Underachievement-Blog

Allgemein

Der Frust der Unterforderung und die Rolle der Exekutiven Funktionen

Der Frust der Unterforderung und die Rolle der Exekutiven Funktionen

War der Unterricht im letzten Jahr stellenweise langweilig und repetitiv, ist er heute durchgängig lahm und uninteressant. Es wird immer schwerer, aufmerksam zu folgen, alles rauscht an einem vorbei. Die Motivation hinkt, der sonst so aufnahmefähige Schwamm saugt kaum noch. Die Wissenslücken wachsen, genau wie der Druck, diese wieder zu schließen.

Juli 2022

Von: Wiebke Evers


Underachievement entsteht meist nicht von heute auf morgen. Anhaltende Unterforderung kann zu seiner Entstehung beitragen. Doch welche Kompetenzen brauchen Schüler:innen eigentlich, um wieder auf Kurs zu kommen?

Sich motivieren und regulieren: Die Rolle der Exekutiven Funktionen

Um die Lücken anzugehen, brauchen Underachiever:innen Fähigkeiten, die ihnen helfen, sich zu motivieren und ihren Lernprozess bewusst zu planen und zu steuern. Dabei müssen sie wahrscheinlich zum Teil starken Frust und Langeweile regulieren und überwinden. Hier kommen die Exekutiven Funktionen ins Spiel!

Als Exekutive Funktionen werden höhere Denkfunktionen bezeichnet, die uns Menschen dazu befähigen, Informationen zu verarbeiten, zu planen, unsere Aufmerksamkeit zu lenken, Problemen kreativ zu begegnen und sich flexibel auf neue Situationen und wechselnde Anforderungen einzustellen 1. Sie sind auch wichtig, um unsere Emotionen zu regulieren, also Frust auszuhalten, um bei Hindernissen nicht gleich das Handtuch zu werfen. Die Exekutiven Funktionen stellen damit sowas wie einen Werkzeugkoffer mit wichtigen Kompetenzen dar, die für den Erfolg in der Schule, aber auch darüber hinaus wichtig sind. Die folgenden drei werden in der Forschung oft als die wichtigsten Kernfunktionen herausgestellt:

  • Das Arbeitsgedächtnis befähigt uns, Informationen über kurze Zeiträume hinweg zu behalten und zu verarbeiten und ist damit besonders wichtig für Planen und Problemlösen.
  • Die Inhibition ermöglicht es uns, Impulse zu kontrollieren und Prioritäten zu setzen sowie unsere Aufmerksamkeit willentlich zu lenken.
  • Mit Hilfe der Kognitiven Flexibilität können wir uns auf unterschiedliche Situationen einstellen, flexibel auf neue Anforderungen reagieren und unsere Aufmerksamkeit verlagern.

Gelegenheit zum Lernen und Luft zum Wachsen

Wie die meisten Fähigkeiten entwickeln sich auch die Exekutiven Funktionen stark in Wechselwirkung mit der Umwelt 2. Die Chancen, die diese bietet, um die Exekutiven Funktionen einzusetzen, sind dabei genauso wichtig wie die Anleitung und Begleitung, die wir dabei erfahren. Hochbegabte Schüler:innen, die in der Grundschule mühelos Einsen erzielten, waren kaum darin herausgefordert, ihre Exekutiven Funktionen anzuwenden und damit zu entwickeln. Es ist daher also nicht allzu verwunderlich, dass die Exekutiven Funktionen bei Hochbegabten oft nicht besser ausgebildet sind als bei normalbegabten Kindern und Jugendlichen. Jugendliche mit sehr guten Noten unterscheiden sich stark in ihrem IQ, aber kaum in ihren Exekutiven Funktionen 3. Das zeigt, dass die Exekutiven Funktionen viel dazu beitragen, was man aus seinem kognitiven Potenzial, also seinem IQ, rausholt.

Dafür braucht es aber Gelegenheiten! Denn um die Exekutiven Kompetenzen zu verbessern, müssen diese kontinuierlich herausgefordert werden. Angemessene Herausforderungen geben uns die Möglichkeit, unsere Kompetenzen zu erweitern. Sie motivieren uns, uns zu strecken, zu wachsen und uns höhere Ziele zu stecken.

Der Glaube an sich selbst

Durch Unterforderung leiden nicht nur die Kompetenzen selbst, sondern auch das Selbstbewusstsein und der Glaube an sich selbst. Wer sich nicht herausgefordert fühlt, kann auch Erfolge nicht für sich verbuchen und Stolz dafür empfinden. Daher ist es oft der erste Schritt, Underachiever:innen wieder den Glauben an die eigenen Fähigkeiten zu vermitteln. Hier kann es helfen, Beispiele aus dem Freizeitbereich heranzuziehen. Aktivitäten wie Sport, Theater und Tanz sind nachgewiesenermaßen großartige Booster für die Exekutiven Funktionen 4. Allein den Schüler:innen bewusst zu machen, wie erfolgreich sie außerhalb der Schule in Aktivitäten, die ihnen Spaß machen, die Exekutiven Funktionen anwenden, kann ihnen helfen, ihre Kompetenzen zu erkennen und Wege zu sehen, wie sie diese vielleicht auch auf die schulischen Herausforderungen anwenden können.

Strategien zur Organisation und Motivation

Die Einsicht, dass es ganz normal ist, wenn man über seinen Lernprozess aktiv nachdenken muss und es auch mal anstrengend ist, ist für besonders begabte Schüler:innen sehr wichtig. Die Möglichkeit, für sich zu erfahren, was ein wenig Planung und eine kurze Reflexion ausmachen können, um schneller und besser ans eigene Ziel zu kommen, ist dabei zentral. Die Sicherheit, verschiedene Strategien auf Abruf zu haben, kann ebenfalls helfen, dass man sich nicht so schnell überwältigt fühlt und als Konsequenz gar nichts mehr tut. Auch der Umgang mit Langeweile und Unterforderung will gelernt sein. Um Aufgaben und Anforderungen, die einem nicht besonders attraktiv erscheinen, zu erledigen, benötigen gut entwickelte Exekutive Funktionen. Sich selbst ein herausforderndes Zeitlimit zu setzen, den Weg den geringsten inneren Widerstandes ausfindig zu machen oder auch eine Perspektive zu finden, die der Aufgabe Attraktivität verleiht, können mögliche Ansätze für hochbegabte Schüler:innen sein, um die nötige Motivation aufzubringen.

Stress als Staatsfeind Nr. 1

Die Exekutiven Funktionen reagieren sehr stark auf Stress. Aufregung, Druck und Angst führen dazu, dass die Exekutiven Funktionen nur eingeschränkt funktionieren 5. Der Bereich hinter der Stirn, wo die Exekutiven Funktionen verortet sind (Präfrontaler Cortex), zeigt dann weniger Aktivität. Was ist die Konsequenz? Statt flexibel und kreativ zu denken, fallen wir auf Automatismen und Muster zurück. Und diese reichen häufig nicht, um die täglichen Herausforderungen zu meistern.

Die Exekutiven Funktionen erkennen

Anhand von Fragebögen und Checklisten können die Exekutiven Funktionen eingeschätzt werden. Für manche Instrumente gibt es Normwerte zur Einordnung, bei anderen geht es eher um den individuellen Vergleich der einzelnen Funktionen zur Identifikation von persönlichen Stärken und Schwächen. Darüber hinaus können Fragebögen helfen, den Blick für die Exekutiven Funktionen im Alltag zu schärfen. Die einzelnen Items einer Skala geben dabei gute Hinweise darauf, wie Planungsvermögen, Merkfähigkeit und Impulskontrolle eigentlich im täglichen Leben aussehen. Die beiden Checklisten „CHEXI“ (Childhood Executive Functions Inventory) und „TEXI“ (Teenage Executive Functions Inventory) für Eltern und Lehrkräfte sind frei verfügbar und können hier in verschiedenen Sprachen eingesehen und runtergeladen werden: chexi.se

Exekutive Funktionen als ein Ansatzpunkt unter vielen

Die Exekutiven Funktionen hängen eng mit den akademischen Leistungen und dem Lernerfolg zusammen und sind sicherlich von großer Bedeutung, wenn es darum geht, das geistige Potenzial auch auszuschöpfen 6. Das soll aber nicht heißen, dass Underachiever:innen hier ganz automatisch Defizite haben und es so an ihnen ist, diese und damit ihr Underachievement zu überwinden. Underachievement ist in den meisten Fällen multifaktoriell bedingt und es lohnt sich in manchen Fällen sicherlich, die Exekutiven Funktionen einmal genauer in den Blick zu nehmen. In anderen liegen die Ursachen ganz woanders – und vielleicht nicht mal auf Seiten der minderleistenden Schüler:innen. Die Begleitung von minderleistenden Kindern und Jugendlichen erfordert damit sicher auch von uns als Eltern oder Fachkräften den Einsatz unserer Exekutiven Funktionen – vor allem, um sensibel, verständnisvoll und stärkenorientiert im Sinne des Kindes da sein und agieren zu können!

Haben Sie schon von den Exekutiven Funktionen gehört? Wie schätzen Sie Ihre eigenen Exekutiven Funktionen ein? Und was glauben Sie, wie Sie die Exekutiven Funktionen von Underachiever:innen erfolgreich stärken können?