Underachievement-Blog

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Underachievement: Eine unendliche Geschichte des Missverstanden-Werdens

Underachievement: Eine unendliche Geschichte des Missverstanden-Werdens

Was hat ein Kinderbuch mit Underachievement zu tun? Unsere Redaktion lässt die Blogbeiträge des Jahres Revue passieren und schlägt eine Brücke zu einigen literarischen Kategorien, die es erlauben, das Thema einmal von einer ungewohnten Seite zu betrachten – eine Einladung für einen Blick über den Tellerrand.

Dezember 2022

Von: Reingard Lipp


Blog Underachievement – ein Jahresrückblick aus der Redaktion

Der ein oder die andere kennt sicher Michael Endes Romanfigur Bastian Bux. In der Schule ausgegrenzt sucht er Zuflucht im Antiquariat des Karl Konrad Koreander, bei welchem er das Buch „Die unendliche Geschichte“ 1 entdeckt. Fasziniert davon, eine Geschichte gefunden zu haben, die nie endet, beginnt der Bücherwurm zu lesen … und wird bald selbst zu ihrem Protagonisten.

Sie mögen jetzt fragen, was um alles in der Welt ein Kinderbuch mit Underachievement zu tun haben soll. Führt man sich vor Augen, dass eine Reihe von Mythen um dieses Phänomen existiert, so liegt es nahe, dass dem Underachievement eine eigene unendliche Geschichte im Sinne eines Subtextes zu Grunde liegt. Unter Subtext (von lat.: sub = unter) versteht man in der Literatur- und Kunstwissenschaft eine implizite Bedeutungsebene, die die explizite Bedeutung und Aussage eines Werks untermalt bzw. konterkariert. Ohne Schlusspunkt, gleich einem Perpetuum mobile sich selbst wiederholend, untermalt dieser Subtext die Geschichte von minderleistenden Kindern und Jugendlichen, wobei die jeweiligen Akteure sich oft nicht bewusst machen (können), dass sie Teil dieser Geschichte sind und zum Subtext und dessen Aufrechterhaltung beitragen.

Immerhin verhilft der Begriff Underachievement dazu, dass die Herausforderungen und das empfundene Missverstanden-Werden vieler minderleistender Kinder und Jugendlicher einen Namen bekommen hat. Und hat eine Sache einmal einen Namen, kann man auch darüber sprechen und ins Handeln kommen – etwa auf dem Underachievement-Kongress oder unserem Underachievement-Blog, den die Karg-Stiftung im kommenden Jahr übrigens aufgrund der großen Resonanz weiterführen wird.

Doch zurück zu den Mythen rund ums Underachievement. Mythen, in Prosa oder Lyrik überliefert, haben in der Regel eine lange Erzähltradition im Gepäck. Sie alle haben ein wesentliches Merkmal: Die dargestellten Figuren sind über Jahrhunderte gereifte Charaktere. Man könnte auch sagen, sie haben sich an den jeweiligen Zeitgeistern so abgeschliffen, dass sie glatt genug sind, auch moderne Plots zu infiltrieren. Und so wie die ein oder andere Fernsehserie altbekannte gute und böse Charaktere nachzeichnet, ist auch so manche Vorstellung von und über Underachievement eher den Märchenwelten vergangener Epochen zuzuordnen.

Raus aus dem Marionettentheater …

Ein zentraler Mythos ist, dass Underachievement ein rein schulbezogenes Thema sei. Es deutet aber vieles darauf hin, dass das Fundament hierzu häufig schon in der Kita gelegt wird. Diese frühen unangenehmen Erfahrungen können dazu führen, dass Kinder ungünstige Attributionsstile entwickeln. Zum einen entsteht bei vielen Underachiever:innen die Überzeugung, ihre Misserfolge seien die Folge mangelnder Fähigkeiten –  sie fühlen sich dumm. Zum anderen werden Misserfolge auch oft auf Ursachen zurückgeführt, die außerhalb ihrer Person liegen. Beides zusammen führt zu der Wahrnehmung, eine Marionette zu sein, deren Fäden nicht in den eigenen Händen liegen.

Den Attributionsstil formen nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern auch gesellschaftliche Narrative. Der Begriff des Narrativs (von lat.: narrare = erzählen) meint in diesem Kontext die Art und Weise, wie bestimmte Phänomene in einer Gesellschaft mittels Sprache dargestellt und fortlaufend tradiert werden: Jedes Gespräch, jeder Film und jede Berichterstattung transportiert auch Erwartungshaltungen, die die eigenen Erwartungen an uns mitprägen.

Ein Beispiel für gesellschaftliche Narrative ist etwa, dass Mädchen im Vergleich zu Jungen seltener als Underachiever erkannt werden. Das geschieht aber nicht, weil es sie weniger oft gibt. Vielmehr liegt das daran, dass hochbegabten Mädchen eher Fleiß denn Talent zugesprochen wird. Sie werden also oft erst gar nicht als hochbegabt erkannt – können somit in der Folge auch nicht als minderleistend identifiziert werden. Und so versteckt das sprichwörtlich „fleißige Lieschen“ seine Talente schnell hinter angeblich zu einfachen Aufgaben in der Klassenarbeit. Außergewöhnliche Fähigkeiten bei Jungen hingegen werden eher mit einem besonderen Talent in Verbindung gebracht. Hinzu kommen weitere geschlechtsspezifische Umwelteinflüsse, die maßgeblich das Selbstkonzept von Jungen und Mädchen beeinflussen. Dass Mädchen sich weniger zutrauen, liegt auch daran, dass man (also Sie und ich!) ihnen weniger zutraut – was dazu führt, dass sie ihre Potenziale erst gar nicht entfalten (können).

… rein in eine selbst geschriebene Lebensgeschichte

Aber wie schaffen wir es als Lehrpersonen, Erzieher:innen, Therapeut:innnen und Eltern, diese Narrative in unseren Vorstellungen abzustreifen und auch den Underachiever:innen in der Entwicklung der eigenen Lebensgeschichte unterstützend zur Seite zu stehen? Zunächst einmal gilt es, die eigene Haltung zu reflektieren. Stellen wir Mustafa andere Aufgaben als Emilia? Und falls ja: woran liegt das und – viel wichtiger noch – wie rechtfertigen wir diese Auswahl? Tragen wir selbst Vorannahmen über Hochbegabung mit uns herum, die Underachievement als ein nicht damit zu vereinbarendes Paradoxon erscheinen lassen und verhindern somit, dass wir die Minderleistung als solche überhaupt erkennen (können)?

Es ist außerdem wichtig, sich bewusst zu machen, dass es von vielen Faktoren abhängt, ob ein hohes kognitives Potenzial – also ein hoher IQ – auch in sehr gute Leistungen umgesetzt werden kann. Beispielsweise spielen die Exekutiven Funktionen hierbei eine zentrale Rolle, weshalb es wichtig ist, zu überlegen, wie Kinder dabei unterstützt werden können, diese Kompetenzen angemessen zu entwickeln.

Sich selbst diese Fragen zu beantworten, ebnet den Weg, Underachiever:innen und ihren Familien die Hilfe zukommen zu lassen, die sie benötigen: Sei es durch ein individuell zugeschnittenes Mentoring-Programm oder auch nur die Übernahme bestimmte Ansätze daraus, eine eingehende und über einen längeren Zeitraum begleitende Beratung und natürlich – je nach Gemengelage – die Wahl des richtigen Interventionsansatzes. Das Phänomen Underachievement kann aber nicht allein bei den jeweiligen Schüler:innen und deren Umfeld „abgeladen“ werden. Underachievement muss als Handlungsfeld des Bildungssystems anerkannt werden, sodass frühzeitig reagiert werden kann und Underachievement bestenfalls erst gar nicht entsteht.

Sollte all das gelingen entsteht eine neue, “eine andere Geschichte. Sie wird ein anderes Mal erzählt werden“ 2 – und zwar von all jenen, die einen Ausweg aus dem Teufelskreis des Underachievements finden und hernach selbstbestimmt und erfüllt ihren Weg im Leben gehen. Tragen wir mit empathischer, wohlwollender Unterstützung unseren Teil dazu bei!