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Stress als Dämpfer für die kognitive Entwicklung und die Entfaltung von Begabung

Stress als Dämpfer für die kognitive Entwicklung und die Entfaltung von Begabung

Stress beeinträchtigt nicht nur unser Wohlbefinden, sondern auch unsere Lern- und Gedächtnisprozesse. Wird Stress zum Dauerzustand, kann er dazu führen, dass Kinder und Jugendliche ihre intellektuellen Potenziale nicht entwickeln können.

April 2024

Von: Wiebke Evers


Was ist Stress und wie entsteht er?

Wenn uns Ereignisse in unseren Fähigkeiten sehr beanspruchen oder überfordern, erleben wir das als Stress 1,2. Stress ist allgegenwärtig und nicht nur den Erwachsenen vorbehalten. Auch Kinder und Jugendliche werden in Schule, Familie und Freizeit mit Situationen konfrontiert, die Stress erzeugen können.

Was wir als stressig wahrnehmen, ist dabei höchst individuell, denn das Stresserleben ist abhängig von verschiedenen Faktoren, wie etwa

  • der Intensität bzw. der Bewertung eines Stressors (Beispiel: Ein Referat mag für den bzw. die eine Stress bedeuten, für jemanden anderen nicht.);
  • der Dauer, mit der der Stress anhält (Beispiel: Eine Matheklausur ist irgendwann vorüber, aber Stress zu Hause durch ständig streitende Eltern besteht dauerhaft.);
  • den Bewältigungsfertigkeiten, über die man verfügt (Beispiel: Wenn man Strategien kennt, wie z. B. Atemübungen, dann kann man so der Stressreaktion entgegensteuern.);
  • der sozialen Unterstützung, auf die man zurückgreifen kann (Beispiel: Wenn ein Kind, das gemobbt wird, damit nicht allein gelassen wird, sondern Hilfe durch Eltern und Lehrkräfte bekommt.);
  • von den eigenen Vorerfahrungen mit Stress ebenso wie von Vorerfahrungen der Eltern, die über (epi-)genetische Mechanismen weitergegeben werden (Beispiel: Ist eine werdende Mutter während der Schwangerschaft durch Jobverlust oder auch Krankheit hohem Stress ausgesetzt, kann sich das auf die Stressreaktivität des ungeborenen Kindes auswirken.).

An der Tafel etwas vorrechnen müssen, ein Referat halten, Fahrprüfung, Zeitdruck: Dies sind eher klassische Beispiele für Stress. Stress kann aber auch durch die Beurteilung anderer ausgelöst werden, besonders wenn zu erwarten ist, dass diese zum Beispiel schon durch Stereotype vorbehaftet und verhärtet ist. Auch die Angst davor, aufzufallen und von einer Gruppe abzuweichen, um dann eventuell Opfer von Mobbing oder Ausgrenzung zu werden, löst Stress aus. Begabte Kinder und Jugendliche spüren diese Art von Stress manchmal deutlich, besonders wenn sie nicht den gängigen Stereotypen (z. B. bezüglich ihres Geschlechts, ihres Aussehens, ihrer Herkunft oder auch ihrer Interessen) entsprechen.

Wie wirkt Stress?

Kurzzeitig kann uns Stress sogar leistungsfähiger machen, doch hat er uns über längere Zeit im Griff, hinterlässt er seine Spuren. Wenn wir Stress erleben, werden Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol freigesetzt, die unseren Körper in den sogenannten „Fight-or-Flight“-Modus versetzen. Dadurch bereitet sich der Körper darauf vor, zu kämpfen oder zu fliehen. Dieser Zustand ist ein Überbleibsel der Evolution und überlebenswichtig. Befindet sich unser Körper jedoch längere Zeit in diesem (kräftezehrenden) Zustand, wirkt sich das nicht nur negativ auf unser Wohlbefinden, sondern auch auf unsere intellektuellen Fähigkeiten wie die Gedächtnis- und Lernleistung sowie auf unsere Selbstregulations- und Problemlösefähigkeiten aus. Andauernder Stress kann dazu führen, dass diese wichtigen Funktionen unwiederbringlich beeinträchtigt sind.

Wenn Stress Lernen und Leistung verhindert

ZitatZitat

Fight-or-Flight ist ein Überlebensinstinkt. Dein Körper will nicht lernen, er will flüchten – oder kämpfen. Im Klartext: Wer Angst hat, kann sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Wer sich fürchtet, kann nicht folgen, verstehen und lernen.

Norman Wolf 3
ZitatZitat

Stress wirkt auf viele unterschiedliche Lern- und Gedächtnisprozesse ein. In stressigen Situationen können wir zum Beispiel Informationen schlechter verarbeiten und Probleme schlechter lösen. Auch die Übertragung von Informationen ins Langzeitgedächtnis und der Abruf von gespeicherten Informationen gelingt uns unter Stress weniger gut 4.

Stresssituationen sind heutzutage aber oft genau solche Situationen, in denen wir schnell Informationen verarbeiten und weniger unser Überleben sichern müssen: Wenn wir vor der Klasse ein Matheproblem lösen sollen, ist weder der Flucht- noch der Kampfinstinkt nützlich, sondern gut funktionierende intellektuelle Prozesse, die uns auf die Lösung bringen.

Sind wir dauerhaft gestresst, kann sich dies auf unsere Gehirnstrukturen, zum Beispiel die Amygdala, auswirken. Die Amygdala ist aktiv, wenn wir Angst empfinden. Sie sorgt dafür, dass die Angstreaktion eingeleitet wird, die im Zweifel unser Überleben sichern soll. Durch chronischen Stress oder Angst vergrößert sich die Amygdala, was wiederum zu einer stärkeren und auch lang anhaltenderen Reaktion auf Stress- und Angstzustände führt. Diese beiden Prozesse können sich immer weiter verstärken und zu psychischen Störungen wie Depressionen und Angststörungen führen 5,6,7.

Stress wirkt sich außerdem stark auf den präfrontalen Cortex aus, eine Hirnregion hinter unserer Stirn, in dem viele Prozesse zur Selbstregulation ablaufen. Sind Kinder überfordert (intellektuell oder auch sozial), haben Angst oder fühlen sich bedroht, zeigt sich das meist schnell in ihrem Verhalten. Sie haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu regulieren, ihr Handeln zu kontrollieren und sich mitzuteilen. Stress beeinflusst so direkt ihr Lern- aber auch ihr Sozialverhalten. Studien zeigen, dass Lehrkräfte eher Kinder für Programme der Begabtenförderung vorschlagen, die sich gut regulieren können 8. So verpassen besonders begabte Kinder, die häufig unter Stress stehen und sich so weniger gut regulieren können, unter Umständen Lernchancen.

Da sich die Gehirne von Kindern und Jugendlichen noch in der Entwicklung befinden, können sie durch Dauerstress sowohl in ihrer Lernleistung als auch in ihrer psychischen Gesundheit nachhaltig beeinträchtigt werden 9. Früher Stress kann dazu führen, dass sie ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht entwickeln können. Sie sind später schulbereit 10, schneiden sowohl bei IQ-Tests 11 als auch bei akademischen Prüfungen schlechter ab 12,13, entwickeln eher psychische Störungen und laufen so eher Gefahr, vom Bildungssystem abgehängt zu werden.

Stress: Ein individueller Faktor

Menschen sind unterschiedlichen Ereignissen und Situationen ausgesetzt, in denen sie abhängig von ihren Ressourcen, Fähigkeiten und Bewältigungsstrategien Stress empfinden oder eben nicht. Das Umfeld, in dem Kinder und Jugendliche aufwachsen, spielt dabei eine große Rolle.

ZitatZitat

Die Welt um dich herum ist schön, wenn die Welt in dir friedlich ist.

Unbekannte:r Autor:in
ZitatZitat

Das kindliche Stresserleben ist stark von der Anwesenheit und dem Verhalten der engen Bezugspersonen abhängig. So kann ein Erziehungsstil, der von Unzuverlässigkeit und geringer emotionaler Sensibilität geprägt ist, das Stresserleben des Kindes erhöhen. Reagiert eine Mutter bei einem umgestoßenen Glas das eine Mal mit einer Ohrfeige und das nächste Mal mit einem verständnisvollen Lächeln, löst diese Unvorhersehbarkeit Stress aus. Erhöhter Stress aufseiten der Eltern kann mit einem weniger förderlichen Erziehungsverhalten und Erziehungspraktiken einhergehen, was sich negativ auf die sozial-emotionale und auch die intellektuelle Entwicklung der Kinder auswirkt 14.

Faktoren wie zum Beispiel die Regelmäßigkeit von Einkommen, Stabilität in der Wohnsituation, Verlässlichkeit von wichtigen Bezugspersonen in ihrer Anwesenheit und ihrem Verhalten beeinflussen sowohl das elterliche als auch das kindliche Stresserleben 15. Denn obwohl Kinder selbst vielleicht nicht beurteilen können, ob ihre Familie am Existenzminimum oder in einer unsicheren Nachbarschaft lebt, sind sie dennoch in hohem Maße davon betroffen, da sich der Stress, den ihre Eltern durch diese Dinge erleben, vererbt. Dieses Erbe treten Kinder schon vor ihrer Geburt an, denn Stress wirkt nicht nur über die Umgebung, in der er auftritt, sondern auch genetisch und epigenetisch. Dadurch erhöht sich die Anfälligkeit für Stress sowie auch die Stressreaktion selbst (z. B. wie das Ausmaß der körperlichen und geistigen Reaktion auf einen Stressor ausfällt).

Auch das schulische Umfeld kann Stress bedeuten. Dieser Stress ist oft akademischer Art (z. B. Prüfungen, Lernstress, Versetzungsgefährdung). Er kann aber auch durch sozial-emotionale Herausforderungen entstehen, wie durch Mobbing und Ausgrenzung (ggf. aufgrund von Stigmatisierungen, die mit der sozialen und kulturellen Herkunft einhergehen), ein angespanntes Klassenklima oder eine schlechte Beziehung zu den Lehrkräften.

Damit führt uns das Thema Stress über ungleich verteiltes finanzielles, kulturelles und soziales Kapital direkt zur Bildungs- und Begabungsgerechtigkeit. Denn Stress kann nicht nur die Entdeckung und Entwicklung von Begabungen behindern, sondern auch den Zugang zu Bildungs- und Fördermöglichkeiten verwehren. Auch die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Teilnahme an Förderprogrammen können durch sozialen Rückzug, mangelndes Selbstbewusstsein und die zuvor genannten Auswirkungen auf Lern- und Gedächtnisprozesse bei begabten Kindern, die stark unter Stress leiden, unter Umständen nicht erfüllt sein.

Stress lass nach!

Ziel ist es nicht, dass Kindern und Jugendlichen jeglicher Stress erspart wird. Stress – in einem gewissen Maß – fördert adaptive Funktionen und ermöglicht Lernerfahrungen, die für den Aufbau von Stressbewältigungsstrategien wichtig sind 16. Was es zu vermeiden gilt, ist die dauerhafte Überforderung durch Stress, da sich so zum Teil unumkehrbare Effekte auf das Lernen und die persönliche Entwicklung ergeben.

In der Konsequenz müssen wir also präventiv tätig werden und dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche nicht mit übermäßig stressigen bis hin zu bedrohlichen Situationen konfrontiert werden. Das Aufwachsen von Kindern sollte durch frühe Hilfen und Unterstützung von Familien von unnötigem Stress befreit werden.

Darüber hinaus sollten wir unser Möglichstes dafür tun, dass die Kinder, die stark von frühem Stress geprägt sind, gut begleitet werden. Um in der Schule lernfähig zu sein, müssen die für das Überleben wichtigen, aber für das Lernen hinderlichen Reaktionsmuster, die das Gehirn über viele Stresssituationen hinweg erlernt hat, wieder geschwächt werden.

Um begabten Kindern und Jugendlichen die Möglichkeiten zu geben, sich nicht nur mental gesund, sondern auch intellektuell gemäß ihrer Potenziale zu entwickeln, sollte der individuelle Faktor Stress („Was stresst mich? Wie sehr stresst mich etwas? Was kann ich allein bewältigen und wann brauche ich Hilfe von außen?“) im Schulbetrieb berücksichtigt werden. Das ist wichtig, um mehr Chancengleichheit im Bildungssystem und der Begabungsförderung zu schaffen.

Um aus dem angelernten Stressmodus herauszukommen und lernen zu können, brauchen Schüler:innen Unterstützung. Diese kann unterschiedlich ansetzen:

Präsenz des sozialen Unterstützungssystems

  • Lehrkräfte und Berater:innen ...
  • ... wissen um die negativen Auswirkungen von Stress.
  • ... erkennen, wenn Schüler:innen von Stress in der Familie oder in der Schule überfordert sind.
  • ... bieten sich proaktiv als Ansprechpartner:innen an, zeigen Verständnis, hören zu, geben Hoffnung und eine Perspektive.
  • ... kennen externe Hilfsangebote und können Empfehlungen für passende Unterstützungsangebote geben.

Stressfreie Lernumgebungen

  • Die Schule bietet Schüler:innen eine von Dauerstress und Angst befreite Lernumgebung im Klassenraum und auf dem Pausenhof.
  • Die Schule bietet Rückzugsräume zur Entspannung.
  • Lehrkräfte bieten individuell Alternativen zu stressbehafteten Lern- und Prüfungssituationen an.

Stressbewältigungsstrategien

  • Schüler:innen bekommen Gelegenheit, verschiedene Strategien für den Umgang mit potenziell stresserzeugenden Ereignissen zu erlernen, um ihr Stressempfinden zu verringern 16, beispielsweise:
  • Selbstregulationstraining, z. B. Stärkung der Exekutiven Funktionen
  • Entspannungsmethoden, wie Atemtechniken
  • schulbasierte Achtsamkeitsinterventionen 17

Stress als Fußfessel für Bildungs- und Begabungsgerechtigkeit

Durch Stress können intellektuelle Potenziale unwiederbringlich verloren gehen. Bestehende Benachteiligungen reproduzieren sich, sodass die Bildungsverlierer:innen von gestern und heute die Bildungsverlierer:innen von morgen sind, wenn nichts unternommen wird. Die Förderung von Begabungsgerechtigkeit erfordert nicht nur einen fairen Zugang zu Bildungsangeboten, sondern auch die Reduktion von Stressfaktoren für Kinder und Familien sowie einen sensiblen Umgang mit ihren unterschiedlichen Vorerfahrungen mit Stress.

Reflexionsfragen:

1. Wie sensibel bin ich für die Stressoren, die meine Schüler:innen in der Schule und in ihrer Familie erleben?

2. Was tue ich, wenn ich als Lehrkraft im Unterricht wahrnehme, dass meine Schüler:innen aufgrund von Stress in ihrem Lernen behindert werden?

3. Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es in meiner Region für Familien, die stark von Stress belastet sind?

Was sagen Kinder dazu?

ZitatZitat

Stress ist für mich das Gegenteil von Konzentration. Wenn ich gestresst bin, z. B. weil ich später eine Mathearbeit schreibe, dann kann ich mich nicht auf den Deutschunterricht fokussieren, der gerade läuft. Das ist dann blöd. Denn man kann nur den Moment beeinflussen, in dem man gerade ist. Das weiß ich. Und ich werde besser darin, mich nicht so stressen zu lassen von etwas, was noch nicht dran ist und worauf ich noch keinen Einfluss habe.

Liam, 14 Jahre, 8. Klasse Gymnasium
ZitatZitat

Ressource: „Das Handmodell des Gehirns“
von Dr. Daniel Siegel

Mit dem Handmodell des Gehirns hat Dr. Daniel Siegel eine anschauliche Methode entwickelt, wie wir die Prozesse, die unter Stress und Überforderung im menschlichen Gehirn vor sich gehen, darstellen und auch Schüler:innen begreiflich machen können. Dieses Video in englischer Sprache erklärt das Modell.

Eine persönliche Frage zum Schluss:
Was ist für mich fair/Fairness?

ZitatZitat

Fair ist für mich, wenn Menschen mit den gleichen Leistungen auch gleiche Ziele erreichen. Gerecht wird es, wenn die Möglichkeiten, eigene Potenziale entwickeln zu können, die diese Leistungen ermöglichen, ebenfalls gleich sind. Bestehende Ungleichheiten in den verfügbaren Ressourcen, aber auch einwirkenden Stressoren müssen dafür ausgeglichen werden.

Dr. Wiebke Evers
ZitatZitat