Leistungsrückmeldung im Fokus von Begabungsgerechtigkeit
Noten messen häufig nicht das, was sie messen sollen, sie sind abhängig von den persönlichen Einstellungen der Bewertenden, es werden oft unterschiedliche Maßstäbe angelegt. Und auch die meistgenutzten Methoden der Leistungsüberprüfung – (unangekündigte) Tests, Klausuren etc. – können zur BildungsUNgerechtigkeit beitragen. Wer alles weiß, aber unter Prüfungsangst leidet, etwas mehr Zeit zum Bearbeiten einer Aufgabe braucht, eine andere Muttersprache oder vielleicht Probleme mit dem Verschriftlichen hat, kann dabei oft wenig punkten. Dennoch entscheidet diese Art der Leistungsbewertung wesentlich über Bildungschancen.
Nun könnte man meinen, wer hochbegabt ist, hat damit keine Probleme. Denn sind hochbegabte Schüler:innen nicht die berühmten Einserkandidat:innen? So einfach ist das nicht, erklärt uns Saskia Niechzial im Interview. Claudia Pauly hat mit ihr darüber gesprochen, welche Bedeutung Leistungsrückmeldung in der Schule hat, welche Rahmenbedingungen es aktuell dafür gibt und was das alles mit Hochbegabung und Begabungsgerechtigkeit zu tun hat.
Saskia Niechzial ist Grundschullehrkraft und Mutter von drei Kindern. Auf Instagram, ihrem Blog sowie in ihren Büchern schreibt sie praxis- und innovationsorientiert über Bildungsthemen – mit besonderem Fokus auf Aspekte wie Kommunikation, Elternzusammenarbeit und Neurodivergenz (inklusive Hochbegabung). Mit viel Leidenschaft setzt sie sich dabei für Veränderungen im Schulsystem ein.
Saskia, inwiefern sind Noten für Dich eine zeitgemäße Rückmeldungsmethode? Kannst du gut mit ihnen arbeiten?
Ganz kurz: Nein, ich finde sie nicht mehr zeitgemäß. Und nein, ich kann nicht gut mit ihnen arbeiten. Aus dem lerntheoretischen Forschungsbereich wissen wir mittlerweile, dass Noten einfach nicht das tun, was ihnen zugeschrieben wird, nämlich: Lernstandsrückmeldungen geben. Das sind Momentaufnahmen, die sind nicht objektiv. Wir wissen, dass da Ungerechtigkeiten mit reinzählen, dass zum Beispiel kulturelle Hintergründe dazu führen, dass von vornherein schlechter benotet wird.
Wenn ich jetzt sage: „Ich hatte eine 3 in Mathe.“ – was weißt Du dann über mich und meinen Leistungsstand? Heißt das: Ich hatte Prüfungsangst? Heißt das, dass Mathe vielleicht nicht mein Stärkenbereich war? Heißt das, dass ich eine schlechte Beziehung zu der Lehrkraft hatte? Heißt das, ich habe mich vielleicht gar nicht angestrengt, weil ich nicht wollte? Alles ist möglich. Es sagt Dir aber nicht, ob ich in diesem Fach wirklich durchschnittlich leistungsfähig bin.
Hast Du das Gefühl, dass das Thema Benotung für besonders begabte oder hochbegabte Kinder eine spezifische Relevanz hat?
So ziemlich alle Kinder haben ihre Schwierigkeiten mit den Noten. Die einen, weil sie bestimmte Erwartungen nicht erfüllen können, die nächsten, weil sie zu Zeiten überprüft werden, zu denen sie mit diesem Lernstoff eigentlich noch gar nicht fertig sind, wieder andere, weil sie Prüfungssituationen nicht mögen, wieder andere, weil sie schriftlich nicht gut sind und so viel schriftlich abgefragt wird.
Im Bereich der Hochbegabung erlebe ich zum Beispiel, dass Kinder manchmal sehr bewusst Situationen nutzen, um nicht aufzufallen – gerade in der Pubertät. Diese Schüler:innen fallen nicht selten an bestimmten Stellen aus dem Rahmen, und dann wollen sie nicht auch noch die sein, die „immer die Einsen einfahren“. Das ist übrigens ganz häufig auch ein weibliches Phänomen.
Was ich auch oft erlebe ist, dass Kinder mit einer hohen Begabung aufgrund der Art und Weise, wie Aufgaben gestellt sind, sagen: „Die Aufgabe wirkt ziemlich einfach, aber so einfach kann das nicht gedacht sein. Ich werde ja hier bewertet.“ Diese Kinder verstehen in einer ganz anderen Tiefe, was Bewertung und Leistungsbeurteilung eigentlich heißen. Und dann kann das doch da ja jetzt nicht so eine Pillepalle-Aufgabe sein. Die muss doch viel komplizierter sein! Dann fangen sie an herumzuwurschteln, verheddern sie sich mit der Zeit und bauen Fehler ein.
Hochbegabte Kinder sind nicht wie Raketen. Und weil sie pro Aufgabe oft in verschiedenste Richtungen denken, dauert das alles manchmal länger. Sowas muss ich wissen, um nicht zu sagen: „Ja, das waren jetzt zwanzig Minuten, deswegen ist es eine 4“, obwohl es mit zehn Minuten länger vielleicht eine 1 gewesen wäre.
Ich bin ja selbst hochbegabt, und bei mir war das wirklich so: Ich habe manchmal so kompliziert gedacht, und weil ich die Zeit nicht eingehalten habe, hatte ich auch nicht immer gute Noten und habe dann gedacht: „Naja, dann bin ich vielleicht doch nicht so schlau.“
Eigentlich sollen Noten ja den Zweck erfüllen, die eigenen Leistungen gut einschätzen zu können. Es klingt so, als wäre das nicht der Fall, richtig?
Kaum einem Kind gelingt es, Leistungsbewertung getrennt von sich als Person zu sehen. Die würden nicht sagen: „Ich bin ein super Kind. Ja, Mathe ist vielleicht nicht mein Stärkengebiet, aber was soll’s, dafür kann ich das und das.“ So ist es nicht. Viele Kinder sitzen da, kriegen dieses Feedback und die Welt bricht für sie zusammen. Und besonders die hochbegabten Kinder, die denken: „Na, ich weiß zwar nicht warum, aber wenigstens bin ich schlau“, für die bricht jedes Mal, wenn eine Leistungsbewertung das nicht bestätigt, ein fundamentaler Aspekt ihres Selbst zusammen.
Sie gehen dann mit diesem Mindset wieder rein – und mit mehr Angst. Mehr Angst sorgt dafür, dass die Leistungen im schlimmsten Fall wieder nicht dem entsprechen, was sie eigentlich leisten könnten – und dann ist man ganz schnell in einer Abwärtsspirale.
Noten sorgen dafür, dass die Schüler:innen oft nicht mehr den Zusammenhang zwischen ihren Leistungspotenzialen und einem bestimmten Ergebnis sehen können. Gerade bei hochbegabten Kindern merke ich: Die haben überhaupt keinen Bezug mehr zu ihrem intellektuellen Vermögen und zu dem, was am Ende dabei herumkommt. Die fühlen sich komplett ohnmächtig und denken: „Wenn ich eine gute Note hatte, dann passte die Aufgabe vielleicht gerade zufällig.“
Wie versuchst Du, das aufzufangen?
Das erste ist auf jeden Fall zu begreifen, was Leistungsbewertung mit Kindern macht. Da kann ich ansetzen und zeigen: Leistungsbewertung hat nicht den Fokus zu gucken, was ihr alles nicht könnt. Leistungsrückmeldung und Feedback haben vor allen Dingen damit zu tun, dass ihr euch umfassend kennenlernt, das heißt: Wo ihr gerade steht, was schon gut gelingt, wie es weitergeht.
Das zweite ist, diese ganze Beurteilungs-, Bewertungs-, Feedbacksache so transparent wie irgend möglich zu machen. Kinder sollten ganz genau wissen: Was wird von mir erwartet? Was muss ich für eine bestimmte Rückmeldung oder ein bestimmtes Ergebnis tun? Je transparenter das ist, umso mehr haben Kinder das Gefühl: Ich bin dieser Sache nicht völlig ausgeliefert.
Und ich versuche, Feedback aus möglichst verschiedenen Bereichen kommen zu lassen. Kinder, die zum Beispiel eine Legasthenie haben, kriegen natürlich in diesem Bereich, der an sehr vielen Stellen von Schule eine Rolle spielt, permanent das Feedback: „Naja, klappt halt noch nicht so wie bei den anderen.“ Also muss man gut gucken, dass man genügend Feedbackbereiche hat, die zeigen: Hey, aber es gibt auch ganz viele Dinge, die schon gelingen.
Außerdem arbeite ich mit einem kleinen Portfolio-Ordner. Zwischendurch, wenn zum Beispiel eine Arbeit oder ein Arbeitsblatt im Unterricht richtig gut gelingt, kommt das dort hinein. Das trainiert auch meinen Blick. Und darin ist auch ein Feedbackbogen mit den folgenden Punkten: Das hat mir gut gefallen. Das würde ich mir das nächste Mal noch von Frau Niechzial wünschen. Das habe ich gut gemacht. Hieran will ich noch weiterarbeiten. Das würde ich noch wissen wollen.
All das ist da drin, sodass dieser Test-Moment bei den klassischen benoteten Tests nur noch ein Moment von vielen ist und so dem Ganzen den Schrecken nimmt.
Und ich baue in Klasse 1 auch die ganze Zeit kleine „Ich zeige, was ich kann“-Momente ein. Wir haben einen kurzen Bogen, da wird nichts benotet, sondern nur gefragt: Wo bin ich jetzt nach dieser Woche? Habe ich die Themen dieser Woche ganz gut umrissen? Damit kann man sehen, an welcher Stelle die Schülerin oder der Schüler nächste Woche noch mal ran muss.
All diese Dinge greifen ineinander. Das sind so kleine Stellschräubchen, die man nach und nach drehen kann. Die habe ich nicht alle auf einmal eingeführt, sondern das ist über die Jahre immer ein Schrittchen weiter gegangen.
Wenn Du einen idealen Rahmen insbesondere in Bezug auf Leistungsbewertung hättest – wie würde der aussehen?
Der ideale Rahmen kommt auf jeden Fall ohne Noten aus. Im idealen Rahmen haben wir personelle und zeitliche Ressourcen, regelmäßig mit jedem Kind zu besprechen: Wo stehst du gerade? Wie geht es dir gerade? Wie machen wir weiter? Wichtig ist dieser stetige gemeinsame Reflexionsprozess: Ich gebe meine Beobachtung, das Kind gibt seine Beobachtung. Ich glaube, dass das die Kinder am Ende wirklich kompetent macht. Dann gehen Kinder nach ihrer Schulzeit raus und sagen: „Das bin ich, das kann ich, hier könnte ich noch weiter üben, wenn ich möchte und daran Interesse habe. Wenn nicht: Vielleicht muss ich auch nicht immer alles wollen und können.“
Hast Du eigentlich den Eindruck, dass hochbegabte Kinder mit Themen wie Beobachtung oder Selbstreflexion auf besondere Weise umgehen?
Ich habe das Gefühl, dass hochbegabte Kinder einen Hauch mehr dazu neigen, sich selbst unter Druck zu setzen und oft einen perfektionistischen Anspruch an sich haben. Je mehr Sicherheit ich dann anbiete, sodass sie das Gefühl haben, sie haben wirklich eine reelle, faire Chance das zu zeigen, was sie können, umso besser.
Und was ich ganz spannend finde ist, dass es in der Tendenz hochbegabten Kindern schwer fällt, über ihre Leistungen zu sprechen und auch Bezüge herzustellen, in Form von: „Das habe ICH geleistet. Weil ICH etwas kann und mich angestrengt habe, ist DAS dabei rausgekommen!“ Sie darin sicherer zu machen, darin steckt ein großes Potenzial.
Saskia Niechzial rät im Kontext von Leistungsrückmeldung auch dazu, nicht nur die Schüler:innen zur Reflexion anzuregen, sondern genauso die eigene Arbeit als Lehrkraft in den Blick zu nehmen.
Wir Lehrkräfte müssen an unserer Haltung arbeiten, wir müssen die Fehlerbrille absetzen und immer wieder sagen, dass Bewertung nicht nur defizitär ist, sondern Bewertung, Rückmeldung und Feedback auch all das Gute in den Blick nehmen muss. In unserem Schulsystem kommt das zu kurz und ich muss mich selbst – obwohl ich schon so weit bin in diesem Prozess – immer wieder daran erinnern. Das heißt, es bleibt die ganze Zeit sehr aktive Arbeit.
Ich kann mir zum Beispiel vornehmen, ein einziges Kind mal zehn Minuten lang zu beobachten und dabei zu schauen, was gerade so richtig gut gelingt. Etwa, dass er oder sie ohne Murren in den Sitzkreis gekommen ist oder mit einer Aufgabe direkt angefangen hat. Ein anderes Beispiel wäre, dass ich überlege, was ein Kind im Kopf eigentlich macht, wenn eine bestimmte Aufgabe immer falsch gerechnet wird. Denn da steckt in 99 Prozent der Fälle etwas sehr, sehr Kluges dahinter. Man muss sich selbst also immer wieder in eine offene Haltung bringen und Fehler dabei auch als Potenzial sehen.
Immer wieder wird die „mangelhafte Aussagekraft traditioneller Leistungsbeurteilung“ 1 festgestellt. Gleichzeitig hält sich die Notengebung aber recht beharrlich als ein zentrales Element von Schule. Wampfler und Nolte vermuten: „Weil Lehrende Noten setzen müssen und im System wesentliche Funktionen an Noten gebunden sind, müssen Beteiligte ausblenden, wie problematisch die Notensetzung an sich ist“ 2. Außerdem sind an die Abkehr von einem gewohnten und traditionell verankerten System wie dem der Noten auch konkrete Befürchtungen gekoppelt.
Manchmal äußern Eltern die Sorge: „Wenn wir keine Noten mehr haben, wie soll das überhaupt funktionieren? Woher weiß ich zum Beispiel, auf welche Schule das Kind später gehen soll?“ Was würdest Du darauf antworten?
Das Problem ist, dass man nicht einfach sagen kann: „Das eine Rädchen machen wir mal weg und dann passt es schon.“ Dieses ganze System ist kulturell und gesellschaftlich gewachsen und greift so stark ineinander, dass es sich die ganze Zeit selbst erhält. Und dann sagen Lehrkräfte: „Naja, ich könnte mir schon vorstellen, auf Noten zu verzichten, aber die Eltern wollen doch Noten!“ Die Eltern wollen auch Noten, aber warum? Sicher nicht, weil sie sagen: „Es ist so toll, wenn mein Kind mit einer 5 nach Hause kommt. Da freue ich mich immer richtig!“
Wenn man sagen würde: Wir machen das alles weg, diese ganzen Selektionsfunktionen, wir schaffen andere Wege. Wenn wir endlich mal komplett infrage stellen würden, ob es richtig sein kann, dass Kinder zitternd in Klasse 4 sitzen und Notenschnitte schaffen müssen, damit sie aufs Gymnasium gehen dürfen. Wenn sie 10 Jahre alt sind! Es gibt so viele Kinder, die sich plötzlich in bestimmten Bereichen weiterentwickeln, und dann passt eine kurz zuvor getroffene Schulgangsentscheidung gar nicht mehr.
Wenn Eltern regelmäßig Rückmeldungen bekommen und einen guten Austausch mit der Lehrkraft haben, wenn sie wissen, dass es andere Systeme gibt als Noten, würde kaum jemand von ihnen sagen: „Ich finde diese sechs Zahlen trotzdem toll.“ Das hängt ja wirklich daran, DASS es momentan noch so ist, DASS es Schulwegsentscheidungen betrifft. Und natürlich sitze ich dann als Elternteil da und denke mir: „Die Lehrkraft will jetzt auf Noten verzichten, die Schule auch – ja, aber, wie soll das denn gehen?“ Diese Ängste verstehe ich. Und da müssten wir eigentlich gesamtsystemisch, wie an so vieles, ran.
Momentan resultiert für Dich als Lehrkraft daraus vermutlich wesentlich auch die Aufgabe, Sicherheit zu vermitteln?
Ja, zum jetzigen Zeitpunkt ist es wichtig, Eltern an die zu Hand geben, dass Noten vielleicht in einem kurzen Moment Entscheidungskraft haben und natürlich auch ein BildungsUNgerechtigkeitsfaktor sind, aber dass sich gleichzeitig mit einer Fünf in Mathe das Leben nicht ändert. Ich bringe immer mein Zeugnis mit, einmal zum Elternabend, einmal bei den Kindern, und da sind drei Fünfen drauf. Ich war versetzungsgefährdet. Und ich sage: „Schaut mal, ich lebe noch!“
Wenn Eltern sich Sorgen machen, sind das in der Regel Eltern, die ein Interesse daran haben, ihre Kinder zu unterstützen, und dann kann man ganz gut beruhigen und sagen: „Ja, jetzt haben wir diese Noten noch, und jetzt ist es so, aber SIE entscheiden, wie sie zu Hause zu Leistung stehen. Und wenn es jetzt gerade nicht das Gymnasium ist, dann ist das jetzt so. Zumal wir ohnehin infrage stellen können, ob das immer das Ziel sein muss. Bleiben Sie dran, unterstützen Sie Ihr Kind gut, fangen Sie es auf. Dann ist es sehr wahrscheinlich, dass ziemlich viel möglich ist.“
Es wird deutlich: Ein Blick auf Feedback und Bewertung in Schule ist zentral, wenn es um Bildungs- und Begabungsgerechtigkeit geht. Und ganz praktisch gibt es viele kleine Möglichkeiten, die sich für die Schaffung von konstruktiven und individualisierten Formen der Leistungsbewertung nutzen lassen. Dabei sollten diese einzelnen Möglichkeiten nicht isoliert betrachtet werden, sondern als Teil eines Gesamtpakets – basierend auf Wissen, Haltung und Intention. Machen sich Lehrkräfte auf den Weg, Schule und Unterricht mit dieser Perspektive zu gestalten, tragen sie einen wichtigen Teil zu einem begabungsgerechteren Bildungssystem bei.
Eine persönliche Frage zum Schluss:
Was ist für mich fair/Fairness?
Was sagen Jugendliche dazu?