In der Warteschleife: auf der Suche nach einem Therapieplatz
Ein typischer Montagmorgen: Praxisräume aufschließen, schnell einen Kaffee machen und den Computer hochfahren, um die E-Mails vom Wochenende zu checken. Wie immer suchen gleich mehrere Familien händeringend einen Therapieplatz für ihr Kind. Einige E-Anfragen schildern ausführlich die Problemlage, andere sind knapp gehalten, auf das Wesentliche reduziert. Die Kernbotschaft ist immer dieselbe: „Wir brauchen Hilfe. Und das am besten sofort.“
Ich bemühe mich stets, Hilfesuchenden so zeitnah wie möglich zu antworten – viel zu oft mit folgenden Worten: „Leider kann ich aktuell keine neuen Patient:innen aufnehmen. Ich führe eine Warteliste, muss jedoch darauf hinweisen, dass es mehrere Monate dauern wird, bis ich mit neuen Therapien starten kann …“
Durch den regelmäßigen Austausch mit anderen Therapeut:innen, weiß ich, dass es in fast jeder psychotherapeutischen Praxis für Kassenpatient:innen derzeit ähnlich düster aussieht, was die Wartezeiten anbelangt. Globale Krisen wie die Corona-Pandemie, der fortschreitende Klimawandel, die Kriegsgeschehnisse in und außerhalb von Europa hinterlassen zunehmend psychische Spuren bei Jung und Alt. Es überrascht daher nicht, dass über die letzten Jahre die Nachfrage nach psychotherapeutischen Behandlungen stark gestiegen ist.
Mangelware Therapieplätze
Therapieplätze sind vor diesem Hintergrund mehr denn je Mangelware. Ernüchternd ist das. Kommen klinische Studien, die sich mit der Wirksamkeit von Psychotherapien auseinandersetzen, doch alle zu einem ähnlichen Ergebnis: Je länger Hilfebedürftige auf einen Therapiebeginn warten müssen, desto höher ist das Risiko einer Chronifizierung. Gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wiegt diese Tatsache besonders schwer, denn Entwicklungsschritte, die in der Kindheit und Adoleszenz einmal verpasst sind, lassen sich oftmals nicht so einfach nachholen.
Kurz vor Feierabend checke ich erneut meinen E-Mail-Account. Eine Mutter, der ich am Morgen den Hinweis auf die Warteliste geschickt habe, antwortete: „Wir haben uns schon gedacht, dass Sie unsere Tochter Anna nicht direkt zur Behandlung aufnehmen können. Da wir uns gezielt auf die Suche nach einer Therapeutin gemacht haben, die sich mit dem Themenfeld Hochbegabung auskennt, nehmen wir wohl oder übel auch etwas längere Wartezeiten in Kauf.“
Ich schlage einen Termin für ein unverbindliches Erstgespräch vor. So können Anna und ich uns gegenseitig kennenlernen. Auch kann ich mir vor der Vergabe eines Wartelistenplatzes ein genaueres Bild von Annas aktuellen Belastungen machen.
Chronische Unterforderung als psychischer Belastungsfaktor
Zwei Wochen später sitzt Anna mit ihrer Mutter auf meiner Praxiscouch. Die Zwölfjährige wirkt nervös. Nach einem kurzen Smalltalk steige ich sachte in die Exploration ein: „Ich würde gerne mehr darüber erfahren, was Dich genau in meine Praxis geführt hat?“ Nach ein paar Sekunden Stille beginnt die Mutter auszuführen: „Wir wissen, dass es viele Kinder gibt, denen es in und außerhalb der Schule noch viel schlechter geht als unserer Anna. Anna hat ja eigentlich Glück mit ihrer hohen Intelligenz. Und von den Noten her läuft es nach wie vor prima. Trotzdem haben wir das Gefühl, dass es ihr schon seit Längerem nicht gut geht und es ihr helfen würde, mal mit jemand Außenstehendem zu reden.“
Ich lächle Anna aufmunternd an und frage nach: „Anna, kannst Du mal versuchen, mit eigenen Worten zu beschreiben, warum es Dir zurzeit nicht so gut geht?“ Erst zögerlich und dann immer offener beschreibt Anna ihren Schulalltag in der 7. Klasse eines Gymnasiums. Laut und chaotisch gehe es in vielen Schulstunden zu. Zwei ihrer Lehrerinnen seien in diesem Halbjahr krankheitsbedingt für gleich mehrere Wochen ausgefallen. In ihrer Klasse mit 28 Schüler:innen falle es Anna zunehmend schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Sie mutmaßt selbst, dass dies damit zusammenhängen könne, dass es ihr oft viel zu langsam voran gehe mit dem Unterrichtsstoff.
Der Leistungsstand der Klasse sei für ein Gymnasium „erschreckend niedrig“, führt Annas Mutter aus, was sicherlich auch Folge des coronabedingten Unterrichtsausfalls sei. „Heutzutage Lehrer zu sein, ist nicht einfach. Bei fast dreißig Kindern in einer Klasse kann nicht immer auf jeden eingegangen werden. Aber so langsam machen wir uns Sorgen, dass Anna mit ihren Bedürfnissen so gar nicht gesehen wird“.
In der Grundschule sei das noch anders gewesen. Hochmotiviert sei Anna, die bereits vor der Einschulung flüssig gelesen und im Hunderterraum gerechnet habe, damals gewesen. Die Klassenlehrerin hätte sich von Beginn an große Mühe gegeben, Anna durch „Spezialaufgaben“ hinreichend zu fördern. „Jetzt macht sich an der Schule leider niemand mehr groß Gedanken darüber, wie man Anna etwas mehr fördern kann. Diese endlosen Wiederholungen sind für Anna vor allem in ihrem Lieblingsfach Mathematik eine Qual. Und auch in Deutsch und Englisch zieht sich der Unterricht wie Kaugummi.“
Hochbegabt, überangepasst … und depressiv?
Was macht das psychisch mit Anna, möchte ich wissen. Anna berichtet: „Wenn ich abends im Bett liege und an den nächsten Schultag denke, bekomme ich Bauchschmerzen. Manchmal möchte ich morgens gar nicht aufstehen und lieber zu Hause bleiben.“ Die Mutter ergänzt, dass Anna oftmals bedrückt wirke und bei Kleinigkeiten anfange zu weinen. Anna habe auch immer seltener Verabredungen am Nachmittag und ziehe sich mehr und mehr zurück. In meinem Kopf formuliere ich erste Verdachtsdiagnosen. Zusammengenommen könnten die von Mutter und Tochter geschilderten Symptome durchaus Anzeichen einer beginnenden Depression sein. Den Lehrkräften sei Annas negative Entwicklung jedoch bislang nicht aufgefallen. „Anna gehört ja nach wie vor zu den Leistungsträgern der Klasse. Immer höflich und ruhig. Überangepasst. Als ich beim Elternsprechtag ihrem Klassenlehrer gegenüber vorsichtig angedeutet habe, wie es Anna geht, zeigte er sich überrascht und mitfühlend. Gleichzeitig hat er uns wenig Hoffnung auf Änderung gemacht. Es gäbe da im Klassenverband zu viele andere Kinder, die eine individualisierte Ansprache noch viel dringender benötigten als Anna.“
Die Schilderungen von Anna und ihrer Mutter lösen vielfältige Gefühle in mir aus. Versetze ich mich in Annas Lage, dann spüre ich Frust und eine zunehmende Schulunlust. Die Sorgen von Annas Mutter kann ich gut nachempfinden. Es ist belastend zu beobachten, wie die eigene Tochter immer stärker in Passivität verfällt. Aber auch in Annas derzeitigen Klassenlehrer kann ich mich ohne viel Mühe hineinversetzen.
Begabungsgerechtigkeit im Schulalltag
Ich habe in meiner Praxis eine ganze Reihe von Kindern in Behandlung, die aufgrund verschiedenster Notlagen in ihrer Klasse ein „Störverhalten“ an den Tag legen, laut und aufmüpfig werden und leistungsmäßig weit unter dem Klassendurchschnitt bleiben. Solche Kinder binden im Unterrichtsgeschehen fast zwangsläufig mehr Aufmerksamkeit als eine „überangepasste“ Anna. Von Kindern wie Anna zu erwarten, im Schulalltag dann eben einfach „mitzulaufen“, ist jedoch alles andere als fair. Begabungsgerechtigkeit in der Unterrichtspraxis hieße, die unterschiedlichen Lernbedürfnisse aller Schüler:innen gleichermaßen ernst zu nehmen. Werden die Bedürfnisse hochbegabter Schüler:innen dauerhaft übergangen, kann das auch für sie ernste Folgen für ihre Entwicklung und psychische Gesundheit haben. Schon oft habe ich es in meiner psychotherapeutischen Arbeit mit hochbegabten Kindern wie Anna hautnah erleben können, dass eine fortwährende kognitive Unterforderung eine signifikante psychische Belastung nach sich zieht.
Ressourcenverteilung in der Schule und in der Psychotherapie
Angesichts der schlechten (personellen) Ausstattung von Schulen ist es für Lehrkräfte sicher schwierig, immer begabungsgerecht zu handeln. Das ist für alle Beteiligten mehr als frustrierend – vor allem für die betroffenen Schüler:innen. In den Sitzungen mit meinen Patient:innen muss ich als Therapeutin zum Glück nicht strategisch planen, wie ich meine Aufmerksamkeit verteile. Anders als im Regelschulbetrieb habe ich in der Einzeltherapie einen vergleichsweisen großen Spielraum, individuell auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen. So kann ich mir zu Anfang eines jeden Therapieprozesses ausreichend Zeit für den Beziehungsaufbau nehmen und dann ein möglichst individualisiertes Therapieprogramm konzipieren.
Dennoch treiben auch mich in meinem Berufsalltag Fragen der Verteilungsgerechtigkeit um. Denn auch ich kann nur eine begrenzte Anzahl an Therapieplätzen anbieten. Denn es gibt schlichtweg nicht genügend Therapieplätze. Um meine verfügbaren Behandlungskapazitäten möglichst „gerecht“ zu verteilen, muss ich mitunter abwägen, ob die Anliegen potenzieller Neupatient:innen „klinisch bedeutsam“ sind. Oder zugespitzt: ob es den mir vorgestellten Kindern und Jugendlichen „schlecht genug“ für eine Therapie geht.
Mehr Mittel für Prävention bereitstellen
Es ist in meinen Augen ein Missstand, dass im psychotherapeutischen Setting Präventionsmaßnahmen kein größerer Stellenwert zugeschrieben werden kann. Oftmals beginnen Behandlungen deshalb viel zu spät. Auch Anna muss ich nach unserem Erstgespräch erst einmal wieder nach Hause schicken. Ich setze sie auf die Warteliste und werde in einigen Monaten erneut Kontakt mit ihrer Familie aufnehmen. Dann kann ich mit einer umfassenden Diagnostik starten, um zu überprüfen, ob bei Anna tatsächlich eine Depression oder eine andere psychische Störung vorliegt.
Zu welchem Ergebnis ich hierbei kommen werde, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass die Schule einen bedeutsamen Einfluss auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat. Und auch eine chronische Unterforderung gehört dabei zu den Risikofaktoren. So hoffe ich für Anna, dass man in ihrer Schule trotz aller Mittelknappheit vielleicht doch noch Möglichkeiten findet, besser auf ihre Begabung einzugehen, so dass sie auch ohne eine Therapie wieder mit mehr Freude und Motivation ihren Alltag erleben kann.
Eine persönliche Frage zum Schluss:
Was ist für mich Gerechtigkeit?
Was sagen Kinder dazu?
Zum Weiterlesen
Pressestelle der Universität Leipzig (2022): Wartezeiten für Therapie stark verlängert – Schlechtere Qualität der Versorgung. Studie: Kinder von Pandemie besonders hart betroffen. Hier online abrufbar.
Robert Bosch Stiftung (o. J.): Monitor Bildung und Psychische Gesundheit (BiPsy-Monitor). Hier online abrufbar.
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (2023): Offener Brief an Bundesgesundheitsminister Prof. Lauterbach. Hier online abrufbar.