Hochbegabte unterstützen

Schule

Bildungs- und Lerngeschichten

Mit dem Instrument der Bildungs- und Lerngeschichten steht ein Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren zur Verfügung, das Lehrkräfte für die Lernprozesse und Lernpotentiale ihrer Schüler:innen sensibilisieren kann. Davon ausgehend stellt es auch eine wertvolle Möglichkeit für die individuelle Leistungsrückmeldung dar. Im Folgenden wird das Instrument anhand von ausgewählten Kriterien, die in Bezug auf Begabungsförderung als förderlich erachtet werden, beleuchtet.

Von: Carolin Kiso


Wer sind die Autor:innen/Urheber:innen?

  • Margret Carr entwickelte in den 1990er-Jahren an der Universität von Waikato in Neuseeland die „learning stories“ 1. Durch Leu, Flämig und Frankenstein wurde das Konzept auf den Einsatz in deutschen Kitas übertragen, sodass die „Bildungs- und Lerngeschichten“ entstanden 2.

Kind in der Schule
Bild: iStock/Dobrila Vignjevic

Was sind Charakteristika?

  • Bei den Bildungs- und Lerngeschichten handelt es sich um ein Konzept zur ressourcenorientierten Beobachtung und Rückmeldung an die Kinder und Jugendlichen. Ursprünglich wurde es für den Einsatz in der Kita entwickelt 2. Es existieren aber bereits Pilotprojekte, bei denen ein modifiziertes Konzept, das sich an der Leuvener Engagiertheitsskala orientiert, auf die Grundschule übertragen wurde 3.
  • Die pädagogischen Fachkräfte beobachten die Kinder in unterschiedlichen Situationen im Unterricht oder im Schulalltag. Die Beobachtungen werden beschreibend, nicht bewertend notiert. Damit das Verfahren ressourcenorientiert eingesetzt werden kann, sollte auf Interpretationen, Wertungen und vorschnelle Schlussfolgerungen (zunächst) verzichtet werden. „Im nächsten Schritt wird die Beobachtung auf Potentiale, Ressourcen und individuelle Lernstrategien des Kindes analysiert“ 4. Das Wohlbefinden und die Engagiertheit der Kinder bieten hierfür Anknüpfungspunkte.
  • Idealerweise beobachten immer zwei bis drei Personen ein Kind in unterschiedlichen Situationen, sodass sie sich über ihre Beobachtungen austauschen und gemeinsam nächste Schritte planen können.
  • In den Schulversuchen wurden die Beobachtungsergebnisse den Schüler:innen in Feedbackgesprächen zurückgespiegelt 3. In der Kita erfolgt die Rückmeldung in Form eines Briefes, in dem die Beobachtung in Form einer Lerngeschichte an das Kind formuliert wird 2.

Welche Stärken besitzt das Instrument?

  • Die Bildungs- und Lerngeschichten und die Betrachtung des Wohlbefindens und der Engagiertheit bieten Wertschätzung gegenüber den Begabungen und Ressourcen der Kinder.
  • Die beobachteten Situationen und die Gespräche der Fachkräfte untereinander sowie mit den Kindern und Jugendlichen geben im Idealfall Anknüpfungspunkte für den Lernentwicklungsprozess und die Begabungsförderung.
  • Die Instrumente eröffnen einen positiven Blick auf das Kind bzw. den Jugendlichen und können so wiederum zu einer hohen Explorations- und Lernmotivation beitragen.
  • Die Bildungs- und Lerngeschichten und Skalen zur Engagiertheit und zum Wohlbefinden bedingen einen respektvollen und wertschätzenden Umgang mit dem Kind und bieten damit einen wichtigen Beitrag zu einer positiven Beziehung zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft 3.

Welche Schwächen besitzt das Instrument?

  • Das freie Schreiben der Lerngeschichten kann zu Beginn für die pädagogischen Fachkräfte eine Herausforderung darstellen. Hier können Ratgeber zum Schreiben der Lerngeschichten Unterstützung bieten (z. B. hier: Bildungs- und Lerngeschichten im Kindergarten und der Kita).
  • Das Beobachten der Kinder, der Austausch im Kollegium und das dialogische Feedbackgespräch kann zeitintensiv sein. Es bedarf einer guten strukturellen Verankerung des Konzepts im Schul-/Kitaalltag und ausreichend Freiarbeitsphasen, die eine Beobachtung und individuelles Feedback an einzelne Kinder ermöglichen. Hebenstreit-Müller schlägt für die Schule kurze Beobachtungsphasen von 5 bis maximal 10 Minuten in zwei bis drei unterschiedlichen Situationen pro Kind vor 3. Dadurch wird die Beobachtungsphase kurzgehalten. In der Woche nach der Beobachtung erfolgt der Austausch über die Beobachtung und mögliche Konsequenzen unter den pädagogischen Fachkräften und das Gespräch mit den Schüler:innen, sodass in der dritten Woche bereits die Umsetzung der aus den Beobachtungen schlussfolgernden nächsten Schritte erfolgen kann.

Inwiefern eignet sich das Instrument, um Stärken zu entdecken?

  • Im Fokus der Bildungs- und Lerngeschichten und der Engagiertheitsskalen steht ein ressourcenorientierter Blick auf die Kinder. Ziel ist unter anderem, Lernfelder ausfindig zu machen, in denen das Kind sich wohlfühlt und engagiert ist. Dadurch eignen sich diese Verfahren besonders zur Identifikation von Begabungen und Spiegelung dieser an die Kinder. Zudem bieten sie über die Betrachtung des Wohlbefindens und der Engagiertheit Anknüpfungspunkte für Strategien zur Förderung der Begabungen.
  • Die wissenschaftliche Begleitung des Pilotprojekts in der Grundschule zeigt schon nach wenigen Wochen deutliche Veränderungen in der Sichtweise der Lehrkräfte auf die Schüler:innen und eine Fokussierung ihrer Stärken 5.
  • Das Konzept der Bildungs- und Lerngeschichten kann somit auch dabei unterstützen, das Handeln von Kindern, die bisher als „verhaltensoriginell“ erlebt wurden und bei denen der Fokus auf ihren Defiziten lag, ressourcenorientiert und unvoreingenommen wahrzunehmen 6 und somit allen Kindern ihre Stärken zurückzumelden. Vor allem (hochbegabten) Kindern, die sich bislang wenig selbstwirksam erlebt haben, kann eine solche wertschätzende Rückmeldung zu ihren Stärken ein neues Selbstwirksamkeitserleben bieten.

Welche Beurteilungsnorm wird verwendet?

  • Die Bildungs- und Lerngeschichten nehmen den individuellen Bildungsweg und die individuellen Lernprozesse der Kinder in den Blick. Sie orientieren sich an den Motiven Wohlbefinden und Engagiertheit des einzelnen Kindes. Durch diese intensive Orientierung am Kind und seinem Bildungsprozess steht die Individualnorm im Vordergrund.

Wie kann es am Übergang eingesetzt werden?

  • Da die Bildungs- und Lerngeschichten sowohl ein Konzept für die Kita also auch für die Grundschule darstellen, eignen sie sich gut, um an diesem Übergang die Ressourcen und Begabungen der Kinder nahtlos festzuhalten. Kita und Grundschule können gegenseitig die Bildungs- und Lerngeschichten der Kinder für die jeweils andere Institution zugänglich machen und das Instrument auch für gemeinsame Veranstaltungen am Übergang verwenden. So werden die Kompetenzen, die die Kinder am Übergang zeigen, sichtbar gemacht. Dies kann helfen die Kinder in dieser, für manche als herausfordernd wahrgenommenen Phase 7, zu ermutigen und selbstkompetent darzustellen.

Inwiefern kann das Instrument zur Aktivierung der Lernenden beitragen?

  • Dadurch, dass die Kinder die von den Lehrkräften gemachten Beobachtungen in Form einer eigenen Lerngeschichte oder in Form von Rückmeldegesprächen gespiegelt bekommen, erhalten sie ebenfalls die Möglichkeit, den eigenen Lernprozess wahrzunehmen und zu reflektieren.
  • Über den dialogischen Austausch mit der Lehrkraft werden die Kinder „unterstützt, Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu entwickeln.“ 1