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Wenn der Kopf schneller ist als die Hand – ein Interview über Hochbegabung, LRS und mehr

Wenn der Kopf schneller ist als die Hand – ein Interview über Hochbegabung, LRS und mehr

In einer Sache besteht große Einigkeit – hohe Begabung bedeutet hohes Potenzial. Das heißt, hochbegabte Kinder und Jugendliche bringen jeweils individuelle Voraussetzungen mit, um hohe Leistungen zu erbringen. Manchmal führen allerdings äußere Umstände dazu, dass diese Potenziale nicht ausgeschöpft werden können. Und manchmal sind es auch persönliche Dispositionen, die es schwerer machen, an den eigenen Schatz von Möglichkeiten heranzukommen. Dies betrifft beispielsweise Menschen, die neben ihrer Hochbegabung eine Lernstörung oder AD(H)S mitbringen. Hier spricht man dann auch von „twice exceptional“, also doppelt außergewöhnlich.

Oktober 2024

Von: Claudia Pauly

Gerade im Schulsystem ist für Kinder und Jugendliche mit diesen zweifach ungewöhnlichen Voraussetzungen ein begabungsgerechter Bildungsweg selten selbstverständlich. Oftmals kämpfen sie nicht nur mit Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben, Rechnen oder mit der Aufmerksamkeitssteuerung, sondern auch mit Unverständnis und ungerechten Bedingungen.

Wir haben dazu mit Oskar gesprochen. Oskar ist 21 Jahre alt, hochbegabt und kann als „twice exceptional“ bezeichnet werden – denn er hat in seiner Kindheit zusätzlich die Diagnosen „Lese-Rechtschreibschwäche“ und „AD(H)S“ erhalten. Inzwischen studiert er und steht kurz vor dem Bachelor-Abschluss. Ohne umfangreiche Unterstützung von allen Seiten wäre dies vielleicht nicht möglich geworden.

Im Gespräch berichtet Oskar, wie er seine Schulzeit erlebt hat, was problematisch war, aber auch, was ihm geholfen hat. Seine Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, dass allen Schüler:innen, egal welche Herkunft, Hautfarbe, Einschränkungen sie haben, im Schulsystem eine Chance gegeben wird, damit sie ihre Potenziale entfalten können. Potenziale, auf die unsere Gesellschaft nicht verzichten kann.

Oskar, kannst Du Dich erinnern, wie Du Deine Schulzeit – insbesondere in Bezug auf die Hochbegabung, die LRS und die AD(H)S – erlebt hast?

In der Grundschule hatte ich damals das Glück, dass ich eine sehr nette, mir recht wohlgesonnene Klassenlehrerin hatte, die auch bei allen ein gutes Gemeinschaftsgefühl geschaffen hat. Ich hatte dort eine super Klasse mit Freunden und meine feste Clique, mit der ich immer lustige Sachen gemacht habe. Privat ging es mir dort also immer recht gut.

Nur ging es dann natürlich irgendwann los mit der LRS, und dass man das erste Mal gemerkt hat: Ich schreibe schlechter als die anderen. Ich hatte auch einfach nie besonders viel Spaß daran zu schreiben oder zu lesen. Außerdem hatte ich zu dieser Zeit zusätzlich Probleme mit den Augen, sodass sie zum Beispiel beim Lesen nach kurzer Zeit gebrannt haben. Das hat ziemlich viel Energie geraubt. Man hat die Schwierigkeiten auch daran bemerkt, dass meine Noten deutlich schlechter waren als die von vielen anderen. Sie waren nicht katastrophal, weil meine Eltern mich wirklich sehr lieb unterstützt haben, was ich bis heute auch sehr zu schätzen weiß, aber auch nicht gut. Für das Gymnasium hat es dann gerade noch so gereicht – wobei meine Mutter sich auch sehr dafür eingesetzt hat.

Die Grundschulzeit habe ich also trotz der LRS weitestgehend unbeschadet überstanden.

Beim Wechsel auf das Gymnasium wurde es dann aber schwieriger?

Man ist ja noch blutjung in der fünften Klasse. Dort wurde uns aber nicht das Gefühl vermittelt von: „Willkommen auf der neuen Schule! Wir wissen, das ist ein großer Schritt, kommt erstmal an“. Es war unter anderem auch deshalb sehr schwierig für mich, weil die Lehrer dieses ganze Thema LRS nicht wirklich anerkannt haben. Mein Gefühl war: Die wussten nicht so richtig, wie man damit umgehen soll. LRS ist natürlich ein viel komplexeres Thema, als nicht schreiben zu können, und hat immer ganz verschiedene Hintergründe, und das geht ja auch im Leben nie so 100% weg, nur man kann halt lernen, damit besser umzugehen. Außerdem bin ich niemand, der besonders gerne besonders viel lernt. Ich glaube, meine Mutter ist manchmal ein bisschen an mir verzweifelt, weil da doch eine gewisse … Lethargie war.

Auf sozialer Ebene lief es am Anfang zwar recht gut, aber insgesamt bin auf diesem Gymnasium nie so richtig glücklich geworden. Die Schule gilt als recht elitär. Da war schon eine hohe Dichte an Leuten, die denken können, die aber auch, ich sage mal, aus „besseren“ Elternhäusern kommen, wo du halt merkst, da ist vielleicht doch noch mal mehr Geld für den Nachhilfelehrer da, was sich natürlich am Ende auch positiv auf die Noten auswirkt. Erst als ich dann später die Schule gewechselt habe, habe ich gemerkt: Schlaue Leute hast du überall.

Das erste Gymnasium war ein sehr kompetitives Umfeld, in dem gefühlt nicht akzeptiert wurde, dass jemand auch mal länger für irgendetwas braucht, oder wo viele gar nicht bereit waren, auch mal nach links und rechts zu gucken. Das hat bei mir irgendwann zu einer Abwehrhaltung geführt. Und weil man durch die ganzen Themen natürlich auch verunsichert ist, habe ich mich immer total schnell angegriffen gefühlt, auch wenn Sachen vielleicht gar nicht mal böse gemeint waren. Mittlerweile kann ich damit viel besser umgehen.

Ich bin dann also zur Oberstufe an ein anderes Gymnasium und dabei von G8 auf G9 gewechselt. Und das war für mich die völlig richtige Entscheidung. Ich habe dort einfach noch mal eine ganz neue Chance bekommen. Dort hatte ich ein sehr akzeptierendes Umfeld für mich und Leute, die einen mehr angenommen haben. Dort habe ich wirklich tolle Freunde gefunden, die mir heute noch sehr nahestehen – die super schlau sind und jetzt an tollen Unis studieren, für die es aber in Ordnung ist, wenn man Probleme mit dem Lesen oder Schreiben hat.

Und wie lief es an der neuen Schule mit diesen Problemen?

Das Thema LRS war wieder schwierig. Irgendwann hatten wir ein Gespräch mit dem Klassenlehrer, bei dem er meinte: „Ist ja schön und gut, aber hier schreiben viele schlecht, und die anderen können sich eben keine teuren Therapeuten leisten.“ Man muss fairerweise sagen: Der Klassenlehrer war davon abgesehen toll – ich bin froh, dass ich ihn hatte. Aber ich habe ihm auch gesagt: „Ja, mag sein, aber ich habe mir das nicht ausgesucht, und es ist nicht so, dass ich zu Therapeuten renne und mir das für viel Geld attestieren lasse, damit ich 2 Punkte mehr bekomme und keinen Rechtschreibabzug. Sondern ich habe wirklich ein von der WHO anerkanntes Problem, und das kriege ich auch nicht ganz weg.“ Nach einer Weile hat er ein besseres Verständnis dafür entwickelt und auch sein Bild von mir geändert.

Generell musste man jeder neuen Lehrkraft das mit der LRS erst einmal von vorne erklären: „Ich bin nicht völlig blöd, ich weiß zum Beispiel nur nicht, wann ich das mit einem oder mit zwei s schreibe.“ Und das ist natürlich einfach immer doof. Du kannst nicht ankommen und bist erstmal akzeptiert als Person, sondern du musst erstmal für dich durchkämpfen, dass du quasi einen „normalen“ Status hast. Ein Lehrer, der mir in der Hinsicht fast am besten gefallen hat, war eigentlich vom Typ her so ein Soldat, Physiker, halt nicht so besonders empathisch – aber der hat gesagt: „Ok, ich kann das vielleicht nicht ganz nachvollziehen, aber das wird ja seine Berechtigung haben. Welchen Nachteilsausgleich bekommst Du?“ Selbst wenn er nicht hundertprozentig im Thema drin war und es verstanden hat, hat er das doch akzeptiert und ist dann da eben darauf eingegangen. Und selbst dieser total einfache Schritt war oft ein längerer Kampf.

Wie hat sich die Situation mit der LRS denn dann weiterentwickelt?

Irgendwann hatte ich ein bisschen aufgegeben, weil ich zum einen wirklich keine Lust zum Lernen hatte, aber auch weil ich dachte: Selbst, wenn ich mich Stunden länger hinsetze als alle anderen – in der Arbeit geht es eh wieder schief! Warum soll ich mir dann überhaupt noch Mühe geben? Aber kurz bevor ich die Schule gewechselt habe, war bei mir der Punkt, wo ich gesagt habe: „Es nervt mich brutal, die ganze Zeit schlechte Noten zu schreiben und der ganze Mist hier, ich will das jetzt mal in den Griff kriegen.“

Ein großer Schritt ist, erstmal zu akzeptieren, dass man da eben einen Nachteil hat. Ich hatte damals einen sehr tollen LRS-Therapeuten, der mir viel geholfen hat – auch in Bezug auf die persönliche Einstellung. Dass man nicht immer sagt: „Ich will lieber so sein wie die anderen.“ Sondern bereit ist, gezielt an den Problemstellen zu arbeiten und zu erkennen: „Okay, ich habe da ein Problem, und ich bin bereit, mich damit auseinanderzusetzen“. Zum einen war das also ein Thema von persönlichem Wachstum, was bei mir ganz stark geholfen hat, da viel zu überwinden. Und zum anderen war es das äußere Umfeld, was mir dann viel Sicherheit und viel Wohlbefinden gegeben hat.

Was mir damals mein Therapeut auch gesagt hat: Teilweise war ich im Kopf schon drei Sätze weiter und hatte das noch gar nicht mit der Hand aufgeschrieben. Ich habe mal eine alte Arbeit gefunden, darin waren teilweise Sätze, die gar nicht so richtig Sinn ergeben haben. Oder zum Beispiel: „A durch B ist gleich C“. Dann habe ich A aufgeschrieben, war im Kopf aber schon bei C, habe C aufgeschrieben und B quasi völlig vergessen.

Siehst Du da einen Zusammenhang mit Deiner Hochbegabung?

Ich finde, Hochbegabung ist schwer zu greifen. Aber ich habe schon das Gefühl, dass in meinem Kopf Sachen relativ schnell passieren – die dann aber wiederum auch relativ schnell abgehakt sind. Meine Mutter nennt es manchmal „Gedankenrasen“. Durch die Hochbegabung ist es so, dass der Kopf relativ schnell rattert und, wenn man so will, beim Schreiben der Körper nicht schnell genug mitgekommen ist.

Hochbegabung bedeutet für mich gleichzeitig: Mir fallen manche Sachen auch wesentlich einfacher. Wenn ich mich mal durchgerungen und ein Verständnis für irgendetwas habe, dann merke ich schon, dass der Kopf schneller funktioniert, und dass man auch in Sachen Kreativität – das soll jetzt gar nicht abgehoben klingen – anderen deutlich überlegen ist.

Wenn ich einmal so richtig in meinem Fokus bin und die Gedanken geordnet habe, dann bin ich relativ schnell und gut in dem, was ich tue. Ich lerne auch schnell. Auswendiglernen hasse ich zwar immer noch, aber gerade wenn ich etwas interaktiv mache, brauche ich wirklich nicht besonders lange, bis sich etwas gefestigt hat.

Hat die Hochbegabung für Dich während der Schulzeit in irgendeiner Form eine Rolle gespielt?

Ja. Irgendwann war ich relativ verzweifelt. Einmal bin ich ins Bad gegangen und habe mir groß „dumm“ auf die Stirn geschrieben, weil ich einfach nicht mehr klargekommen bin mit allem, dass ich irgendwie nur Müll produziere. Da haben mir meine Eltern erklärt: „Du bist nicht dumm. Du bist hochbegabt.“ Das war für mich immer etwas, woran ich mich ein bisschen festhalten konnte, weil ich dann dachte: „Okay, es ist nicht so, dass du völlig blöd im Kopf bist, sondern du kannst das eigentlich. Du hast das Potenzial zu allem, was du willst. Das liegt bei dir an anderen Faktoren.“

War das manchmal frustrierend – zu merken, ich könnte an so viel rankommen, aber ich schaffe es gerade nicht?

Ja, noch heute. Ich bin mittlerweile der Meinung, man muss irgendwie seinen Weg gehen und sich auch einfach mal freuen und akzeptieren, was man hat. Und auch mal stolz sein auf die Dinge, die man tut. Manchmal fällt das aber auch schwer.

Weißt Du noch, wann Du Deine Diagnosen erhalten hast?

Ich glaube, dass war ungefähr im gleichen Zeitraum, wo alles mal getestet wurde, in der Mitte der Grundschulzeit. Da habe ich auch mal eine Arbeit einfach falsch herum geschrieben – also nicht von links nach rechts, sondern von rechts nach links. Die Lehrerin hat sich das angeguckt und meinte: „Was zur Hölle ist das?“ Und meine Mutter meinte: „Halten Sie das mal gegen das Licht!“

Das war, glaube ich, einer der Punkte, wo man gemerkt hat: Mein Kopf funktioniert anders. Ich bin gar nicht doof, sondern der Kopf arbeitet irgendwie ganz schnell in sehr, sehr vielen unterschiedlichen Mustern, und manchmal ist es dann halt super schwer, die Gedanken zu konzentrieren.

Du hast erwähnt, dass Du neben LRS und Hochbegabung auch die Diagnose AD(H)S hast?

Ja. Das hat sich bei mir aber ganz gut rausgewachsen, und zum anderen ist es so, dass ich, wenn ich mich hinsetze, dann wirklich alles ausblende, das Handy ganz weit weglege und dann nur noch meinen Schreibtisch vor mir habe. Und dann geht das schon ganz gut. Dann setze ich mich immer vor eine weiße Wand, dass da auch nicht zu viel spannendes Zeug passiert. Aber ich merke schon auch: Da läuft irgendwo ein Eichhörnchen lang – und dann ist der Fokus relativ schnell weg. Das war früher noch wesentlich extremer.

Spielen die LRS und die Hochbegabung aktuell eine große Rolle für Dich – auch im Vergleich zur Schulzeit?

Im Vergleich zur Schulzeit tatsächlich deutlich weniger. Die LRS ist dadurch, dass man auf dem Laptop schreibt, relativ weg. Wenn ich mich nicht konzentriere, merke ich allerdings schon, dass ich dann gelegentlich ein bisschen Kraut und Rüben schreibe. Insofern muss beim Schreiben dann noch mal ein höherer Fokus da sein.

Und die Hochbegabung: Wenn man zum Beispiel mal eine schlechte Klausur hatte, was ja an ganz vielen Faktoren liegen kann, dann ist das immer wie ein sicherer Anker – dass ich weiß: Du kannst das eigentlich auch alles, du brauchst jetzt nicht beeindruckt sein, weil einer schneller als du 4 + 4 rechnet. In diesem Sinne ist das etwas, was mir ein bisschen Selbstsicherheit gibt.

Zum Abschluss: Gibt es Dinge, die Du Dir in Bezug auf das Schulsystem wünschen würdest, damit es gerecht für alle ist? Insbesondere für Schüler:innen zum Beispiel mit einer LRS?

Im Schulsystem generell muss für Themen wie LRS erstmal ganz grundlegend noch viel mehr Verständnis her bei den Lehrkräften. Mehr Awareness ist ein wichtiger Punkt; dass die Leute dem Thema offener gegenüberstehen.

Und: Als Schüler:in vergleicht man sich unfreiwillig immer mit allen anderen, und man fühlt sich dann oft den anderen unterlegen oder schlechter, wenn man mal eine schlechtere Note hat. Und da ist vielleicht ein wesentlicher Punkt: Wie kann man es als Lehrkraft schaffen, dass dann trotzdem noch ein Zusammenhalt in der Klassengemeinschaft besteht? LRS und anderes sind ja immer Individualfälle – wie gehst du mit der Person so um, dass sie trotzdem integriert bleibt?

Glaubst du, es würde etwas ändern, wenn man Leistungsüberprüfungen anders gestalten würde, zum Beispiel weniger in Form von Noten?

Ich glaube, wenn man diversifizierte Tests machen würde – dass man einfach mal, anstatt zum Beispiel eine Klausur zu schreiben, sich 20 Minuten etwas mündlich erklären lässt. Dann würde viel klarer, ob jemand etwas wirklich verstanden hat, oder nur zehn Fragen auswendig gelernt hat. Und zum anderen gibt das Leuten, die vielleicht schriftlich nicht so stark sind, die Möglichkeit, sich trotzdem zu beweisen, indem man dadurch ihre Schwächen ein bisschen aushebelt.

Das wäre etwas, was ich mir gut vorstellen könnte und mir damals auch viel geholfen hätte.

Was bedeutet für Dich fair bzw. gerecht?

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Für mich bedeutet fair eigentlich immer Chancengleichheit. Und Chancengleichheit resultiert daraus, dass man auf Menschen eingeht und sich anschaut: Welche Chancen hat jede einzelne Person? Wenn jemand zum Beispiel nicht lesen kann, ist es natürlich nicht fair, sie bzw. ihn mit jemandem in einem Lesewettbewerb zu vergleichen.

Oskar, 21, Student
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