Hochbegabung verstehen

Allgemein

Hochbegabung im Kontext von Gerechtigkeit

„Begabungsgerechtigkeit“ – was bedeutet das eigentlich? Konkret meint der Begriff, „dass Menschen unabhängig von den unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen ein Recht darauf haben, entsprechend ihren Potenzialen gefordert und gefördert zu werden, wobei Potenziale und Begabungen breit und dynamisch aufgefasst werden. Werden also Begabungen ganz unterschiedlicher Art unabhängig von der sozialen Herkunft, des Geschlechts, von Gesundheit oder der Ethnizität […] zugetraut und anerkannt, kann dies ein Schritt in Richtung Begabungsgerechtigkeit sein“ 1.

Von: Claudia Pauly, Lisa Pohlmeier und Anne-Kathrin Stiller


Die Verwirklichung von Begabungsgerechtigkeit in der Gesellschaft ist höchst relevant – und zwar sowohl für die Gesellschaft insgesamt als auch für die Individuen, aus denen diese Gesellschaft besteht. Denn ist eine solche grundlegende Gerechtigkeit nicht verwirklicht, kann sich die Einzelne bzw. der Einzelne nicht angemessen entfalten. Dies kann Probleme nach sich ziehen in der Potenzialentfaltung, der Persönlichkeitsentwicklung, der psychischen Gesundheit und nicht zuletzt in gezeigter bzw. nicht gezeigter Leistung. Umgekehrt trägt gelebte Begabungsgerechtigkeit zu einer Gesellschaft bei, in der Menschen sich ihren Begabungen gemäß entwickeln können und dies auch wieder in die Gesellschaft zurückgeben. Die Verwirklichung von Begabungsgerechtigkeit ist also in der Bildung allgemein, genauso aber speziell im Feld Hochbegabung relevant und aktuell. Denn konsequenterweise gelingt auch die Förderung von hohen Begabungen dann besonders gut, wenn Bildungsgerechtigkeit gelebt wird.

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Je besser Kinder und Jugendliche mit ihren individuellen Potenzialen wahrgenommen und gefördert werden, desto reicher wird die Gesellschaft an Persönlichkeiten, die diese Gesellschaft aktiv und positiv mitgestalten können.

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Begabungsgerechtigkeit inklusiv verwirklichen

Wie kann nun aber Begabungsgerechtigkeit in der pädagogischen Praxis umgesetzt werden? Hilfreiche Antworten darauf bietet das Konzept der Inklusion. Inklusion bedeutet, von einer Gesellschaft der Vielfalt auszugehen, in der jede:r ihren bzw. seinen Platz findet – also auch Kinder und Jugendliche mit besonders hoher Begabung. Vor diesem Hintergrund stehen Inklusion und Gerechtigkeit seit jeher in engem Zusammenhang 2. Dabei gilt es zu bedenken, dass Inklusion nicht automatisch zu Gerechtigkeit führt. Es braucht bestimmte Voraussetzungen:

  • Gute Ausstattung in Bildungs- und Beratungseinrichtungen, sowohl personell als auch finanziell 3,
  • Vernetzung von Bildungs- und Beratungseinrichtungen,
  • niedrigschwelliger Zugang zu Bildungs- und Beratungsangeboten, unabhängig von Migration, Gender, sozioökonomischem Status oder Behinderungen 4,
  • Ressourcen- und personorientierte Kompetenzen sowie eine wertschätzende Haltung bei pädagogischen Fachkräften und Beratungskräften 5, ebenfalls unabhängig vom sozialen Status, Gender oder der Herkunft eines Kindes,
  • Vermeidung von Stigmatisierungen, vorurteilssensible Begleitung,
  • aufmerksamer Blick auf Kinder und Jugendliche mit nicht direkt sichtbarer Leistung (z. B. Twice Exceptionals oder hochbegabte Underachiever),
  • Verwendung (kultur-)fairer Testverfahren in der psychologischen Diagnostik,
  • unterstützende Rahmenbedingungen für Fachkräfte in Bildungs- und Beratungseinrichtungen, die ressourcen- und stärkenorientiert arbeiten möchten,
  • Differenzierung in Struktur und Angeboten für Kinder und Jugendliche in Kita und Schule,
  • persönliche Begleitung von Kindern und Jugendlichen, auch z. B. in Form von Mentoring,
  • alternative Formen der Leistungsbewertung.

Jugendliche halten gemeinsam die Weltkugel
Bild: iStock/franckreporter

Defizitorientierung führt zu systematischer Selektion

Dies alles sind Bedingungen bzw. Ansprüche, die längst noch nicht umfassend verwirklicht sind. Insbesondere in der Schule besteht oftmals noch eine „historisch gewachsene Fokussierung auf Defizite, die mitunter in der Selektionsfunktion von Schule begründet liegt“ 6: Das System der Regelschule ist nach wie vor überwiegend darauf ausgelegt, „Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Leistung Schulformen und beruflichen Perspektiven zuzuteilen“ 6. Diese Systematik der Selektion aber befördert oftmals Ungerechtigkeit. Kinder und Jugendliche setzen die ersten Schritte auf ihrem Bildungsweg nicht unter den gleichen Bedingungen. Schon – oder eher spätestens – bei der Einschulung sind ihre Chancen sehr unterschiedlich, und dies setzt sich meist auch im weiteren Bildungsverlauf fort 7. Auf dieser Basis dann eine Selektion vorzunehmen, ist nicht gerecht.

Strukturelle Entwicklungen in der Bildungslandschaft sind gefragt

Strukturelle Veränderungen im Bildungssystem wie eine bessere Ausstattung in Beratungseinrichtungen, Kitas und Schulen, aber auch das Erproben alternativer Schulkonzepte wie jahrgangsübergreifender Unterricht, individuelle Lernpläne oder alternative Formen der Leistungsbewertung können die Entwicklung hin zu einer begabungsgerechten Gesellschaft unterstützen.

Gründe für das selektive Bildungssystem

Zu bedenken ist allerdings: Selektiert wird im derzeitigen Bildungssystem auch deshalb, weil dieses in einem gesellschaftlichen Auftrag steht, sich mehr an gezeigter Leistung zu orientieren – weniger an Potenzialen, die es zu finden und zu fördern gilt. Dies ist schwer in Einklang zu bringen mit einer individuellen, wertschätzenden, beziehungssensiblen und ressourcenorientierten Begleitung von Kindern und Jugendlichen 8. Doch neben förderlichen strukturellen Bedingungen ist es vor allem eine solche Begleitung, die dazu beiträgt, dass tatsächlich Begabungsgerechtigkeit gedacht und gelebt werden kann. Erst mit einer solchen stärken- und ressourcenorientierten Haltung wird der Raum für Potenziale wirklich geöffnet 9.

Um Begabungsgerechtigkeit zu erreichen, muss also in hohem Maß der/die einzelne Schüler:in in den Blick genommen werden. Denn je besser Kinder und Jugendliche mit ihren individuellen Potenzialen wahrgenommen und gefördert werden, desto reicher wird die Gesellschaft an Persönlichkeiten, die diese aktiv und positiv mitgestalten können.

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