Hochbegabte unterstützen

Kita

Die Flexible Grundschule im Detail

Für alle Kinder stellt sich die Frage, wie sie am besten durch ihre Grundschulzeit begleitet werden können. Häufig gibt es in Grundschulen umfassende Konzepte für eine individualisierte Förderung. Dennoch stellt sich bei besonders begabten Kindern nicht selten die Frage nach einer zusätzlichen Akzeleration („Beschleunigung“). Es werden Konzepte für den Übergang auf die Grundschule wie die frühe Einschulung oder flexible Eingangsstufen vorgestellt, sowie Möglichkeiten einer flexiblen Gestaltung der Grundschulzeit.

Von: Karen Johannmeyer


Herausforderung Heterogenität

Wer eine typische erste Grundschulklasse zum Zeitpunkt der Einschulung betrachtet, stellt schnell fest: die Kinder bringen eine ganze Bandbreite an Fähigkeiten und Interessen mit. Vielleicht gibt es Kevin, der drei größere Geschwister hat und bereits lesen kann, Kim, die am liebsten Experimente macht und kaum stillsitzen kann, oder Aboud, der sich sehr fürs Rechnen interessiert, aber noch wenig deutsch spricht.

Der Übergang auf die Grundschule und die Gestaltung der Grundschulzeit wirft für alle beteiligten Personen spezifische Herausforderungen und Fragen auf. Für Lehrpersonen in der Grundschule ist der Umgang mit dieser Heterogenität eine alltägliche Herausforderung, die sich insbesondere an den Übergängen von der Kita und auf die weiterführende Schule zeigen kann. Für Fachpersonen in der Kita können mit der Vorbereitung und Begleitung des Übergangs auf die Grundschule bei besonders begabten Kindern Fragen der vorzeitigen Einschulung aufkommen. Eine besondere Beratung der Eltern kann dann notwendig sein. Für Eltern ist das Wissen um die Heterogenität der Klasse häufig mit der Frage verbunden, wie ihr eigenes Kind am besten durch die Grundschulzeit begleitet werden kann. Auch Kinder machen sich viele Gedanken über den Einstieg in die Grundschule: so beschäftigen sie beispielsweise die Fragen, ob sie Freunde finden werden, ob sie Lehrpersonen bekommen, die sie mögen, oder ob sie den Anforderungen im Unterricht gerecht werden können 1.

Übergänge als Chance für die Entwicklung

Obwohl es diese Herausforderungen gibt, bieten Übergänge vor allem auch Chancen für die Entwicklung und die Bildungsprozesse des Kindes. Das Ziel der pädagogischen Begleitung der Übergänge sollte sein, dass die positiven Erfahrungen überwiegen und die Entwicklungspotenziale genutzt werden. Da Kinder mit sehr unterschiedlichen Eingangsbedingungen in die Grundschule starten, wurden in Forschung und Praxis zahlreiche Konzepte entwickelt, deren Ziel ist, diesen Übergang zu gestalten und begleiten. Einige dieser Konzepte haben sich insbesondere für Kinder mit besonderen Begabungen als hilfreich herausgestellt. Im Folgenden werden einige dieser Konzepte vorgestellt. Zunächst werden Möglichkeiten eines flexiblen Übergangs auf die Grundschule aufgezeigt: die vorzeitige Einschulung sowie die flexible Eingangsstufe. Im Anschluss werden Möglichkeiten einer flexiblen Gestaltung der Grundschulzeit vorgestellt.

Da ausführliche Möglichkeiten der individualisierten Förderung im Unterricht an anderer Stelle vorgestellt werden, liegt der Fokus an dieser Stelle auf den Möglichkeiten der Akzeleration. Unter Akzeleration werden Maßnahmen verstanden, „einen vorgesehenen Lehrplan oder Teile davon früher zu beginnen, zu beenden oder schneller zu passieren“, als es sonst üblich oder vorgesehen ist 2. Wichtig ist dabei zu beachten: es wird „nicht das Kind oder das Lernen beschleunigt, sondern das Kind arbeitet auf der Stufe des Curriculums, das zu seiner Entwicklung passt“ 3. In diesem Text wird ein Fokus gelegt auf Möglichkeiten der Akzeleration durch einen jahrgangsübergreifenden Unterricht, mit einem Exkurs zum Überspringen von Klassen. Den Abschluss bildet ein Überblick über die Gelingensbedingungen einer flexiblen Grundschule.

Der Übergang auf die Grundschule

Angesichts der großen Heterogenität der Kinder am Schulanfang wird das Konzept der „Schulfähigkeit“ in seiner selektiven Funktion fraglich 4. Der Verlauf der Entwicklung des Kindes ist am Schulanfang nicht zuletzt durch die Bedingungen in der Schulklasse beeinflusst, wie die Zusammensetzung der Lerngruppe, die Passung oder Individualisierung der Unterrichtsinhalte, oder die Beziehung zur Lehrperson. Der Fokus der Überlegungen liegt somit nicht mehr nur auf dem Kind und seiner „Schulreife“, sondern wird ausgeweitet auf institutionelle Bedingungen auf Seiten der Kita oder der Grundschule, sowie die Familie des Kindes. Ziel ist eine Erziehungspartnerschaft von Institutionen und Eltern unter Einbezug der Kinder 5. So kann gemeinsam entschieden werden, zu welchem Zeitpunkt für ein Kind der Übergang auf die Grundschule geschehen soll.

Vorzeitige Einschulung

Die Frage nach einer vorzeitigen Einschulung stellt sich nicht bei allen besonders begabten Kindern. Sie kann jedoch ausgelöst werden, wenn Kinder bereits in der Kita ein hohes Interesse am Lesen, Rechnen oder Schreiben zeigen, oder von sich aus ein großes Interesse am Schulbesuch äußern. Häufige Sorgen, beispielsweise bezogen auf die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder, zeigen sich in empirischen Studien als in der Regel nicht begründet. Darüber hinaus zeigt sich, dass positive Effekte bei Kindern mit hoher kognitiver Begabung, die vorzeitig eingeschult wurden, überwiegen 6. Wenn sich die begleitenden pädagogischen Fachkräfte der Kita, die Lehrpersonen an der Grundschule, Eltern und Kind einig sind, dass eine vorzeitige Einschulung in Frage kommt, kann dies eine gute Möglichkeit der Akzeleration darstellen, durch die dem Lerninteresse und Entwicklungsstand der Kinder gut entsprochen werden kann.

Flexible Eingangsstufe

Unter den Begriff der flexiblen Eingangsstufe können verschiedene Schulkonzepte gefasst werden. Meist bedeutet dies, dass Kinder der ersten beiden Jahrgangsstufen gemeinsam unterrichtet werden, und diese je nach individuellem Bedarf in ein bis drei Jahren durchlaufen können. Dieses Konzept kann so eine Alternative zur vorzeitigen Einschulung darstellen. Als Modellversuche gibt es zudem Schulen, in denen die flexible Eingangsstufe in Kombination mit mehreren Einschulungszeitpunkten im Jahr (Beispielsweise August und Februar) der Heterogenität in der Schulanfänger:innen begegnet wird 4. Die Vorteile, die sich mit einer flexiblen Eingangsstufe insbesondere für begabte Kinder verbinden, beinhalten neben der vereinfachten Förderung durch Akzeleration eine regelmäßige Neuverteilung sozialer Rollen, den besonderen Blick auf die Heterogenität der Kinder. Diese Vorteile gelten auch für den jahrgangsübergreifenden Unterricht allgemein und werden im Folgenden noch genauer vorgestellt.

Kinder lernen gemeinsam
Bild: iStock/FatCamera

Die flexible Gestaltung der Grundschulzeit

Neben den Konzepten zur flexiblen Schuleingangsphase gibt es verschiedene Konzepte und Möglichkeiten, auch die weitere Grundschulzeit flexibel zu gestalten. An erster Stelle, was die Häufigkeit der Fördermaßnahmen betrifft, steht sicherlich die individuelle Förderung im Unterricht. Da es an Grundschulen zum Alltagsgeschäft gehört, auf die Heterogenität der Lernenden einzugehen, gibt es vielfältige Methoden zur Individualisierung des Lernens. Für begabte Kinder gibt es verschiedene Möglichkeiten, ein Enrichment im Unterricht umzusetzen. Exemplarisch lassen sich hier die Methoden der Wochenpläne, der Portfolios, oder der Projektarbeit nennen, die an anderer Stelle umfassender vorgestellt werden. An dieser Stelle werden daher Schulkonzepte jahrgangsübergreifenden Unterrichts vorgestellt, ergänzt um die individuelle Maßnahme der Akzeleration: das Überspringen von Klassen.

Jahrgangsübergreifender Unterricht an der Grundschule

Für das jahrgangsübergreifende Lernen gibt es vielfältige Konzepte 7: so gibt es Grundschulen, an denen wie in der flexiblen Eingangsstufe nur die Klassen 1 und 2 gemeinsam unterrichtet werden. Darüber hinaus gibt es Schulen, die auch die Klassen 3 und 4 gemeinsam unterrichten, nur die Klassen 1-3 mischen und die 4. Klasse als Jahrgangsklasse umsetzen, oder eine gesamte Jahrgangsmischung der Klassen 1-4 vornehmen. Bei allen Konzepten bedeutet dies, dass sich die Zusammensetzung der Gruppe jedes Jahr etwas verändert. Dadurch verändern sich auch die sozialen Beziehungen innerhalb der Klasse stärker, als sie es in einer Jahrgangsklasse tun würden, und die Rollen der Kinder werden jedes Jahr neu verteilt 8. Für besonders begabte Kinder bietet dies mehrere mögliche Vorteile. Sie können ihren Lernstand mit älteren Kindern messen und erhalten dabei möglicherweise neue Anreize für ihr Lernen. Eine mögliche Rolle des „Strebers“ kann sich so nicht verfestigen 9. Weitere Vorteile, die im jahrgangsgemischten Unterricht gesehen werden, ist der deutlichere Blick auf die Heterogenität der Kinder, sodass die Individualisierung des Lernens gefördert wird 10. Begabte Kinder können so im gewohnten Klassenverband anspruchsvolle Lernangebote nutzen.

Durch das jahrgangsgemischte Lernen fällt für besonders begabte Kinder auch das „Überspringen“ weg: Statt des Wechsels in eine andere Klasse kann in der gleichen Lerngruppe bei Bedarf schneller durch den Unterrichtsstoff gegangen werden, und ein Übergang auf eine weiterführende Schule ist ggf. frühzeitig gemeinsam mit älteren Klassenkamerad:innen möglich.

Überspringen

An Schulen, die kein Konzept Jahrgangsübergreifenden Unterrichts haben, kann für besonders begabte Kinder eine Akzeleration über das Überspringen einer Klassenstufe geschehen. Dies ist rechtlich in (fast) allen Jahrgangsstufen möglich, findet statistisch betrachtet aber sehr selten statt 11. Wenn es stattfindet, dann überwiegend an der Grundschule, am häufigsten in den ersten beiden Schuljahren 12. Als Variante ist in Einzelfällen auch eine direkte Einschulung in die zweite Klasse denkbar.

Jungen überspringen deutlich häufiger als Mädchen eine Klassenstufe 12. Ebenso sind es häufiger Kinder von Eltern mit hohen Bildungsabschlüssen oder sozioökonomischem Status, die eine Klasse überspringen 12. Nationale wie internationale Studien haben gezeigt, dass in den Fällen, in denen sich für das Überspringen einer Klasse in der Grundschule entschieden wurde, die Maßnahme für die Kinder meist positiv verläuft. Wenn die Kinder eine hohe Begabung haben, dann zeigt sich dieser Effekt verstärkt 1. Dies bringt aber keine allgemeine Empfehlung für ein Überspringen mit sich: Es ist wichtig, dass Eltern, Lehrpersonen und Kinder sich gemeinsam für diese Maßnahme entscheiden 1.

Gelingensfaktoren für eine flexible Grundschule

Da sich bei der Einrichtung von flexiblen Eingangsstufen oder jahrgangsübergreifenden Klassen die Heterogenität in den Schulklassen erhöht, zeigen sich einige besondere Herausforderungen für die Lehrpersonen. Dies betrifft zunächst die Haltung: Lehrpersonen stellt dies vor die Aufgabe, die hohe Vielfalt in ihren Klassen als Bereicherung wahrzunehmen und in ihren Unterrichtsstrukturen zu berücksichtigen 13. Eine positive Lernkultur setzt eine Anerkennung der Individualität des Kindes voraus. Zusätzlich betrifft dies die Unterrichtsgestaltung: Damit die Förderung der Kinder in flexiblen Strukturen optimal gestaltet werden kann, sind individualisierte Lernmöglichkeiten nötig. In der Grundschule könnten dies beispielsweise Wochenpläne, die Arbeit mit Portfolios, o. a. sein. 14.

Nicht zuletzt erfordert die erfolgreiche Umsetzung von flexiblen Schulkonzepten ein engagiertes Kollegium und eine engagierte Schulleitung. Falls eine Grundschule sogar ihr Konzept so ändern möchte, dass eine flexible Eingangsstufe oder jahrgangsübergreifender Unterricht gestaltet werden kann, empfiehlt sich eine externe Begleitung der Schulentwicklung 15.

Insbesondere bei Fragen der vorzeitigen Einschulung, aber auch generell ist es wünschenswert, dass die Eltern, pädagogische Fachkräfte und die Lehrpersonen in gemeinsamer Absprache, und unter Einbezug des Kindes, Entscheidungen fällen und eine Erziehungspartnerschaft bilden. Eine gute Kooperation zwischen den beiden Institutionen, die unter anderem auch darin besteht sich über die Interessen und Begabungen der Kinder auszutauschen, bietet den Ausgangspunkt für eine durchgängige Begabungsförderung. Dass insbesondere auch das Kind in die Entscheidung mit einbezogen wird, ist unter Gesichtspunkten der Partizipation und Motivation von besonderer Bedeutung 15.