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Es ist viel zu tun: Fünf Handlungsfelder zur Prävention von Underachievement

Es ist viel zu tun: Fünf Handlungsfelder zur Prävention von Underachievement

Underachievement ist ein Teufelskreis, in dem viele Faktoren und Personen zusammenwirken. Um eine Ausstiegsmöglichkeit aus dem Kreislauf zu finden, kann jede:r – ob Elternteil, Lehrperson, Berater:in oder Ausbilder:in – einen Beitrag leisten. Doch was genau ist zu tun, damit Underachievement besser erkannt und behoben wird? Wir machen fünf Vorschläge.

November 2022

Von: Karen Johannmeyer und Sabine Breyel


Underachievement vorbeugen: Was muss sich im Bildungssystem ändern?

In der Arbeitsgruppe Underachievement, in der die Karg-Stiftung sich mit Expert:innen zum Thema intensiv austauscht, überlegen wir, was sich im Bildungssystem ändern müsste, damit alle Kinder und Jugendlichen ihre Begabungen entfalten können und Underachievement vermieden wird. Die Kernfrage lautet: Was kann jede:r selbst in seiner bzw. ihrer Rolle tun – als Berater:in, als Schulpsycholog:in, als Lehrer:in, als Wissenschaftler:in – und wo können wir als Karg-Stiftung ansetzen? Gemeinsam haben wir zahlreiche Ideen gesammelt, die sich in fünf Handlungsfeldern zusammenfassen lassen.

1. Die Vielfalt von Underachievement aufzeigen

Hochbegabte Kinder und Jugendliche werden oft als eine homogene Gruppe dargestellt. Das sind sie aber nicht und so kann es schnell geschehen, dass viele ihrer Begabungen verborgen bleiben. Gerade Kinder mit Migrationshintergrund oder geringem sozioökonomischen Status werden in vielen Fällen unterschätzt, sodass eine durch Minderleistung maskierte Hochbegabung nicht erkannt wird. Das trifft besonders häufig auch auf Mädchen zu, da geschlechtsspezifische gesellschaftliche Erwartungen über die Rolle, die Persönlichkeit und die Leistung von Mädchen einer angemessenen Potenzialentfaltung oft im Wege stehen. Auch hohe kognitive Potenziale von Kindern mit besonderen Lernausgangslagen, wie Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Dyskalkulie, können schnell übersehen werden.

Es zeigt sich also ein deutlicher Handlungsbedarf: Fachkräfte sollten umfassend über Underachievement, seine Wirkmechanismen, unterschiedlichen Erscheinungsformen und seine möglichen Folgen informiert sein. Auf dieser Grundlage kann ein sinnstiftender kollegialer Austausch darüber stattfinden, wie sich Underachievement im jeweiligen konkreten Fall äußert. In Kontakt mit der Öffentlichkeit und den Medien brauchen wir anschauliche und ausdifferenzierte Beispiele für das Phänomen Underachievement, wenn eine höhere Sensibilität und Wachsamkeit für das Thema befördert werden sollen. Auch Austauschformate für Familien (z. B. Eltern-Cafés) können helfen, damit Underachievement frühzeitig erkannt, bestenfalls sogar verhindert wird.

2. Eine begabungsförderliche pädagogische Grundhaltung fördern

Underachiever:innen werden im schulischen Kontext häufig als „Störenfriede“ wahrgenommen und das Underachievement folglich als Problem identifiziert, dass es zu lösen gilt. Die Ursachen werden dabei meist bei den Schüler:innen gesucht: Fehlen die richtigen Lernstrategien? Liegt es an der Motivation? Oder gibt es Schwierigkeiten bei der emotionalen Regulation? Sicherlich hat dies seine Berechtigung in der Bewältigung der komplexen Fragen bei Underachievement. Es greift aber zu kurz, denn dadurch verfestigt sich die Sichtweise, allein das Kind sei bzw. habe das Problem. Dabei spielen an der Entstehung meist mehrere Faktoren, die auch im sozialen Umfeld zu finden sind, eine Rolle.

Mit einer offenen, ressourcenorientierten Grundhaltung und einem systemischen Blick, der auch die jeweiligen sozialen Einflussfaktoren einbezieht, können Handlungsmöglichkeiten gefunden werden, die nicht ausschließlich auf eine Verhaltensänderung beim Kind abzielen. Gibt es Situationen, in denen das Kind – vielleicht auch außerhalb der Schule – Freude am Lernen zeigt? Welche Bedingungen unterstützen diese Lernfreude und wie könnte man sie auch in anderen Kontexten herstellen? Gelingt der Perspektivwechsel nicht alleine, kann es hilfreich sein, Kolleg:innen zu Rate zu ziehen, oder eine professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen.

3. Lehrpersonen aus- und weiterbilden

Das im universitären Lehramtsstudium vermittelte Wissen reicht oft nicht aus, um Begabungen zu erkennen, oder um Risikofaktoren für Underachievement festzustellen 1. Auch wenn in den Lehrerbildungsgesetzen der Umgang mit Vielfalt zunehmend berücksichtigt wird, ist das Thema der Begabungs- und Begabtenförderung wenig präsent. Wichtige Impulse können von der Bund-Länder-Initiative Leistung macht Schule erhofft werden, wenn diese in die Transferphase startet. Da der Schwerpunkt hier aber vordergründig auf erfolgreich erbrachten schulischen Leistungen liegt, ist ein zusätzlicher, spezifischer Blick auf die Diskrepanz zwischen vorhandenem Potenzial und real erbrachter Leistung, wie sie beim Underachievement vorliegt, nötig.

Das Themenfeld Hochbegabung, darunter Underachievement als eine besondere Herausforderung, die sich Hochbegabten stellen kann, ist bisher in der Fort- und Weiterbildung nicht flächendeckend strukturell verankert und leider oft in erster Linie vom individuellen Engagement einzelner Lehrpersonen abhängig. Die Möglichkeit, selbstständig (zumeist kostenpflichtige) universitäre Zertifikate zu erlangen, ist wesentlich für die Qualifizierung in diesem Bereich, sollte jedoch durch weitere frei zugängliche und kostenlose Angebote ergänzt werden. Hierbei sind neben Universitäten und Hochschulen auch die jeweiligen Landesinstitute und die Schulpsychologie gefragt. Eine curriculare Verankerung in allen Phasen der Lehrerbildung ist wünschenswert.

4. Professionelle Diagnostik & Beratung anbieten

Um Underachievement frühzeitig zu erkennen und Kinder sowie deren Familien angemessen zu unterstützen, erscheinen präventive Ansätze besonders sinnvoll: Hochbegabungsdiagnostik sollte immer auch mögliche Risikofaktoren für Underachievement im Blick haben, wie zum Beispiel Schwierigkeiten bei der Entwicklung von (geeigneten) Lernstrategien, den Umgang mit Ängsten oder ungünstige Attributionen von Erfolg und Misserfolg. Diagnostische Angebote und Beratungskonzepte speziell zum Thema Underachievement sind bisher noch selten oder nur lokal bekannt. Sie sollten dringend ausgebaut werden. Der Austausch zwischen Expert:innen auf regionaler, längerfristig landesweiter oder sogar länderübergreifender Ebene sollte gefördert werden, um nachhaltige professionelle Netzwerke zur Prävention von Underachievement aufzubauen.

5. Die Schule als ein Ort des Lernens, nicht der Wissensvermittlung, verstehen

Dass Schulunterricht sich maßgeblich am Curriculum orientiert, hat seine Gründe und Berechtigung. Es fördert aber nicht immer das Lernen der Schüler:innen – insbesondere von denen mit besonderen Begabungen. Der Schul- und Lernfrust von Underachiever:innen kann mitunter schon sehr früh beginnen. Werden besonders begabte Kinder zum Beispiel bereits in der Kita ausgebremst, bauen sich häufig Hoffnungen auf, mit dem Schuleintritt endlich mehr gefordert zu werden. Wenn dann aber die Ressourcen und Ausstattung für angemessene Lernmöglichkeiten in der Grundschule fehlen, kann die Enttäuschung schnell in die weitere Schullaufbahn hineingetragen werden 2.

Wie wäre es also, wenn in den Schulen das Lernen in den Mittelpunkt gestellt werden könnte, anstatt die Vermittlung von Inhalten? Um dies zu erreichen, müssen Freiheiten im bestehenden Schulsystem erkannt und Spielräume genutzt werden. Gerade im Bereich der schulinternen Curricula können alternative Lerngelegenheiten und Projektarbeiten entlang der Interessen der Schüler:innen geschaffen werden 3. In der Begabtenförderung kann dies beispielsweise über „Curriculum Compacting“ gelingen 4. Damit sind Techniken gemeint, die es Lehrpersonen erlauben im Regelunterricht Aufgabenstellungen und Inhalte so anzupassen oder zu erweitern, dass auch besonders begabte Schüler:innen angemessen gefördert werden.

Es zeigt sich: Es gibt viel zu tun! Der interdisziplinäre Austausch in der Arbeitsgruppe zeigt auf, wo dringender Handlungsbedarf besteht und was mögliche Schritte in die richtige Richtung sind.

  • Wie kommen Sie in Ihrem beruflichen Handeln mit Underachievement in Kontakt?
  • Was können Sie selbst tun, um den Herausforderungen im System zu begegnen?
  • Mit wem können Sie sich über mögliche Lösungen austauschen?