Underachievement-Blog

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„Wenn ich so schlau wäre, müsste mir das doch leichtfallen“

„Wenn ich so schlau wäre, müsste mir das doch leichtfallen“

Die Sache scheint doch ganz einfach zu sein: Wer eine Hochbegabung hat, dem sollte im Leben doch auch alles mit Leichtigkeit gelingen. Aber ist das wirklich so? Bedeutet „hochbegabt sein“, dass man sich nicht mehr anstrengen muss, dass einem alles zufliegt? Der nachfolgende Beitrag reflektiert, wie problematische Glaubenssätze über Hochbegabung dazu führen können, dass sich eine Begabung nicht richtig entfalten kann – und was wir dagegen tun können.

Januar 2023

Von: Karen Johannmeyer


Wird ein Kind als „hochbegabt“ diagnostiziert, wirkt das auf Familien und Fachkräfte oft erst einmal entlastend, weil ihre subjektive Wahrnehmung bestätigt wird, dass das Kind „besonders“ ist. Schwierigkeiten und Auffälligkeiten können erklärt werden, „ohne dass den Eltern und anderen Bezugspersonen eine Beteiligung oder Verantwortung an der Entstehung dieser Schwierigkeiten zugesprochen wird. Eltern und auch die Betroffenen selbst sind zunächst froh, eine solche ‚Ursache‘ gefunden zu haben.“ 1

Leider bleibt es nach der Intelligenzdiagnostik häufig bei einem einzigen Beratungsgespräch (z. B. durch Unterbesetzungen in der Schulpsychologie oder, bei privater Beratung, aus Kostengründen), sodass viele Eltern, und auch das Kind, nach der Initialreaktion auf die Diagnose „Hochbegabung“ erst einmal auf sich allein gestellt sind. Viele finden den Weg zu Büchern über Hochbegabung, zu Elternvereinen oder sie informieren sich im Internet. Dennoch stehen die meisten Betroffenen vor der Herausforderung, die dort erhaltenen Informationen, sowie das mediale und gesellschaftliche Bild von Hochbegabung mit ihren ganz eigenen, persönlichen Vorannahmen und Erfahrungen über Hochbegabung in Bezug zu setzen. So wird die Frage: „Was heißt es eigentlich, hochbegabt zu sein“ oft individuell beantwortet – was natürlich naheliegend ist, da jedes Kind und auch jeder Erwachsene einzigartig ist. In dieser herausfordernden Situation kann es aber schnell dazu kommen, dass ein Verständnis von Hochbegabung entsteht, das langfristig für die Entfaltung der Begabung wenig hilfreich ist.

Das kann schief gehen beim Umgang mit dem Label „hochbegabt“

Viele Menschen verbinden mit dem Begriff „hochbegabt“ Konstrukte wie Leistung, Produktivität, oder sogar Genialität. Besonders die Medien erzeugen immer wieder gerne übersteigerte Phantasien über Genies (und vermutlich fallen den meisten Menschen dann mehr männliche Genies ein als weibliche ... ). Schnell kann eine Diagnose dazu führen, dass sich unter dem Label „Hochbegabung“ eher problematische Glaubenssätze bei den Schüler:innen und ihrem Umfeld festsetzen.

Bereits in der ersten Klasse entwickeln manche Kinder ein normatives Verständnis von Fähigkeit und Begabung: Sie denken, schlau zu sein, bedeutet, bei Aufgaben Erfolg zu haben, die andere Kinder nicht schaffen. Da hochbegabten Kindern oft auffällt, dass sie bei vielen Dingen schneller sind als andere Kinder, kann sich diese Idee über die Zeit immer mehr verstärken. Schwierigkeiten kann es dann geben, wenn die Schüler:innen anfangen, schwierige Herausforderungen zu umgehen und stattdessen Aufgaben bevorzugen, die ihnen einen schnellen Erfolg liefern, und damit eine Bestätigung ihres Verständnisses von Begabung: „Mir fallen alle Aufgaben leicht!“ In diesen Zeiten der Unterforderung können sich also, wenn unreflektiert, Glaubenssätze über die eigene Hochbegabung verstärken: „Schule ist einfach für mich“, „ich muss doch gar keine Hausaufgaben machen, um im Unterricht gut mitzukommen“, oder „ich bin immer als erstes mit den Aufgaben fertig“.

Kommen auf die Schülerin oder den Schüler dann später im Schulverlauf – meistens auf der weiterführenden Schule – größere Herausforderungen zu, dann fehlen ihnen oft die Strategien, um überhaupt mit herausfordernden Lernsituationen umzugehen: Sie waren es ja gewohnt, Dinge einfach immer schon sofort zu können, oder sehr schnell Lösungen zu finden. Wenn dies auf einmal nicht mehr funktioniert, wenn sie nicht gelernt haben, mit Frustrationen umzugehen, stehen sie vor der Bedrohung, zu scheitern. Dies ist der Punkt, an dem bei Schüler:innen, die ein Underachievement entwickeln, mehrere ungünstige Ausgangslagen zusammenkommen können. Wenn sich problematische Glaubenssätze über Hochbegabung ausgeprägt haben, und gleichzeitig keine Strategien vorliegen, mit Herausforderungen umzugehen, dann kann ein Scheitern quasi vorprogrammiert sein 2. Vertiefend hierzu ist unser Blogbeitrag über den Frust der Unterforderung und die Rolle der Exekutiven Funktionen sehr zu empfehlen.

Wie kann ein begabungsförderliches Selbstbild unterstützt werden?

In der pädagogischen Arbeit und in der Beratung können wir viel tun, um Kinder und Jugendliche bei der Entfaltung ihrer Begabungen zu unterstützen. Nachfolgend gibt es ein paar Ideen, wie wir positiv mit dem Konzept der Hochbegabung umgehen können:

Ein wachstumsorientiertes Selbstbild stärken

Manche Menschen denken, dass man eine (Hoch-)Begabung entweder hat, oder sie nicht hat. So ein statisches Konzept ist für die Begabungsentfaltung allerdings nicht hilfreich. Die Psychologin Carol Dweck hat viel zu Fähigkeitsselbstkonzepten geforscht und dabei herausgefunden: Wer Begabung als veränderbar erkennt und glaubt, dass Begabungen auch wachsen können, der ist motivierter, sich anzustrengen – und wird im Endeffekt auch erfolgreicher damit sein 3.

Problematische Glaubenssätze aufbrechen

Gehen wir mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch, die keine guten Leistungen mehr zeigen: Erwarten sie eigentlich immer noch, exzellente Noten zu bekommen und wundern sich selbst, warum sie dies nicht schaffen? Treten Glaubenssätze auf, wie „Wenn ich tatsächlich so begabt wäre, dann müsste mir das doch leichtfallen“? Gibt es bei den Jugendlichen einen Leidensdruck? Reflektieren wir gemeinsam darüber, was es heißt (und auch nicht heißt), hochbegabt zu sein.

Eine positive Fehlerkultur

Kinder und Jugendliche merken schnell, wie Eltern und pädagogische Fachpersonen auf Fehler reagieren – und auch, wie diese mit ihren eigenen Fehlern umgehen. Wird eine positive Fehlerkultur vorgelebt, dann lernen die Schüler:innen, dass sie – auch mit einer hohen Begabung – Fehler machen und dadurch dazu lernen dürfen.

Richtig loben

Wenn wir Kinder für Persönlichkeitsmerkmale wie die Intelligenz loben, dann fördert dies ein statisches Fähigkeitsselbstkonzept. Stattdessen können wir die Anstrengung, und auch den Umgang mit Fehlern, loben – so kann sich ein wachstumsorientiertes Selbstkonzept entwickeln. Es ist also wenig hilfreich für das Kind, wenn wir einen Erfolg loben mit „Das hast du aber gut gemacht – du bist aber schlau!“ Ein besseres Lob könnte sein: „Ich sehe, dass du viele verschiedene Ideen ausprobiert hast, und jetzt eine kreative Lösung für das Problem gefunden hast – toll!“ Oder anstelle von „Du bist aber ein toller Künstler“ können wir sagen: „Ich sehe, wieviel Mühle du dir gibst, wenn du malst. Ich finde es schön, dass du so viele Farben benutzt. Woher hast du die Idee für das Bild?“

In der Beratung

Eine gute psychologische Diagnostik wird mit der entsprechenden Fragestellung in einen diagnostischen Prozess eingebettet. Dafür kann die Intelligenzdiagnostik um weitere Instrumente ergänzt werden, z. B. zur Motivation oder zu den Eigenschaften des Kindes. Die Beratung sollte dann nicht mit der Kommunikation des Ergebnisses des IQ-Tests stoppen, sondern darüber hinaus gehen. Idealerweise wird mit den Eltern und dem Kind auch gemeinsam reflektiert: Was bedeutet es eigentlich, hochbegabt zu sein? Was ist daran gut, aber was ist auch nicht so toll? Was können wir tun, um das Kind zu unterstützen? Was denkt das Kind darüber?

Im Unterricht

Schaffen Sie herausfordernde Lernsituationen – dies kann helfen, Anstrengungsbereitschaft aufzubauen und eine Wissbegier zu entwickeln. Nutzen Sie dieses Setting, um mit den Kindern zu ihren Lernstrategien ins Gespräch zu kommen: Wie geht das Kind an eine Aufgabe heran? Braucht es Unterstützung? In welcher Situation, unter welchen Bedingungen kann das Kind besonders gut lernen? Kann es Beispiele von gelungenen Lernprozessen benennen?

Anregungen zur Reflexion:

  • Was denken Sie – welche Rolle spielt die Hochbegabung für das Selbstbild des Kindes?
  • Wie denken Sie selbst über Intelligenz und Hochbegabung?
  • Wenn ein Kind hochbegabt ist – was ist dann „anders“?
  • Was machen Sie, um problematische Glaubenssätze zur Hochbegabung aufzubrechen?
  • Empfehlung: Kurzer Filmclip zum Thema

    Boaler, J., & Constantinou, S. (Regie) (2017): Rethinking Giftedness.