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Beratung für Underachiever:innen – Ansatzpunkte für einen gelungenen Einstieg

Beratung für Underachiever:innen – Ansatzpunkte für einen gelungenen Einstieg

Underachiever:innen und ihre Familien suchen häufig erst nach langer Zeit professionelle psychologische Hilfe. Mit welchen Fragen wenden sie sich an Beratungseinrichtungen? Und wo können Fachkräften angesichts komplexer Schwierigkeiten und hohem Leidensdruck in einer Beratung ansetzen?

September 2022

Von: Nicole von der Linden


Warum kommen Familien von Underachiever:innen zu einer Beratung?

Oft vergehen Jahre bis sich Familien zum Thema Underachievement professionelle Hilfe holen. In den meisten Fällen initiieren Eltern eine Beratung. Seltener werden auch ältere Schüler:innen eingeständig aktiv, manchmal stellen auch Lehrkräfte den Kontakt zu einer Beratungsstelle her.

Häufiger Anlass für eine Kontaktaufnahme ist ein deutlicher Motivationsverlust in der Schule, sichtbar durch mangelnde Beteiligung am Unterricht, unerledigte Hausaufgaben und schlechte Noten.

Daneben berichten Familien oft von fehlenden schulischen und beruflichen Zielen, mangelnden Lernstrategien und hoher Frustration der betroffenen Schüler:innen. In vielen Fällen gibt es familiäre Konflikte beim Thema Schule und Leistung. Manchmal kommen auch psychische Auffälligkeiten wie Depressionen oder ADHS hinzu. Diese können die Entstehung von Lernschwierigkeiten begünstigen oder Folge von Underachievement sein.

Hohe Belastung – komplexe Fragestellungen

Ratsuchende Eltern und Kinder fühlen sich häufig sehr belastet. Die mitgebrachten Fragestellungen sind komplex, bei Underachievement kommen mehrere ursächliche und aufrechterhaltende Faktoren zusammen. Diese können sowohl individuell beim Kind, als auch im familiären oder im schulischen Umfeld liegen 1. So könnte eine Schülerin zum Beispiel unter Prüfungsangst leiden, sich in sprachlichen Fächern unterfordert fühlen und die Eltern sehr hohe Leistungsanforderungen haben.

Die erlebten Belastungen fallen von Familie zu Familie unterschiedlich aus. Dies stellt Fachkräfte nicht selten vor die Frage, wie sie bei einer Beratung vorgehen sollen.

Wie kann man eine Beratung bei Underachievement beginnen? Wo ansetzen?

Die Entwicklung von Underachievement wird durch mehrere Faktoren verursacht, häufig ist unklar, was Ursache und Folge des Underachievements ist. Zu Beginn einer Beratung ist es daher wichtig, sich einen Überblick über die Schwierigkeiten, Stärken und bisherigen Lösungsversuche der jeweiligen Klienten zu verschaffen.

Hier können Begabungs- und Intelligenzmodelle hilfreich sein, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung von Begabung in Leistung, also zum Beispiel gute Noten, veranschaulichen. Unserer Erfahrung nach lässt sich in der Beratung gut mit dem Münchner Modell von Heller und Kollegen 2, dem TAD framework von Preckel et al. 3 oder dem Achievement-Orientation-Modell von Siegle und McCoach 4 arbeiten.

Anhand der graphischen Darstellungen relevanter Einflussfaktoren in den Modellen können Klienten ihre eigene Situation sortieren. Dabei lassen sich konkrete Schwierigkeiten sowie Ansatzpunkte für Veränderungen identifizieren. Beispielsweise zeigt sich auf diese Weise bei einer Schülerin, dass sie kaum geeignete Lernstrategien beherrscht, die schulischen Inhalte in den Naturwissenschaften als sinnlos empfindet und gute Schüler:innen in ihrer Peergruppe ausgegrenzt werden. So kann bei Eltern und Lehrkräften auch Verständnis entstehen, dass Underachievement nicht einfach durch ein bisschen mehr Anstrengung verschwindet.

Was ist für Berater:innen wichtig?

Haben Sie ein offenes Ohr! Häufig berichten Underachiever:innen und ihre Eltern, mit ihren Sorgen nicht ernst genommen zu werden. Sie begegnen an vielen Stellen dem Vorurteil, dass Hochbegabte keine Unterstützung in der Schule benötigen. Deshalb ist es besonders wichtig, diesen Familien zu Beginn einer Beratung empathisch zu zuhören und sich Zeit zu nehmen.

Richten Sie den Blick auch auf das Positive! Underachiever:innen und ihre Familien haben häufig einen hohen Leidensdruck, Stärken und gut funktionierende Lebensbereiche geraten leicht aus dem Fokus. Sammeln Sie mit Ihren Klienten vorhandene Ressourcen, erfolgreiche Lösungsansätze (egal ob klein oder groß) und Bereiche, die gut laufen. Dies erhöht die Zuversicht Ihrer Klienten und schafft Hoffnung, dass Veränderungen möglich sind.

Bringen Sie Eltern, Schüler:innen und Lehrkräfte miteinander ins Gespräch! Erfolgreiche Lösungen bei Underachievement erfordern in der Regel die Zusammenarbeit von Schüler:innen, Eltern und Schule. Beziehen Sie alle Parteien mit in die Beratung ein. Dies schafft Verständnis für die Situation der Underachiever:innen und ermöglicht gemeinsam über mögliche Veränderungen nachzudenken.

Veränderungen brauchen Zeit! Underachievement entwickelt sich oft über Jahre. Trotzdem haben Familien häufig die unrealistische Erwartung, schnelle Veränderungen erzielen zu wollen, da das kognitive Potential ja vorhanden ist. Schaffen Sie Verständnis dafür, dass Arbeit mit Underachiever:innen Geduld braucht, und ermutigen Sie Ihre Klienten, am Ball zu bleiben. Seien Sie offen und kreativ! Ursachen und Schwierigkeiten sind von Fall zu Fall verschieden, spezialisierte Angebote für Underachiever:innen existieren in vielen Gegenden nicht. Schauen Sie, welche Lösungen im konkreten Fall möglich sind, und wer längerfristig unterstützen kann. Dies könnte zum Beispiel die Studentin von nebenan als Coach für Lernstrategien, ein Frühstudium als Motivationsschub oder eine Erziehungsberatungsstelle bei unterschiedlichen Leistungserwartungen von Eltern und Kindern sein.