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Nette Mädchen fallen nicht auf – Die drei wichtigsten Gründe für Underachievement bei Mädchen

Nette Mädchen fallen nicht auf – Die drei wichtigsten Gründe für Underachievement bei Mädchen

Underachievement wird eher mit begabten Jungen als mit Mädchen in Verbindung gebracht. Übersehen wir da etwas? Warum es schwieriger ist, minderleistende begabte Mädchen zu erkennen und welche Faktoren speziell bei ihnen zu Underachievement beitragen.

August 2022

Von: Christine Koop


Echt jetzt!? Müssen wir über Underachievement bei Mädchen sprechen? Sind nicht nachweislich Jungen die Verlierer in unserem Bildungssystem? Und haben die Mädchen nicht längst in allen Feldern aufgeholt? Mädchen können sich doch heute genauso entfalten wie Jungen – erst recht, wenn sie besonders begabt sind. Und worin soll sich denn Underachievement bei Mädchen und Jungen unterscheiden?

Seien wir mal ehrlich: Underachievement nehmen wir als Jungen-Phänomen wahr. Und auch in wissenschaftlichen Studien wird das Geschlechterverhältnis mit 2:1 bis 3:1 angegeben, d. h. auf zwei bis drei minderleistende Jungen gäbe es demnach ein begabtes Mädchen, das hinsichtlich der Schulleistungen deutlich unter seinen Möglichkeiten bleibt. Doch ist es tatsächlich so eindeutig, oder werden die Mädchen schlicht übersehen? Und wenn ja: Aus welchen Gründen?

Der doppelte blinde Fleck

Eine Möglichkeit ist, dass wir es mit einer Art doppeltem „blinden Fleck“ zu tun haben: Mädchen werden seltener als hochbegabt erkannt. Sie werden als fleißig und gewissenhaft wahrgenommen, während bei Jungen schnelle Lernerfolge eher auf ein besonderes Talent zurückgeführt werden 4. Eine erkannte Begabung zieht höhere Erwartungen an die Schulleistungen nach sich. Bleibt der als begabt identifizierte Junge bei wachsenden Anforderungen unter seinen erwarteten Möglichkeiten, schauen Lehrkräfte und Eltern genauer hin. Schlechter werdende Schulleistungen auf Seiten des (nicht als besonders begabt erkannten) Mädchens werden demgegenüber eher mit fehlendem Talent erklärt.

Ganz so einfach ist es nicht. Fraglos aber gilt – Underachievement bei begabten Mädchen gibt es. Und wir werden sehen: Das anzuerkennen bedeutet, Underachievement nicht nur auf eine Differenz von Schulnoten zu IQ oder einen Mangel an Motivation und Lerntechniken zu reduzieren. Vielmehr gilt es auch, geschlechtsspezifische Umwelteinflüsse und deren Auswirkungen zu betrachten. Denn Underachievement bei Mädchen hat viele Gesichter.

Drei Faktoren beeinflussen die Leistungsorientierung

Nach dem Achievement Orientation Model (AOM) 1 hängt es von drei Faktoren ab, ob Schüler:innen ein hohes Engagement und gute schulische Leistungen zeigen: (1) dem Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und darin, mit diesen auch schwierige Anforderungen meistern zu können, (2) der individuellen Wahrnehmung der Attraktivität von Zielen bzw. der Sinnhaftigkeit von Anforderungen und (3) den Fähigkeitszuschreibungen und Leistungserwartungen durch die Umwelt. Was erfahren wir über begabte Mädchen, wenn wir diese Faktoren aus ihrer Perspektive betrachten?

Faktor 1 – Vertrauen Mädchen den eigenen Kompetenzen?

Was glauben begabte Mädchen, was sie können? Studien zeigen, dass begabte Mädchen häufig über Persönlichkeitsmerkmale verfügen, die sich ungünstig auf ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugung auswirken 234:

  • Begabte Mädchen erklären sich eigene schulische Erfolge häufiger mit Gründen, die außerhalb ihrer Person liegen, z. B. mit leichten Aufgaben oder Glück. Im Gegenzug neigen sie dazu, sich schlechte Leistungen mit fehlender Begabung zu erklären.
  • Das Selbstvertrauen von begabten Mädchen nimmt im Laufe der Schulzeit stetig ab. Insbesondere in Mathematik und den Naturwissenschaften zeigen Mädchen ein niedrigeres Selbstkonzept und geringere Erfolgserwartung. Bei begabten Mädchen ist diese Diskrepanz zu den Jungen sogar noch stärker ausgeprägt, unabhängig von den schulischen Noten.
  • Die Wahl von Hauptfächern in der Sekundarstufe ist bei begabten Mädchen stark vom Selbstkonzept abhängig – und weniger von den Noten oder gar ihrem Interesse.

Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Eltern wie Lehrpersonen sollten aufmerksam sein, wie Mädchen über ihre Begabungen und schulischen Leistungen denken. Es ist wichtig, dass sie ein realistisches, selbstbewusstes Bild von ihren Fähigkeiten entwickeln und erkennen, dass Erfolg und Misserfolg von Faktoren abhängen, die sie selbst durch ihr Tun beeinflussen können.

Faktor 2 – Welche Ziele sind für Mädchen attraktiv?

Wofür lohnt es sich eigentlich, sich anzustrengen? Und welchen Stellenwert haben herausragende Leistungen im Vergleich zu anderen Zielen? Begabte Mädchen beantworten diese Fragen für sich anders als Jungen 234:

  • Mädchen haben häufiger das Gefühl, sich zwischen Beliebtheit und Begabung entscheiden zu müssen. Dann spielen sie ihre Fähigkeiten absichtlich herunter oder verstecken sie bewusst. Im Jugendalter erfahren begabte Mädchen zudem in ihren Peergroups aufgrund stark abweichender Interessen zu wenig Austausch und Anregung in ihren Talentbereichen.
  • Mädchen empfinden wettbewerbsorientierte Strukturen weniger attraktiv als Jungen.
  • Peergroups von Mädchen sehen oft jegliche Form von Vergleich als negativ an. In der Folge vermeiden begabte Mädchen den direkten Vergleich, um anderen negative Gefühle zu ersparen.
  • Trotz mittlerweile zahlreicher Vorbilder von erfolgreichen Frauen in allen Bereichen wachsen Mädchen noch immer mehrheitlich mit der Erfahrung auf, dass Frauen die Hauptverantwortung für die Familie tragen und dass beruflicher Erfolg und Familie letztlich nur schwer vereinbar sind. In den Medien werden aufstrebende Frauen zudem häufig als karrieristisch und rücksichtlos dargestellt.

Bringen wir es auf den Punkt: „Nette Mädchen heben sich nicht ab!“ Dieser und ähnliche Glaubenssätze führen dazu, dass begabte Mädchen Entscheidungen treffen, die sich ungünstig auf ihre Leistung und ihre Talententfaltung auswirken. Womöglich geben sie sich mit durchschnittlichen Leistungen zufrieden – aus Angst, an Beliebtheit in der Peergroup einzubüßen. Vielleicht stellen sie auch demonstrativ Langeweile zur Schau oder nehmen bewusst in einigen Gebieten Underachievement in Kauf – als Ausgleich für sehr gute Leistungen in anderen Bereichen, nur um „normal“ zu wirken.

Um den Glaubenssatz zu verändern, können Begabungsförderprogramme hilfreich sein. Sie sollten in Auswahl und Durchführung nicht kompetitiv, sondern kooperativ angelegt sein. Hier können begabte Mädchen auf Gleichgesinnte treffen, ihren Freundeskreis erweitern und die Erfahrung machen, dass Talent nicht einsam machen muss. Mentoring-Programme, gerade auch von Frauen für Mädchen, tragen dazu bei, dass Mädchen sich mit Rollenvorbildern identifizieren können, die ihnen Mut und Antrieb für ihren eigenen Weg geben.

Faktor 3 – Was traut ihr mir eigentlich zu?

Wie werde ich von anderen wahrgenommen? Was erwarten sie von mir? Und was trauen sie mir zu? Externe Leistungserwartungen und Fähigkeitszuschreibungen beeinflussen, wie stark sich begabte Mädchen für ihre Talente engagieren 234:

  • Eltern identifizieren bei ihren Töchtern seltener spezifische Talente, trauen ihnen weniger zu und sind ihnen gegenüber behütender. Im Grundschulalter erhalten Mädchen mehr und schneller Hilfestellung bei Schwierigkeiten. Begabte Jungen werden viel eher ermuntert, Herausforderungen selbst zu meistern und sie bekommen dabei mehr Freiräume.
  • Die Leistungserwartungen von Eltern und Lehrpersonen liegen bei begabten Mädchen häufiger unter denen von Jungen. Bestimmte Anforderungen werden einfach als weniger wichtig für die spätere Laufbahn von Mädchen erachtet (z. B. im Mint-Bereich). Das führt dazu, dass auch das eigene Anspruchsniveau von begabten Mädchen niedriger ausfällt, obwohl sie im Vergleich zu den begabten Jungen weniger Desinteresse an schulischen Belangen zeigen.
  • Mädchen erfahren in ihren Familien auch heute noch insgesamt weniger Unterstützung hinsichtlich ambitionierter Bildungs- und Karriereziele als Jungen. Das gilt umso mehr, wenn die Familien traditionelle Rollenmuster leben und es an zeitlichen und monetären Ressourcen fehlt.

Mädchen verinnerlichen diese niedrigeren Erwartungen. In der Schulzeit wirkt sich das auf die Wahl bei Leistungskursen oder schulinternen wie außerschulischen Förderprogrammen aus, später auf die angestrebten Abschlüsse. So bleiben Mädchen und Frauen trotz einiger Fortschritte in bestimmten Domänen unterrepräsentiert. Hier zeigt sich Underachievement nicht als Leistungsdefizit, sondern als ausbleibende Potenzialentfaltung.

Damit sich begabte Mädchen ambitioniertere Ziele setzen, ist es wichtig, dass sie ihre Talente aktiv erkunden können und in diesen gefordert werden. Wir müssen sie in ihrer Unabhängigkeit fördern und ermuntern, Freude und Stolz über besondere Leistungen zu erleben, damit sie Zutrauen in sich und ihre Fähigkeiten entwickeln.

Es lohnt sich also, näher hinzusehen. Wo können Mädchen mehr als sie sich selbst zutrauen? Und trauen wir ihnen ausreichend zu?