtigen. „Eine hohe Begabung eines Kindes [ist] immer auch Ausdruck des individuellen Entwicklungsstandes seiner leistungsbezogenen Potenziale zu einem bestimmten Zeitpunkt und verändert sich im Laufe der Zeit“ 6.

Umweltkomponenten berücksichtigen

Aus dem Beispiel vom Michael Kearney können wir ableiten, dass sich sein Potenzial in Leistung umsetzen konnte. Auch wenn wir das aus der Fallbeschreibung nicht konkret wissen, kann davon ausgegangen werden, dass seine Umweltbedingungen entsprechend positiv dazu beigetragen haben, dass sich sein Potenzial entfalten konnte. Auch in Theos Grundschulzeit hat sich sein Potenzial in messbarer Leistung (gute Schulnoten) gezeigt, weniger hingegen, seit er das Gymnasium besucht. Zu positiven Umweltbedingungen gehören beispielsweise Eltern, die ihr Kind unterstützen, sowie die Qualität der Bildungsinstitutionen, die ein Kind im Laufe seines Heranwachsens besucht. Ebenso kann die Umwelt u. a. Einfluss auf die kindliche Identitäts- und Persönlichkeitsbildung, sowie die (psychische) Gesundheit und das Wohlbefinden nehmen. Zudem erfordert die Begabungsentwicklung „Gewissenhaftigkeit, den Glauben an sich selbst und Ausdauer beim Üben“ 7.

Vernetzung von Institutionen stärken

Hohe Begabungen können früh erkannt werden, indem Kinder ressourcenorientiert betrachtet werden und Anzeichen von Unterforderung in Kita und Schule gesehen und richtig gedeutet werden. Eltern wenden sich mit ihren Fragen nicht selten an die Bildungsinstitutionen, denen aber wiederum Fachwissen im Bereich der Hochbegabung fehlen kann. Zusätzlich gibt es eine Vielzahl von entsprechenden Beratungsangeboten. Diese müssen den Eltern (niedrigschwellig) zugänglich sein. Die Bildungsinstitutionen Kita und Schule können dabei helfen, die Unterstützungs- und Beratungsangebote entsprechend weiterzuempfehlen, indem sie mit ihnen kooperieren und sich selbst auch in Einzelfällen beraten lassen. Vernetzung kann in diesem Kontext der Schlüssel zu guter Unterstützung Hochbegabter sein. Kompetente Ansprechpartner:innen in Beratungsstellen können Eltern und Fachkräfte individuell beraten und sich an der Förderung des Kindes aus einer neutralen Position heraus beteiligen. Ein reicher Erfahrungsschatz, Spezialwissen und erprobte Methoden können dafür sorgen, dass auf die Entwicklung des Kindes individuell reagiert werden kann. In der Beratungsstellendatenbank dieses Fachportals sind Beratungsstellen gelistet, die auf das Thema Hochbegabung spezialisiert sind.

Kind betrachtet Planeten auf einer Tafel
Bild: iStock/pinstock

Vielfältige Fördermöglichkeiten für Hochbegabte

Das o. g. Beispiel von Michael Kearney zeigt, wie individuelle Förderung eines begabten Kindes gut gelingen konnte. Akzelerierende Maßnahmen wie eine vorzeitige Einschulung, das Überspringen von Klassen oder das Frühstudium können die Schullaufbahn Hochbegabter beschleunigen und somit Unterforderung und Langeweile im Bildungsverlauf verhindern. Ergänzend dazu können Enrichmentmaßnahmen wie die Arbeit mit individuellen Lernplänen, jahrgangsübergreifendes Lernen oder Differenzierung im Unterricht gute Möglichkeiten zur Förderung von Kindern darstellen. Denn, „wenn die Lernangebote in der Schule dauerhaft nicht zu den individuellen Lernvoraussetzungen eines Kindes passen, kann sich das nicht nur negativ auf die Lernmotivation und die Schulleistungen auswirken, sondern auch das psychische Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes beeinträchtigen“ 8. Eine gute Kooperation der Institutionen Kita, Schule und Beratungsstellen ist bei einer derartigen Beschleunigung der Bildungslaufbahn empfehlenswert.

Im o. g. Fallbeispiel von Theo wird ein Bruch im Bildungsverlauf sichtbar. Dadurch, dass ihm die Grundschulzeit sehr leichtfiel, hat er sich vermutlich keine Lernstrategien aneignen müssen, die ihm im Gymnasium beim Lernen jedoch hilfreich gewesen wären. So ist er überfordert und sogar versetzungsgefährdet. Unterstützende Beratung und Kooperation von Institutionen könnten Theo helfen, sein Potenzial erneut in schulischen Leistungen zu offenbaren.

Begabungsförderung institutionell verankern

Fehlendes Wissen über Hochbegabung kann dazu führen, dass das Potenzial von Kindern nicht erkannt wird und diese somit auch keine angemessene Förderung erhalten. Dies kann wiederum bedingen, dass Potenziale verkümmern bzw. sich hohes Potenzial nicht in Leistung zeigen kann sowie persönliche oder soziale Schwierigkeiten nach sich ziehen. Das positive Fallbeispiel zeigt, wie das Potenzial von Michael sich entfalten konnte. Somit ist davon auszugehen, dass sich seiner individuellen Förderung angenommen wurde und seine Eltern, wie auch institutionelle Lehrpersonen und Berater:innen sich mit seiner Hochbegabung auseinandergesetzt haben und Maßnahmen ergriffen haben, die ihn gut unterstützen konnten.

Um dies allen Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, sollte Begabungsförderung konzeptionell in Kita und Schule berücksichtigt werden. Beispielsweise können in institutionellen Einrichtungsentwicklungen Prozesse für entwicklungsschnelle Kinder bedacht und verankert werden. Individuelle Begabungs- und Begabtenförderung kann damit auch einen wertvollen Beitrag zur Qualitätsentwicklung in pädagogischen Institutionen wie Kita und Schule leisten, indem sich über die pädagogische Haltung dem Kind gegenüber im Team ausgetauscht wird und Methoden der Begabungsförderung zum Alltag gehören.

Hochbegabte in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und Klischees ausräumen

Nicht nur die institutionellen Fragen von Fach- und Lehrkräften oder die persönlichen Fragen der Eltern wollen beantwortet werden, auch die hochbegabten Jugendlichen oder Erwachsenen selbst haben Beratungsbedarf, wenn es um die Entdeckung, Entfaltung und Förderung ihrer Begabungen sowie ihrer Persönlichkeit geht.

Michael wird im Vergleich mit anderen Kindern früh wahrgenommen haben, dass er „anders“ ist. Wie lassen sich Kinder so in ihren Persönlichkeitsmerkmalen stärken, dass sie ihre Begabungen entfalten und nicht verstecken? Schließlich zeigt das Beispiel von Michael, wie jung er bereits das College besuchte und seine Abschlüsse absolviert hatte. Wie er sich aufgrund seines sehr viel jüngeren Alters am College gefühlt haben mag, wissen wir aus dem aufgeführten Beispiel nicht. Dies jedoch mit Stolz und Selbstsicherheit durchlaufen zu können, setzt eine positive Persönlichkeitsentwicklung voraus. Die Offenheit und Akzeptanz der bzw. dem Hochbegabten gegenüber wird sich voraussichtlich in ihrem/seinem Selbstbild widerspiegeln. Negative Erfahrungen wie Stigmatisierung hingegen können das Kind beim Heranwachsen darin hemmen, zu seinen Begabungen zu stehen und sie offen zu zeigen.

Differenzierte Betrachtungsweise nötig

„Genie, Einstein, Superbrain, Wunderkind – denen fliegt sowieso alles zu, die brauchen keine Unterstützung“ ist ebenso ein Klischee, wie „Hochbegabte sind schwierig“. Annahmen wie diese können in den Köpfen der Gesellschaft verankert sein, und im Sinne der sogenannten „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ kann es dazu kommen, dass sich ein hochbegabtes Kind entsprechend den Annahmen seiner Umwelt verhält 9. „Es ist daher sehr wichtig, über falsche Klischees und Vorurteile gegenüber Hochbegabten aufzuklären – und zwar nicht nur bei anderen, sondern auch bei den Hochbegabten selbst“ 9.

Um ein vielfältiges und differenziertes Bild über individuelle Formen von Hochbegabung zu bekommen, ist es hilfreich, sich umfassend zu informieren, bevor vorschnelle und zum Teil auch unbewusste Urteile über Hochbegabte gefällt werden.

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