Hochbegabte unterstützen
Begabungsungerechtigkeit im Schulalltag allgegenwärtig?
Marissa ist zehn Jahre alt. Sie lebt mit ihrem Vater und drei Geschwistern zusammen. Marissas Vater arbeitet hart, um ausreichend Geld für die Versorgung der Familie zu verdienen, dennoch ist am Ende des Monats das Konto häufig leer. Vom Förderverein erhält die Familie finanzielle Unterstützung, um Schulmaterialien anzuschaffen. Um jedem Familienmitglied ein Geburtstagsgeschenk machen zu können, legt der Vater jeden Monat etwas Geld zur Seite. Da die Eltern auch in den Schul- und Kitaferien viel arbeiten, übernehmen Marissa und ihre ältere Schwester Clara oft die Betreuung der beiden jüngeren Geschwister. Die Ferien verbringt die Familie meist zu Hause. Die Eltern versuchen mit kleinen Ausflügen in der Stadt für ein wenig Abwechslung im Ferienalltag zu sorgen. Das Geld ist jedoch knapp, einen Urlaub konnte die Familie schon viele Jahre nicht mehr machen. Nach den Ferien freut Marissa sich sehr darauf, wieder in die Schule gehen zu können und ihre Freundinnen und Freunde zu sehen. Sie hat allerdings wie nach jeden längeren Ferien Angst vor der Aufgabe im Deutschunterricht, die sie üblicherweise dann erwartet: Beschreibe dein schönstes Urlaubserlebnis! |
Wie das Beispiel zeigt, kann bereits eine solche Aufgabenstellung ausgrenzend und benachteiligend sein. Denn Marissa fällt eine Beschreibung wesentlich schwerer als ihren Mitschüler:innen, die in den Urlaub gefahren sind. Sie benötigt entweder ein großes Vorstellungsvermögen, um die Frage beantworten zu können oder sie muss sich „outen“ und von einem Erlebnis aus den Ferien berichten, das nicht an einem Urlaubsort geschehen ist. Auch die psychische Belastung, die damit einhergeht, ist nicht zu unterschätzen. Die Aufgabe, die zunächst als sehr leichte Fragestellung erscheint, von der Lehrkraft sicherlich gut gemeint und vielleicht als „Eisbrecherfrage“ nach den Ferien angedacht ist, kann also einige Fallstricke in Bezug auf Begabungs- und Bildungsgerechtigkeit bergen.
Dass der schulische Bildungserfolg von Kindern in Deutschland stark abhängig ist von der sozialen Herkunft, ist unbestritten. Gemessen an Bildungszertifikaten erreichen Schüler:innen aus nicht-akademischen Elternhäusern nur zu 27 % das Abitur, davon erreichen 20 % einen Bachelor- und 11 % einen Masterabschluss. Nur 2 % der Kinder aus nicht-akademischen Haushalten erreichen die Promotion als höchsten Bildungsabschluss. Demgegenüber bestehen 79 % der Kinder aus akademischen Elternhäusern das Abitur, 64 % erreichen einen Bachelor-, 43% einen Masterabschluss und sogar 6 % erreichen das Bildungszertifikat der Promotion 1. Begabungen von Kindern mit bestimmten Merkmalszuschreibungen werden seltener erkannt und sie sind, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, in Begabtenförderprogrammen unterrepräsentiert 2, 3. Stamm bezeichnet diese Gruppe als „begabte Minoritäten“ – dazu zählen Mädchen, Kinder mit Migrations- oder Fluchtgeschichte und Kinder aus sozioökonomisch deprivierten Familien. Von Stamm nicht angeführt, aber zur Gruppe ergänzen ließen sich Kinder mit Beeinträchtigungen.
Heterogene Bedingungen des Aufwachsens und ihre Auswirkung auf die Begabungsentfaltung
Die Diskussion um die Anlage-Umwelt-Beziehung bei der Begabungsentfaltung hat eine lange Tradition. Aktuell wird davon ausgegangen, dass die Entfaltung von (Hoch-)Begabung, gerade in der frühen Kindheit, maßgeblich von einer anregenden Lebens- und Lernumwelt abhängt. Je anregender und aktiver die Umwelt also gestaltet wird und je mehr besondere Lerngelegenheiten für Kinder mit hohen Begabungen geschaffen werden, desto besser können sich ihre Potenziale entwickeln und zeigen. Fatal ist, wenn aufgrund von sozialer Ungleichheit Begabungen nicht wahrgenommen oder erkannt werden. Denn die ausbleibende individuell angepasste Förderung behindert den Ausbau dieses besonderen Potenzials 4.
Hürden der Begabungsentfaltung
Der Auftrag von Schule ist es, alle Schüler:innen entsprechend ihren Begabungen individuell zu fördern und die Weichen so zu stellen, dass ungleiche Bildungschancen im besten Fall ausgeglichen werden. Es stellt sich also die Frage, welche Barrieren es beim Erkennen von Begabungen gibt und wie diese abgebaut werden können, damit Kinder und Jugendliche gleichermaßen mit ihren (hohen) Begabungen gefördert werden. Werfen wir hier zunächst einen Blick auf die Hürden im Bildungssystem, bevor wir im nachfolgenden Kapitel auf mögliche Lösungsansätze eingehen.
Institutionelle Benachteiligung
In der Schule können verschiedene Aspekte zu einer institutionellen Benachteiligung führen:
- Die in der Schule häufig herrschende Orientierung an einer Klassen-Norm kann das Erkennen von Begabungen erschweren 5. Das, was für die meisten Schüler:innen in der Klasse zutrifft, wird als Standard gesetzt. Im Fall von Marissa wird beispielsweise davon ausgegangen, dass Familien in den Ferien in den Urlaub fahren, so wie das sicherlich auch für viele zutrifft.
- Nicht selten orientiert sich der Unterricht gerade in Bezug auf Sprache und Kultur unbewusst auch an der eigenen Norm, mit der wiederum Erwartungen verknüpft werden. Vielleicht fährt die Lehrkraft von Marissa selbst jedes Jahr in den Sommerferien in den Urlaub, daher ist das für sie selbstverständlich und ihr ist nicht bewusst, dass eine solche Aufgabenstellung für manche Schüler:innen eine Herausforderung darstellen kann, da sie den dafür notwendigen Erfahrungshorizont nicht haben. Wichtig ist daher, dass Lehrkräfte im schulischen Alltag kultur- und sprachsensibel vorgehen. Besonders relevant erscheint dies im Kontext der pädagogischen Diagnostik.
- Auch Beeinträchtigungen können zu institutioneller Benachteiligung führen und Begabungen verstellen. So kann beispielsweise eine Lese-Rechtschreib-Schwäche dafür sorgen, dass eine besondere sprachliche Begabung nicht gezeigt werden kann, beispielsweise wenn Aufgaben in schriftlicher Form gelöst werden müssen – wie dies im Unterricht häufig noch der Fall ist.
Schauen wir an dieser Stelle noch einmal auf Marissa: Sie liebt es, Geschichten zu erzählen. Ihre Lehrerin bemerkt dabei eine hohe Kreativität und eine für ihr Alter hohe sprachliche Kompetenz. Marissa leidet jedoch auch an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Dies hat es ihrer Lehrerin eingangs schwer gemacht, die hohe sprachliche Begabung von Marissa in den von ihr geschriebenen Texten zu erkennen. Erst mit dem Blick auf deren kreativen Gedanken ist ihr auf den zweiten Blick Marissas Sprachgefühl aufgefallen und sie fördert ihr Potenzial seither intensiver. Dabei orientiert sie sich nicht ausschließlich an dem allgemeinen Standard, sondern bietet auch alternative Möglichkeiten zum Schreiben an und lässt Marissa beispielsweise ihre Geschichten als Audio aufnehmen.
Stereotype Denkmuster
Lehrkräften kommt im Prozess des Erkennens von Begabungen, wie oben beschrieben, eine bedeutende Rolle zu 6. Sie beobachten die Verhaltensweisen und Interaktionen ihrer Schüler:innen und leiten hieraus auch Erkenntnisse über besondere Begabungen ab. Dabei setzen sie häufig zunächst ihr Alltagswissen und ihre Berufserfahrung ein, bevor eine tiefergehende systematische Diagnostik vorgenommen wird. Diese Beobachtungen sind – wie das Beispiel von Marissa zeigt – jedoch fehleranfällig, da sie zunächst immer subjektiv gemacht und verarbeitet werden. Zudem sind alltagstheoretisch bestimmte kulturelle Erwartungen mit (Hoch-)Begabung verknüpft. Eine große Rolle beim Erkennen von Begabungen können stereotype Zuschreibungen spielen 2, 7, 8. Diese können unter anderem durch fehlende oder mangelnde Sprachkenntnisse in der Unterrichtssprache, die Ausdrucks- und Verhaltensweisen sowie die familiäre Sozialisation entstehen.
Außergewöhnliche Begabungen werden außerdem oft noch immer als unvereinbar mit einer Behinderung oder psychischen Erkrankung angesehen. Diese stereotype Denkweise scheint bei offensichtlichen körperlichen Behinderungen besonders stark aufzutreten, wie eine Studie von Little 9 zeigt. Hochbegabten Kindern und Jugendlichen werden entsprechende Eigenschaften von ihrem sozialen Umfeld zugeschrieben. Im Umkehrschluss erhalten Kinder und Jugendliche, deren Verhalten nicht der Vorstellung und den Erwartungen an ein „hochbegabtes Kind“ übereinstimmt, keine entsprechende Zuschreibung. In der Konsequenz bleiben eine Diagnostik und individuelle Förderung der (Hoch-)Begabung unter Umständen aus.
Ansätze zum Abbau der Hürden
Der Begriff Begabungsgerechtigkeit meint, „dass Menschen unabhängig von den unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen ein Recht darauf haben, entsprechend ihren Potenzialen gefordert und gefördert zu werden, wobei Potenziale und Begabungen breit und dynamisch aufgefasst werden. Werden also Begabungen ganz unterschiedlicher Art unabhängig von der sozialen Herkunft, des Geschlechts, von Gesundheit oder der Ethnizität in Schule zugetraut und anerkannt, kann dies ein Schritt in Richtung Begabungsgerechtigkeit sein.“ 10 Im Folgenden werden verschiedene Schritte aufgezeigt, wie die Begabungsgerechtigkeit durch Lehrkräfte konkret befördert werden kann – Grundlage stellt eine professionelle pädagogische Haltung dar: Was kennzeichnet eine solche begabungsförderliche Haltung in der Praxis und wie kann sie ganz konkret einen Beitrag zu mehr Begabungsgerechtigkeit leisten?
Professionelle pädagogische Haltung
Auf die Frage nach einer „richtigen“ pädagogischen Haltung kann es keine für alle gültige Antwort geben, denn eine Haltung kann nicht aufgezwungen werden. Es geht vielmehr um ein Austarieren, die Justierung des eigenen „inneren Kompasses“. Denn laut Kuhl, Schwer & Solzbacher ist eine professionelle pädagogische Haltung „ein hoch individualisiertes (…) Muster von Einstellungen, Werten, Überzeugungen, (…) die wie ein innerer Kompass Stabilität, Nachhaltigkeit und Kontextsensibilität des Urteilens und Handelns ermöglicht (…)“ 11. Die professionelle pädagogische Haltung stelle also ein Potpourri aus verschiedenen Orientierungsmustern dar, die das eigene pädagogische Handeln leiten, und die die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte (unbewusst) einbringen 12. Den Kern bilden dabei das Bild vom Kind und das eigene professionelle Rollen- und Selbstverständnis. Nicht auf „die richtige Haltung“ kommt es also an, sondern auf die Reflexion über die eigenen Werte und Orientierungsmuster und damit den Blick auf das Kind.
Das Hinterfragen und Nachdenken über Mechanismen und institutionelle Gegebenheiten, die das Zeigen und Erkennen von (Hoch-)Begabungen erschweren, leistet im schulischen Kontext einen zentralen Beitrag zu mehr Begabungsgerechtigkeit. Auch das Wissen über die Ursachen der Diskrepanz zwischen Begabung und Leistung und deren Identifizierung im schulischen Kontext sind zentrale Stellschrauben, um Kindern mit ihren Begabungen gerecht zu werden.
Ein wichtiger Schritt beim Erkennen von Begabungen ist daher die Reflexion des eigenen Beobachtungs- und Beurteilungsverhaltens. Das Wissen um die eigenen Vorurteile und Zuschreibungen kann dann bewusst einbezogen und bearbeitet und so eine begabungsfördernde Haltung aufgebaut werden 7. Beobachtungsfehler können dadurch minimiert und auch Kinder und Jugendliche, die als „begabte Minoritäten“ 2 gefasst werden, eher erkannt werden.
Ressourcenorientierung als Perspektive auf Potenziale und Begabungen
Die pädagogische Brille auf die Ressourcen des Kindes kann ein erster Schritt sein, Begabungen der Kinder unabhängig von Heterogenitätsdimensionen zu fördern. Ein konsequenter Blick auf das, was das Kind bereits kann, und eine darauf ausgerichtete Förderung zur nächsten Stufe der [individuellen] Entwicklung 13 bilden die Grundlage, damit das Kind sein Potenzial entfalten kann. Das heißt jedoch nicht, Entwicklungsdefizite oder -rückschritte auszublenden. Beim Erkennen und bei der Förderung von Begabungen gilt es zunächst einen positiven Blick auf das Kind zu richten und erst einmal Begabungen bei jedem Kind zu erwarten. Es kann daher spannend sein, sich gemeinsam mit dem Kind auf die Suche nach Potenzialen zu machen. Dabei können Fragen leitend sein wie:
- Was macht das Kind gerne?
- Bei welchen Aktivitäten ist das Kind motiviert und engagiert bei der Sache?
- Was können Barrieren sein, die das Kind daran hindern, sich zu entfalten und wie können wir diese aushebeln, umgehen oder abbauen?
Fazit
Deutlich wurde in diesem Beitrag, dass Begabungsgerechtigkeit im Unterricht vielschichtig ist und von verschiedenen Faktoren abhängt. Neben einer reflektierten und offenen Haltung der Lehrkraft spielt auch die Reflexion institutioneller Benachteiligungen eine Rolle. Darüber hinaus trägt eine sensible Unterrichtsgestaltung, die die Heterogenität der Schüler:innen berücksichtigt und auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Lernwege, Interessen und Bedürfnisse eingeht, zur Begabungsgerechtigkeit bei. Dies zeigt sich auch im Beispiel von Marissa:
Als Marissa nach den Ferien in die Schule kommt und die Lehrerin die Kinder im Deutschunterricht bittet, von einem Sommerferien-Erlebnis zu berichten, atmet Marissa auf, denn jetzt kann sie von ihrem Bauernhofbesuch erzählen. Dort hat sie ganz viele Katzen, Hunde und Hühner gestreichelt und konnte beim Stallausmisten bei den Pferden helfen. Und dann darf sie ihr schönstes Erlebnis auch noch in Zusammenarbeit mit ihrer Freundin als Audio aufnehmen und muss es nicht aufschreiben. Die beiden sind Feuer und Flamme und legen direkt los, mit vielen Details von diesem tollen Tag zu berichten. Die ganze Klasse ist begeistert, als sie später Marissas Geschichte über die Lautsprecher hört. |