Hochbegabung verstehen

Schule

Stereotypisierung von Kindern und Jugendlichen mit Hochbegabung

In diesem Videobeitrag sprechen Kolleginnen des Ressorts Schule der Karg-Stiftung über Stereotype bezüglich Hochbegabung bei Kindern und Jugendlichen und gehen dabei auf einige besonders geläufige davon ein.

Von: Karen Johannmeyer, Carolin Kiso, Marielle Liebert und Claudia Pauly


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Transkript

CP: Im Alltag begegnen einem immer wieder Stereotype bezüglich Hochbegabung bei Kindern und Jugendlichen. Auf einige geläufige davon möchten meine Kolleginnen und ich aus dem Ressort Schule der Karg-Stiftung in diesem Video eingehen.

Stereotypisierung 1: Wenn hochbegabte Schüler:innen keine guten Noten schreiben, liegt das daran, dass sie faul sind!

CK: Wenn begabte Schülerinnen und Schüler schlechte Noten schreiben, dann kann dies verschiedene Gründe haben. Zum Beispiel kann eine fehlende oder schlechte Arbeits- und Lernstrategie dazu führen, dass nicht die Leistung gezeigt wird, die eigentlich gezeigt werden kann. Wenn die Schülerinnen und Schüler vom Unterricht gelangweilt sind oder die Aufgaben, die im Unterricht an sie gestellt werden, sie unterfordern bzw. sie eine andere Herangehensweise wählen als dies von ihnen erwartet wird, dann kann dies dazu führen, dass sie kein Interesse zeigen oder auch nicht die Notwendigkeit sehen, ihre Begabungen zu zeigen. Ihnen fehlt der motivationale Antrieb.

Auch andere Beeinträchtigung wie z. B. eine Lese-Rechtschreibschwäche kann dazu führen, dass die Leistungsfähigkeit gehemmt wird. Es gibt noch weitere Faktoren, die die Leistung beeinträchtigen, z. B. eine Prüfungsangst oder eine schwierige familiäre Lernumwelt bzw. auch kritische Lebensereignisse oder Probleme, die die Schülerinnen und Schüler haben, können dazu führen, dass die psychische Belastung so hoch ist, dass sie sich nicht konzentrieren können. Es stimmt also nicht, dass begabte Schülerinnen und Schüler, wenn sie schlechte Noten schreiben, faul sind. Es sollte gemeinsam der Frage nachgegangen werden, was sind die Auslöser und womit hängen sie zusammen und wie können wir diesen begegnen, sodass die Schülerinnen und Schüler ihre Begabungen ausleben können.

Stereotypisierung 2: Wenn Kinder und Jugendliche sehr früh lesen und schreiben können, ist das ein recht verlässliches Zeichen für eine Hochbegabung.

ML: Häufig werden sehr fleißige oder motivierte Kinder als besonders begabt eingeordnet. Teilweise können diese Kinder bereits im Kindergarten erste Sätze und Wörter lesen und schreiben. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie automatisch hochbegabt sind. Eine Förderung in der Familie oder in der Kita kann dazu führen, dass diese Fähigkeiten bereits sehr früh ausgeprägt sind. Einige Kinder haben auch Entwicklungsvorsprünge gegenüber anderen Kindern, die sich gegebenenfalls auch wieder ausgleichen können.

In der Schule sollte dann darauf geachtet werden, dass die Kinder ihre Motivation beibehalten, also an die bereits erworbenen individuellen Fähigkeiten angeschlossen wird und diese Kinder auf keinen Fall unterfordert werden. Auf der anderen Seite sollten sie auch nicht überfordert werden, denn letztendlich muss man schauen, ob sich diese Fähigkeiten in mehreren Bereichen zeigen oder es beim Lesen und Schreiben verbleibt. Die genaue Beobachtung ist daher sehr wichtig und in einem Dialog mit allen Beteiligten, also mit Eltern, Kindern und auch den Lehrpersonen, sollte dann genau abgewogen werden, ob eine weiterführende Diagnostik sinnvoll ist. Die Voraussetzung dafür ist also der gemeinsame Dialog mit allen Beteiligten, damit über die individuelle Wahrnehmung über die Situation gesprochen und dann entschieden werden kann, ob gegebenenfalls auch weitere Fördermaßnahmen für das Kind sinnvoll sind.

Stereotypisierung 3: Es gibt mehr hochbegabte Jungen als Mädchen.

KJ: Mädchen und Jungen unterscheiden sich nicht in ihrer allgemeinen Intelligenz – es gibt in etwa gleich viele Jungen und Mädchen. Allerdings ist es so, dass Mädchen seltener als hochbegabt erkannt werden oder gefördert werden. Deswegen gibt es mehr Jungen, die als hochbegabt diagnostiziert werden.

Tatsächlich findet man in bestimmten eng umgrenzten Begabungsbereichen dann doch kleine Unterschiede zwischen den Geschlechtern – und zwar können Jungen im Durschnitt etwas besser räumliche Probleme lösen. D. h. wenn man einem Jungen einen Gegenstand gibt, dann kann er sich etwas leichter vielleicht vorstellen, wie der aussehen würde, wenn man ihn dreht. Wenn Mädchen sprachliche Aufgaben bekommen, dann fällt es ihnen da leichter, beispielsweise Synonyme für Wörter zu finden. Das ist allerdings nicht biologisch begründet, sondern häufig liegt es auch in der Erziehung oder in der Art, wie die Kinder aufgewachsen sind, dem kulturellen Einfluss usw.

Wenn ich sage im Durchschnitt fällt es Jungen leichter, räumliche Probleme zu lösen oder im Durchschnitt können Mädchen leichter sprachliche Aufgaben lösen, dann meint das einen Mittelwertsunterschied von Gruppen. D. h. in Einzelfällen ist es immer noch so, dass es natürlich viele Mädchen gibt, die besser räumliche Probleme lösen können als viele von den Jungs oder andersherum auch viele Jungen, die leichter sprachliche Aufgaben lösen können.

Stereotypisierung 4: Kinder mit Migrationshintergrund werden seltener als hochbegabt erkannt.

ML: Das ist leider richtig. Da die klassischen Verfahren zur Ermittlung einer Intelligenz auch die sprachlichen Fähigkeiten berücksichtigen, bleiben viele Kinder mit Migrationshintergrund, die z. B. Defizite in der Landessprache aufweisen, hinter ihren Fähigkeiten zurück. Leider verstehen sie teilweise dann die Aufgaben nicht und können somit nicht zeigen, was sie eigentlich können. Aber bereits vor den eigentlichen diagnostischen Verfahren werden Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule seltener als hochbegabt erkannt. Das liegt nicht nur an den sprachlichen Fähigkeiten, sondern teilweise auch an unterschiedlichen kulturellen Alltagsrelevanzen: In bestimmten Kulturkreisen wird z. B. eine Zurückhaltung als sehr wertvoll erachtet. Das kann in der Schule allerdings dazu führen, dass unbefriedigende mündliche Noten dabei herauskommen. Auch eine mathematische Kompetenz, ein Potenzial kann nicht richtig erkannt werden, wenn z. B. im Herkunftsland eine andere Zahlenschreibweise vorherrscht.

Demnach ist es wichtig, in der Schule auch außerhalb des Unterrichts eine Kultur der Anerkennung zu etablieren. Die Kinder sollten ihre Stärken auch abseits der klassischen bewertungsverfahren zeigen können, damit ihre individuellen Fähigkeiten eben auch außerhalb des Unterrichts erkannt werden können. So kann es gelingen, dass auch diese Kinder besser erkannt werden, mit ihren persönlichen individuellen Stärken berücksichtigt werden und im Dialog mit den Eltern auch eruiert werden kann, inwiefern das Verständnis von Schule und Leistung übereinstimmt.

Stereotypisierung 5: Hochbegabung lässt sich eindeutig durch einen IQ-Test erkennen.

CP: Intelligenztests können gute Hinweise auf Hochbegabung liefern, sie messen allerdings nur einen Teilbereich der Hochbegabung, nämlich die Intelligenz. Hochbegabung basiert erst einmal auf einem hohen Potenzial und zu dem gehören neben der Intelligenz auch noch weitere Faktoren wie z. B. die individuelle Kreativität oder auch soziale Kompetenz. Um also das gesamte Potenzial zu erfassen, ist es wichtig, nicht nur auf die Ergebnisse eines Intelligenztests zu schauen, sondern auch durch

Beobachtungen im Alltag oder auch durch Gespräche mit Kindern und Jugendlichen herauszufinden, wie das individuelle Potenzial aussieht.

Wenn ein IQ-Test gemacht wird, ist folgendes wichtig: Intelligenztests werden ungefähr ab einem Alter von fünf Jahren zuverlässig. Auch da kann es aber auch noch individuell stärkere Schwankungen geben. Außerdem gibt es nicht nur einen Intelligenztest, sondern mehrere verschiedene. Manche basieren mehr auf dem Allgemeinwissen oder dem Wortschatz, andere arbeiten mehr mit Material, das weniger sprachbasiert ist. Gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund oder aus bildungsferneren Elternhäusern oder bei Kindern mit Teilleistungsschwächen ist es also besonders wichtig darauf zu achten, dass ein Intelligenztest genutzt wird, der nicht zu verfälschten Ergebnissen führt.