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Schule

Ausgewählte Begabungsmodelle im Vergleich

Begabungsentwicklung ist ein hoch komplexer Prozess, in dem viele verschiedene Einflussgrößen, die sich auch wechselseitig bedingen, eine Rolle spielen. Begabungsmodelle dienen dazu, diese Dynamik mit ihren verschiedenen beteiligten Einflussfaktoren zu erklären und zu veranschaulichen. Sie versuchen, diesen komplexen Prozess durch die Visualisierung und die Konzentration auf einzelne Aspekte für die Leserschaft zu vereinfachen. Es gibt mittlerweile viele verschiedene Modelle, bei denen es sich in der Regel um mehrdimensionale und multiperspektivische Modelle handelt.

Von: Carolin Kiso


Fokus auf drei Modelle

In diesem Artikel werden drei gängige, verschiedenen Disziplinen zugehörige und aus unterschiedlichen Jahrzehnten stammende Begabungsmodelle vergleichend gegenübergestellt: Das Drei-Ringe-Modell von Renzulli, das Münchner (Hoch)begabungsmodell von Heller und seinem Team und das Modell individualisierter Hochbegabung von Trautmann.

Bild: iStock/Imgorthand

Hinführung und historische Einbettung

In den psychologisch dominierten Anfängen der Begabungsforschung wurde Begabung meist als statische, vererbbare Größe angesehen 1. Es herrschte die Auffassung, dass man eine Hochbegabung durch (oder auch: qua) Vererbung besitzt – oder eben nicht. So führte beispielsweise Galton eine Stammbaumanalyse durch und deutete aus einer sozialdarwinistischen Forschungsauffassung heraus, dass Begabungen von Generation zu Generation vererbt werden 2. Er führte interindividuell unterschiedliche Begabungen somit allein auf genetisches Erbgut zurück. Aus dieser Denktradition heraus wurde Begabungsforschung und Begabungsförderung teilweise auch für nationalsozialistisches Gedankengut missbraucht.

Im Gegensatz zu dieser Denktradition stehen mehrdimensionale Begabungsmodelle. Sie legen den Fokus darauf, dass Begabung keine statische Größe ist, sondern einer dynamischen Entwicklung unterliegt, die sich aus dem Zusammenspiel von Erbgut und den jeweiligen bestehenden Umweltbedingungen ergibt. Begabungen entwickeln sich somit im Laufe des Lebens in Abhängigkeit von vielen verschiedenen intra- und extrapersonellen Faktoren. Im Folgenden werden drei mehrdimensionale Begabungsmodelle exemplarisch vorgestellt. Die Auswahl fällt auf diese Modelle, da sie in ihrer Gesamtschau ein umfassendes Bild der in dieser Tradition bestehenden Argumentationslinien abbilden.

Das Drei-Ringe-Modell von Renzulli

Abb. 1 nach Renzulli: Das Drei-Ringe-Modell 3

Eines der ersten und grundlegenden mehrdimensionalen Modelle ist das Drei-Ringe-Modell, entwickelt von dem amerikanischen pädagogischen Psychologen Joseph Renzulli in den späten 1970er Jahren. Es besagt, dass drei Faktoren ausschlaggebend für Hochleistung (Giftedness) sind: Überdurchschnittliche Fähigkeit (Above-Average Ability), Kreativität (Creativity) und Engagement (Task Commitment).

Bei dem Modell handelt es sich streng genommen nicht um ein Begabungsmodell, denn das Modell zielt ausdrücklich auf Hochleistung im Unterschied zu Hochbegabung und bezeichnet damit nichts Gegebenes, sondern ist vielmehr situations- und zeitabhängig 4. Das Drei-Ringe-Modell zeigt somit eine Momentaufnahme und veranschaulicht die Dynamik von Begabung bzw. Hochleistung. Als Begründung für die Dynamik von Leistung führt Renzulli an, dass es kein einziges Kriterium gibt, womit eine spätere Hochleistung vorausgesagt werden kann. Besteht eine Interaktion zwischen einer überdurchschnittlichen Fähigkeit, Engagement und Kreativität entsteht eine „kreativ-produktive Hochleistung“ 3, so die Aussage des Modells. Diese Interaktion wird in Renzullis Modell als Schnittmenge der drei Ringe ausgedrückt (vgl. Abb. 1). Um die drei Ringe ordnet Renzulli ein Hahnentrittmuster an, das die Abhängigkeit von Hochleistung von der Umwelt symbolisieren soll. Es fließen folglich die Überlegungen mit ein, dass neben den hauptverantwortlichen Komponenten nämlich ein Zusammenspiel zwischen überdurchschnittlichen Fähigkeiten, Engagement und Kreativität – auch der soziokulturelle Hintergrund entscheidend zum Erbringen hoher Leistungen beiträgt.

Das Münchner Hochbegabungsmodell von Heller und seinem Team

Abb. 2: Das Münchner (Hoch)begabungsmodell 5

Ein weiteres für die Begabungsforschung wichtiges und häufig zitiertes Begabungsmodell ist das Münchner Hochbegabungsmodell. Es wurde im Zuge der Münchner Hochbegabungsstudie unter der Leitung von Kurt Heller entwickelt und visualisiert die Entwicklung von Begabung in sichtbare Leistung unter Einbezug der hierauf einwirkenden Moderatoren. Die auf der linken Seite im Modell angelegten Begabungsfaktoren bezeichnen laut Heller Fähigkeitspotenziale, die ein Mensch in sich trägt. An dem Begriff „Potenzial“ wird deutlich, dass Begabungen nicht mit der erbrachten Leistung gleichzusetzen sind. Als Begabungsfaktoren werden im Modell eine Vielzahl an Fähigkeiten genannt. Neben intellektuellen Fähigkeiten spielen noch weitere Faktoren eine Rolle (kreative Fähigkeiten, soziale Kompetenzen, Musikalität …) (vgl. Abb. 2). Intellektuelle Fähigkeiten sind demnach ein wichtiger, aber nicht alleiniger Faktor von Begabung 6. Diese Begabungsfaktoren können in Leistungsbereiche (Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften ...) überführt werden (vgl. Abb. 2). Begabung wird im Münchner Hochbegabungsmodell folglich als dynamischer Prozess sichtbar. Beeinflusst wird dieser Prozess der Begabungsentfaltung zum einen durch nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale (wie z. B. Stressbewältigung, Arbeitsverhalten, Kausalattribution) – in der oberen Leiste im Modell angeordnet – und zum anderen durch Umweltfaktoren (wie die familiäre Lernumwelt, das Familienklima, die Instruktionsqualität) – im Modell in der unteren Leiste abgebildet.

Das Modell individualisierter Hochbegabung von Trautmann

Abb. 3 nach Trautmann: Das Modell individualisierter Hochbegabung 6

Das Modell individualisierter Hochbegabung von Trautmann 4 visualisiert die Wandelbarkeit und die intersektionale Verschränkung von Begabung mit anderen Persönlichkeits- und Umweltdeterminanten. Wie der Name bereits verdeutlicht, steht die Person als Individuum im Mittelpunkt des Modells. Das Modell wird in der Fachliteratur und Praxis häufig auch Mikadomodell genannt, da es sich in seiner Visualisierung auf das Mikadospiel stützt. Die von Person zu Person variierenden Begabungsfaktoren sind in dem Modell als Mikadostäbe dargestellt, die in Größe und Lage variieren können. Bei dem Mikadospiel werden alle Mikadostäbe zusammen von Hand gegriffen und dann durch das Öffnen der Hand fallen gelassen. Die Stäbe liegen dann kreuz und quer, über- und untereinander. Manche Stäbe verdecken andere. Ähnlich verhält es sich laut Trautmann mit den Begabungsfaktoren: Wie bei den Mikadostäben liegen einige Begabungsfaktoren frei, andere wiederum können verborgen liegen und somit nicht zum Tragen kommen. Dieser Zustand ist jedoch nicht zwingend von Dauer, sondern hoch wandelbar: Angeordnet sind die Begabungsfaktoren (alias Mikadostäbe) auf einer Decke, bestehend aus den vier Lebenswelten Familie, Peers, Institutionen und Medien, die ebenfalls Einfluss auf die Entfaltung und das Freilegen von Potenzialen nehmen können. Bildlich stellt Trautmann dies durch ein Ziehen und Rütteln an den Enden der Decke dar, welches die Stäbe neu anordnen lässt 7. Das Modell individualisierter Hochbegabung zeigt, dass es nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer Moderatoren geht, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen.

Vergleichende Darstellung der drei Modelle und Fazit

Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten die drei Begabungsmodelle im Einzelnen vorgestellt wurden, sollen diese nachfolgend in einer Gesamtübersicht nochmals hinsichtlich ihrer jeweiligen Kernaussage(n) tabellarisch komprimiert werden. Wie jede schematische Darstellung verkürzt auch diese die Gesamtsicht auf das jeweilige zumeist über Jahre hinweg entwickelten Modell – sie schafft jedoch Vergleichsmöglichkeiten, um die unterschiedlichen, teils jedoch auch sich überschneidenden Argumentationslinien, die sich auch in vielen anderen mehrdimensionalen Begabungsmodellen wiederfinden, hervorzuheben.

Modell

Drei-Ringe-Modell






Münchner Hochbegabungsmodell






Modell individualisierter Hochbegabung
Entwickler/Disziplin/Jahr

Joseph Renzulli.
Pädagogische Psychologie. 1978.





Kurt A. Heller und sein Team. Pädagogische Psychologie. 1968.





Thomas Trautmann. Schulpädagogik. 2003.
Kernaussage

Hochleistung entsteht aus einem Zusammenspiel von überdurchschnittlicher Fähigkeit, Kreativität und Engagement. Auch die Umwelt nimmt Einfluss auf das Entstehen von Leistung.

Begabungsentwicklung wird als Interaktion personaler Anlagefaktoren und externer Sozialisationsfaktoren visualisiert. Begabung ist nicht mit Leistung gleichzusetzten.

Das Individuum mit seiner individuellen Anlage, Entwicklung, Umwelt usw. steht im Mittelpunkt des Modells. Ob Begabungen freiliegen oder verdeckt sind, liegt an dem hoch komplexen Zusammenspiel dieses interpersonell variierenden Gefüges.

Allen drei Modellen gemeinsam ist, dass sie die Entwicklung und Dynamik von Begabung bzw. Hochleistung visualisieren – entgegen der in den frühen Anfängen der Begabungsforschung weitverbreiteten Auffassung, Begabungen seien genetisch bedingt. Sie verdeutlichen anschaulich, dass Begabungsentwicklung ein hoch komplexes Gefüge ist, das unter anderem auch von Umweltmerkmalen abhängig ist.