Hochbegabte unterstützen

Beratung

Das TAD-Rahmenmodell – ein Talententwicklungsmodell

Von welchen personenbezogenen Merkmalen hängt es ab, ob es Menschen gelingt, ihre individuelle Begabung in außergewöhnliche Leistungen zu überführen? Folgt die Entwicklung musischer, sportlicher oder mathematischer Hochbegabungen jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten oder gibt es domänenübergreifende Gemeinsamkeiten? Und wann im Entwicklungsverlauf braucht es welche Unterstützung, damit aus hohen Potenzialen außergewöhnliche Leistungen werden? Um diese Fragen systematischer klären zu können, hat ein Team aus internationalen Forscher:innen das TAD-Framework entwickelt, das hier vorgestellt wird.

Von: Christine Koop


Einordnung in Talententwicklungsmodelle

Unter den Begabungsmodellen gibt es eine ganze Reihe, die versuchen zu beschreiben, welche Einflussfaktoren außergewöhnliche Leistungen bedingen. Zu diesen sogenannten Talententwicklungsmodellen gehören beispielsweise Renzullis Drei-Ringe-Modell 1, das WICS-Model of Giftedness von Sternberg 2 und das Megamodel von Subotnik, Olszewski-Kubilius und Worell 3. Auch wenn sich die Modelle voneinander unterscheiden, weisen sie dennoch Gemeinsamkeiten in ihren Grundannahmen auf, die sie von anderen Erklärungsmodellen abheben 34.

Bild: Judywie / photocase.de

Talententwicklungsmodelle …

  •  ... betrachten betrachten Begabung aus einer dynamischen und veränderbaren Perspektive und befassen sich mit der bereichsspezifischen Natur von Talenten und deren Entwicklung.
  •  ... zeigen auf, dass Hochbegabung verschiedene Erscheinungsformen annehmen und sich in unterschiedlichen Leistungsdomänen zeigen kann.
  •  ... erkennen an, dass eine hohe Begabung (auch Veranlagung) für die Entstehung außergewöhnlicher Leistungen von großer Bedeutung ist, erachten sie aber nicht als hinreichende Voraussetzung für die Entwicklung spezifischer Talente. Vielmehr wird ein breiteres Bündel an personenbezogenen Merkmalen sowie das Zusammenspiel von allgemeinen und spezifischen Fähigkeiten als Basis für ein besonderes Leistungspotenzial in einem Talentbereich betrachtet.
  •  ... vermuten, dass sich die kognitiven und nicht-kognitiven Fähigkeiten einer Person im Laufe der Talententwicklung in Abhängigkeit vom jeweiligen Leistungsbereich weiter ausdifferenzieren, damit also selbst form- und veränderbar sind.

Für die pädagogische Praxis sind diese Modelle von großem Interesse, da sie helfen, die für die Talententwicklung relevanten Kompetenzen zu identifizieren und Antworten darauf zu finden, wie sie sich diagnostisch erfassen und pädagogisch beeinflussen lassen.

Ziel und zentrale Annahmen des TAD-Rahmenmodells

Das TAD-Framework 5 oder TAD-Rahmenmodell (TAD steht für Talent Development in Achievement Domains) ist ein Talententwicklungsmodell und eine Weiterentwicklung des Megamodels von Subotnik, Olszewski-Kubilius und Worell 3. Ziel des TAD-Rahmenmodells ist es, bedeutsame Faktoren für die Talententwicklung zu identifizieren, und zwar in Abhängigkeit vom jeweiligen Talentbereich. Was macht beispielsweise eine besondere Begabung in Mathematik, in Musik oder im Sport aus? Gibt es Faktoren, die für alle Talentbereiche von gleich großer Bedeutung sind? Und welche spezifischen Faktoren sind jeweils wichtig?

Anders als andere Modelle zählt das TAD-Rahmenmodell Faktoren, die die Entwicklung von Hochbegabung zu Hochleistungen beeinflussen können, nicht nur auf, sondern definiert verschiedene Niveaustufen im Talententwicklungsverlauf. Diesen Niveaustufen werden fähigkeits- und persönlichkeitsbezogene Merkmale zugeordnet, die eine weitere Talententwicklung positiv beeinflussen (siehe Abb. 1). Welche Fähigkeiten beeinflussen, ob sich jemand in Mathematik außergewöhnlich schnell überdurchschnittlich hohe Kompetenzen aneignet und damit ein besonderes Talent erkennen lässt? Und was trägt dazu bei, dass jemand, der an einem Musikinstrument schon überdurchschnittliche Fertigkeiten entwickelt hat, sich noch weiter verbessert und sich in der Folge auch unter sehr guten Musiker:innen hervorhebt?

Mit dem TAD-Rahmenmodell möchten die Autor:innen zum einen die Forschung inspirieren, domänenspezifischen Fragen der Talententwicklung auf den Grund zu gehen. Zum anderen möchten sie der Praxis konkrete Anhaltspunkte geben, wann im Verlauf einer Talententwicklung welche diagnostischen und fördernden Maßnahmen von Bedeutung sein können.

Das TAD-Rahmenmodell sieht Begabung als Personmerkmal an, das kognitive Fähigkeiten, verschiedene Persönlichkeitsmerkmale und auch bereits erworbene Fertigkeiten umfasst 5. Diese entwickeln sich im Wechselspiel mit Umweltfaktoren und Erbanlagen. Das TAD-Rahmenmodell will aus einer vorrangig psychologischen Forschungsperspektive in erster Linie beschreiben helfen, welche Merkmale aufseiten der Person eine Talententwicklung begünstigen. Umweltfaktoren werden indirekt berücksichtigt, zum Beispiel dadurch, dass sie die Ausprägung personenbezogener Merkmale und das Erleben der eigenen Kompetenzen und Motivationen beeinflussen 6.

Abb. 1: Das „Talent Development in Achievement Domains Framework (TAD-Framework)“ in Anlehnung an Preckel 2021 6, S. 274.

Die vier Abschnitte der Talententwicklung

Im TAD-Rahmenmodell werden für die Talententwicklung in Leistungsdomänen vier Abschnitte beschrieben: Potenzial, Kompetenz, Expertise sowie außergewöhnliche Leistung (vgl. Abb. 1). Eine Leistungsdomäne ist dadurch charakterisiert, „dass sie über eigene Qualitäts- und Bewertungskriterien verfügt, mit denen sich Verhaltensweisen oder Ergebnisse bewerten lassen“ (6, S. 274). Innerhalb der genannten vier Abschnitte erfolgt eine zunehmende Spezialisierung innerhalb der Domäne, zunächst in Form eines Profils („Meine Stärke ist das Zeichnen und künstlerische Gestalten.“), später wird das Expertentum identitätsstiftend („Ich bin Künstlerin.“). Zudem wird angenommen, dass je Abschnitt unterschiedliche Personenmerkmale von hervorgehobener Bedeutung für den weiteren Prozess der Talententwicklung sind: „Was Begabung inhaltlich ausmacht, ist zum einen teilweise domänenabhängig und verschiebt sich zum anderen im Laufe der Talententwicklung“ (6, S.  284). So werden beispielsweise selbstregulative Fähigkeiten im Verlauf der Talententwicklung bedeutsamer, weil Lern- und Entwicklungsprozesse immer stärker selbst gesteuert werden müssen.

Potenzial

Individuelle psychologische Merkmale beeinflussen, wofür sich eine Person interessiert und womit sie sich intensiver beschäftigt. Ein besonderes Potenzial oder eine Begabung für eine Domäne zeigt sich zu Beginn der Talententwicklung nicht nur in einer schnellen Lern- und Merkfähigkeit, sondern vor allem auch in großer Offenheit, Eigenaktivität und intrinsischer Motivation bei der Beschäftigung mit diesem Bereich. Erste Inhalte werden auffallend schnell, teilweise intuitiv und ohne systematische Instruktion, vielleicht auch autodidaktisch, erlernt. Schnell werden größere Herausforderungen gesucht und mit Freude angegangen.

Max entdeckt seine Faszination für das Weltall bei einem Besuch des Planetariums. Er sammelt alle Informationen über Sterne, Planeten und die Milchstraße, die ihm zugänglich sind und kennt in kurzer Zeit nicht nur zahlreiche Sternbilder, sondern beginnt sich auch für astrophysikalische Phänomene wie Schwarze Löcher sowie für die Entstehung und den Tod von Sternen zu interessieren. Schnell stößt die Familie von Max an Grenzen, wenn es darum geht, Antworten auf seine immer komplexeren Fragen zu finden.

Kompetenz

Dem Abschnitt der Potenzial-„Erweckung“ folgt das systematische Aneignen von Wissen und Fertigkeiten in dem Talentbereich, quasi der Erwerb des „Handwerkzeugs“. Eine schnelle Lernfähigkeit spielt weiterhin eine große Rolle, aber weitere nicht-kognitive Fähigkeiten gewinnen an Bedeutung. Es braucht Ausdauer für komplexere Anforderungen, Frustrationstoleranz im Umgang mit Fehlern und Schwierigkeiten, das Bewusstsein und Strategien für die Steuerung des eigenen Lernens sowie ein positives fähigkeitsbezogenes Selbstkonzept als Voraussetzung für das nötige, immer zeitintensiver werdende Engagement. Die Person ist zunehmend in der Lage, die erworbenen Kompetenzen so einzusetzen, dass sie domänenspezifische Anforderungen oder Ziele selbstständig meistert.

Luisa hat schon früh Begeisterung fürs Zeichnen und Malen gezeigt und fiel durch detailreiche Zeichnungen auf. Nun besucht sie regelmäßig Kunst- und Zeichenkurse, um ihre Fertigkeiten zu erweitern und neue Techniken zu erlernen. Dabei hat sie das Glück, einen Kursleiter zu haben, der sie ermuntert, Risiken und neue Wege einzugehen, vermeintliche Fehler als Lerngelegenheiten zu sehen und eigene kreative Lösungen zu finden. Bei regelmäßigen Museumsbesuchen beeindruckt Luisa ihre Eltern durch ihren reflektierten Blick auf die ausgestellten Kunstwerke. Für die Schulzeitung gestaltet sie regelmäßig Illustrationen und nimmt erfolgreich an Kunst-Wettbewerben teil.

Expertise

Expertentum zeichnet sich durch beständig überdurchschnittliche Leistungen in der Domäne aus. Erworbenes Wissen beziehungsweise erworbene Fertigkeiten werden in hoher Qualität und Flexibilität angewendet. Die Fähigkeit, typische, auch komplexe Herausforderungen in der Domäne zu erkennen und erfolgreich und kreativ zu lösen sind hervorragend. Selbstregulative Kompetenzen sind von noch größerer Bedeutung, um auch in dieser Phase eine zielgerichtete Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erreichen. Sozial-emotionale Kompetenzen werden immer wichtiger, um auch vermeintliche Phasen der Stagnation zu bewältigen oder um Ziele zu erreichen, die die Zusammenarbeit oder den Austausch mit anderen erfordern.

Lukas war im vergangenen Jahr Bundessieger bei „Jugend forscht“. Jetzt beginnt er hochmotiviert ein Frühstudium im Fach Biochemie. Biologie und Chemie sind kein Problem, da weiß er schon immens viel. Aber für die Kurse in Mathematik und Physik muss er sich richtig „reinknien“. Er will aber unbedingt dranbleiben, damit er im nächsten Semester auch an den Laborpraktika teilnehmen kann, wie es ihm die Professorin zugesichert hat. Die Reaktionen der anderen Studierenden auf ihn als 17-Jährigen sind eher distanziert. Lukas wünschte, er hätte schon jemanden kennengelernt, mit dem er die „gleiche Wellenlänge“ hat.

Außergewöhnliche Leistung

Schließlich können Leistungen erbracht werden, die selbst unter Expert:innen der Domäne als außergewöhnlich gelten und die die Domäne selbst weiterentwickeln und verändern helfen. Hier braucht es eine große psychische Stabilität, um auch lange hindernisreiche oder scheinbar erfolglose Arbeitsphasen erfolgreich zu bewältigen. Auch kann eine hohe soziale Kompetenz bedeutsam sein, zum Beispiel um andere Menschen von eigenen Ideen zu überzeugen.

Die Einordnung von Leistungen als außergewöhnlich kann vielfach nur durch andere Expert:innen einer Domäne vorgenommen werden. Populäre Beispiele kennen auch Laien aus den unterschiedlichsten Bereichen und Epochen: Der unverwechselbare Malstil von Vincent van Gogh, die Grundsteinlegung für die heutige Radiologie durch Marie Curie, die (Mit-)Entwicklung des lautmalerischen Scat-Gesangs durch Ella Fitzgerald oder auch die Entwicklung des Fosbury-Flops im Hochsprung durch Dick Fosbury. Sie alle beeinflussten ihr jeweiliges Fachgebiet und dessen Weiterentwicklung.

Implikationen für die Praxis

Auch wenn das TAD-Framework in erster Linie entwickelt wurde, um die psychologische und interdisziplinäre Forschung zu inspirieren, bietet es auch für die Praxis hilfreiche Anhaltspunkte für das Identifizieren und Fördern von hohen Begabungen. Mit Blick auf den Auftrag von Kindertageseinrichtung und Schulen sollen hier vor allem die Implikationen des Entwicklungs-abschnitts Potenzial hervorgehoben werden.

Aus dem TAD-Rahmenmodell lässt sich ableiten, dass es am Anfang des Talententwicklungsprozesses vor allem Gelegenheiten braucht: zum Ausprobieren und Entdecken aufseiten der Kinder, zum Beobachten aufseiten der Fach- und Lehrkräfte. Viele Kinder haben das Glück, in ihren Familien vielfältige Anregungen zu erhalten. Für andere, deren Familien nicht über diese Chancen verfügen, ist es wichtig, dass Kindertageseinrichtung und Schule Interessen wecken und vorhandene Motivationen fördern.

Kindertageseinrichtungen können Kindern durch eine reichhaltige Ausstattung und vielfältige Angebote ermöglichen, sich in den unterschiedlichsten Bereichen auszuprobieren. Unter dem Blick der Talentförderung ist es wichtig, dass die Kinder dabei auf verschiedenen Niveaustufen herausgefordert werden. So können beispielsweise nicht nur Stifte und Farben bereitgestellt werden. Auch junge Kinder können altersgerecht schon an unterschiedliche Mal- und Zeichentechniken herangeführt werden, indem man „echte“ Kunst unterschiedlicher Epochen mit ihnen gemeinsam erkundet und sich darüber austauscht. In einem weiteren Schritt können vielleicht sogar Versuche unternommen werden, Techniken nachzuahmen. Hierfür ist es auch möglich, regionale Künstler einzubinden, um authentische Lernerlebnisse zu schaffen.

Ähnliches gilt für den schulischen Kontext: Bislang sieht der Weg in Maßnahmen der Begabtenförderung häufig noch vor, dass Kinder auf der Basis bereits gezeigter Leistungen Zugang zu ihnen erhalten. Auf diese Weise können zahlreiche Talente übersehen werden. Eine prozessorientierte pädagogische Diagnostik ermöglicht es Lehrkräften, „fortlaufend nach Potenzialen bei ihren Schülerinnen und Schülern zu suchen und diese auch zu finden, sodass die weitere Förderung daran angepasst werden kann“ (5, S. 146). Voraussetzung ist auch hier, dass Schüler:innen herausgefordert werden und dass es Aufgabenformate gibt, bei denen sie Gestaltungsmöglichkeiten haben. Denn gerade verschiedene Lösungswege und Antworten können viel über Fähigkeiten und Potenziale verraten. Lehrkräfte wiederum müssen fachspezifische Begabungsmerkmale kennen und bewusst Gelegenheiten zu deren Beobachtung schaffen, damit sie systematisch Informationen über die Talente ihrer Schüler:innen sammeln können. Preckel und Kolleg:innen haben beispielhaft und bezugnehmend auf das TAD-Rahmenmodell im LemaS-Teilprojekt LUPE gezeigt, wie Lehrkräfte die Leistungspotenziale von Grundschüler:innen in Mathematik und im Sachunterricht suchen und erkennen können 7.

In der Entwicklungsphase „Kompetenz“ ist es von zentraler Bedeutung, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit erhalten, das für einen Talentbereich erforderliche Wissen und die notwendigen Fertigkeiten zu erwerben. Es braucht qualitätsvolle Instruktion –  auch für fortgeschrittene Lernniveaus – sowie das Bewusstmachen und Wertschätzen von Lernfortschritten, Ermunterung bei Schwierigkeiten oder neuen Herausforderungen ebenso wie die Anerkennung von Leistung. So lernen Kinder, ihre Stärken und Begabungen positiv in ihr Selbstkonzept zu integrieren und bleiben länger „am Ball“.

Entwickeln bereits Kinder und Jugendliche Expertise oder gar außergewöhnliche Leistungen kann das Schulen an ihre Grenzen bringen, weil die personellen Ressourcen begrenzt sind und dies eine hochspezialisierte Förderung von Talenten nicht zulässt. Dann kann eine adäquate Unterstützung in der gemeinsamen Suche nach außerschulischen Förderangeboten oder Mentoring-Angeboten bestehen sowie darin, die domänenspezifische Talententwicklung mit den sonstigen schulischen Anforderungen zu vereinen.