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Die Herkunft entscheidet zu oft über die Chancen

Die Herkunft entscheidet zu oft über die Chancen

Noch immer sind Kinder mit Migrationshintergrund und aus armen Familien in der Begabtenförderung unterrepräsentiert. Mit welchen Herausforderungen wir es in der schulischen Begabungsdiagnostik zu tun haben und was wir anders machen können, damit es fairer zugeht, beschreibt der folgende Artikel.

November 2024

Von: Christine Koop

Amina ist 10 Jahre alt und mit ihren Eltern und drei Geschwistern vor einigen Jahren aus Syrien geflohen. Seither hat sie an verschiedenen Orten gelebt, konnte keinen Kindergarten – und die Schule nur unregelmäßig – besuchen. Die Mutter ist arbeitslos; der Vater jobbt im Niedriglohnsektor.

Pascal ist 8 Jahre alt. Er hat eine 4-jährige Schwester. Seine Mutter ist alleinerziehend und geht arbeiten. Die Familie verfügt über wenig Geld. Pascal besucht eine Grundschule in einem „Brennpunktviertel“. In seiner Freizeit spielt er viel mit den Nachbarskindern auf dem Spielplatz.

Fabian ist 12 Jahre alt. Seine Eltern arbeiten beide im akademischen Bereich. Fabian lernt ein Musikinstrument und trainiert in einem Sportverein. In den Ferien reist die Familie viel ins europäische Ausland.

Amina, Pascal und Fabian machen in ihrem Leben sehr unterschiedliche Lern- und Bildungserfahrungen. Es würde uns nicht überraschen, wenn wir erführen, dass Fabian sich ungefährdet seine Gymnasialempfehlung gesichert hat und regelmäßig an Angeboten wie der Digitalen Drehtür teilnimmt, während Pascal und Amina in ihrer Schule nicht für Fördermaßnahmen in Betracht gezogen werden.

Trotz gewachsener Sensibilität für Herkunftseffekte sind Kinder mit Migrationshintergrund und aus armen Familien in der Begabtenförderung unterrepräsentiert. Ein häufiger Grund dafür ist, dass Lehrkräfte sich zu sehr daran orientieren, wie gut Schüler:innen den Lernstoff bewältigen und welche familiären Unterstützungsmöglichkeiten sie wahrnehmen. Weitere Gründe, weshalb wesentliche Begabungsindikatoren oft außer Acht gelassen werden, sind:

  • falscher Fokus: Lehrkräfte beurteilen die Fähigkeiten ihrer Schüler:innen auf der Basis des Lernstoffs, nicht auf der Basis von spezifischen Merkmalen für beispielsweise eine mathematische oder musikalische Begabung. Auch Checklisten oder Beobachtungsinstrumente erfragen häufig eher Interessen oder Vorlieben und weniger domänenspezifische Indikatoren für Begabung.
  • Interaktionseffekte: Lehrkräfte sind Bestandteil der Lehr-Lern-Begleitung ihrer Schüler:innen; sie gestalten die Lernumgebung maßgeblich mit und können oft nur teilnehmend beobachten. Das führt (unbeabsichtigt) zu verschiedenen Beobachtungs- und Beurteilungsfehlern.
  • Sprachabhängigkeit: Viele Verfahren der pädagogischen Diagnostik setzen auf reflektierte (Selbst-)Auskünfte der Schüler:innen und/oder Eltern, die entweder mit Fragebögen oder im Dialog erhoben werden. Das stellt hohe Anforderungen an Sprachverständnis und Ausdrucksvermögen.

Sind Intelligenzscreenings fairer als Lehrkräfte?

Um kein Kind zu übersehen, werden vermehrt Intelligenzscreenings vorgeschlagen. Sie gelten als fair, weil sie standardisiert und somit objektiv seien. Statt nur wenige Kinder anlassbezogen zu testen, wird mithilfe von schnell durchzuführenden Screeningtests die Intelligenz von Kindern zu bestimmten Zeitpunkten in der Bildungsbiografie flächendeckend erhoben, zum Beispiel für ganze Klassen oder Jahrgangsstufen. Auf diese Weise sollen Kinder mit überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten sicherer identifiziert werden. Und tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Verwendung von Screeningtests dazu führen kann, dass Kinder aus bislang unterrepräsentierten Gruppen häufiger in Begabtenförderprogrammen aufgenommen werden als bei Lehrernominationen 1.

Doch gerade mit Blick auf Kinder wie Amina und Pascal stößt auch dieses Vorgehen an Grenzen: Unzureichende Deutsch-Kenntnisse, limitierte schulische Vorerfahrungen und auch psychische Belastungen können Intelligenzscreenings negativ beeinflussen oder ihre Interpretation erschweren 2. Die Bildungsbiografie von Kindern mit Fluchterfahrungen beispielsweise ist von Brüchen und Inkonsistenzen gekennzeichnet. Und auch für Kinder aus armen Familien tut sich aufgrund geringerer informeller Bildungserfahrungen schon früh eine Lücke auf, die bereits im Kindergartenalter beginnt und sich im Laufe der Zeit noch vergrößert. Dieses „Achievement Gap“ verhindert, dass sich möglicherweise vorhandene Potenziale in hohen Leistungen niederschlagen 1.

Sind sprachfreie Tests der Schlüssel zu mehr Fairness?

Können hier nicht sprachfreie und „kulturfaire“ Tests weiterhelfen? Sie liefern hilfreiche Informationen zum kognitiven Potenzial der Testperson, meistens der Fähigkeit zu abstrakt-logischem Denken, und verwenden dafür nur figurale oder numerische Aufgabenformate. Ihre Ergebnisse gelten als guter Indikator für die fluide Intelligenz, das heißt den Teil von Denkprozessen, der unabhängiger von Bildungserfahrungen ist.

Doch auch hier gibt es Einschränkungen:

  • Einige Studien konnten zeigen, dass auch in sprachfreien Tests die Leistungen von Nicht-Muttersprachler:innen hinter denen von Muttersprachler:innen zurückblieben – selbst wenn die Kinder in vergleichbaren sozioökonomischen Verhältnissen aufgewachsen sind 3.
  • Auch für Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status zeigen sich bei sprachfreien Tests teils erhebliche Unterschiede 1.
  • Die meisten Testverfahren weisen – trotz gestiegenem Anteil in der Bevölkerung – die Normen für Muttersprachler:innen und Nicht-Muttersprachler:innen nicht getrennt aus, sodass die Testdurchführenden mögliche Einschränkungen für Nicht-Muttersprachler:innen nicht beurteilen können.
  • Viele sprachfreie Tests verwenden nur figurale Aufgaben (z. B. Matrizen). Für Schullaufbahnentscheidungen haben jedoch verbale und numerische Fähigkeiten eine besondere Aussagekraft. Und auch Entwicklungspotenziale für weitere, weniger akademische Talente lassen sich nicht abbilden.

Nonverbale Tests können den sprachlichen und kulturellen Einfluss auf Testergebnisse also nur eingrenzen, aber nicht gänzlich aufheben. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Beispielsweise stellt eine ungewohnte Leserichtung selbst bei einem „kulturfairen“ Matrizentest eine zusätzliche Herausforderung dar. Zudem ist auch das Denken in Symbolsystemen von Sprache und Kultur beeinflusst, etwa wenn abstrakte Dinge Kategorien zugeordnet werden 4. Sich also ausschließlich auf Intelligenzscreenings zu verlassen, erscheint auch nicht als Königsweg. Sie sollten durch pädagogische Verfahren ergänzt werden.

Wie kann die pädagogische Diagnostik zu mehr Fairness beitragen?

Dass die pädagogische Diagnostik einen wichtigen Beitrag zur Identifizierung von Talenten und Begabungen der Schüler:innen leisten kann, ist unbestritten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sie noch zu selten systematisch eingesetzt wird. Stattdessen erfolgt die Auswahl für Förderprogramme vielfach über Empfehlungen durch Lehrkräfte, die sich ohne spezifische Kenntnisse häufig durch falsche Annahmen leiten lassen: Lehrkräfte orientieren sich stark an gezeigten Schulleistungen und treffen prognostische Annahmen zur weiteren Entwicklung von Kindern in Abhängigkeit von deren Herkunft.

Dabei kann auch in der pädagogischen Diagnostik auf zahlreiche Verfahren zurückgegriffen werden: Schulleistungstests, verlaufsdiagnostische Verfahren, Fragebögen, Beobachtungsinstrumente und viele mehr. Die einen stellen Lernergebnisse fest, während andere den individuellen Lernprozess und Lernzuwachs abbilden. Wird dabei der Fokus auf individuelle Stärken und Entwicklungsmöglichkeiten gesetzt, spricht man von einer potenzialorientierten Diagnostik. Hier werden Interessen, Engagement und Motivation von Schüler:innen sehr offen exploriert, um Fördermaßnahmen auszuwählen oder gar individuell zuzuschneiden.

Für Kinder wie Amina und Pascal ist es bedeutsam, dass bei ihnen überhaupt eine solche systematische Begabungsdiagnostik initiiert wird, damit sie in den Genuss von Fördermaßnahmen kommen können. Schulen in „herausfordernden Lagen“ unterliegen noch zu häufig der Fehlannahme, dass bei ihnen keine Kinder mit besonderen Begabungen zu finden seien. Das Leistungsniveau ist oft insgesamt niedrig, die Anforderungen orientieren sich an dem entsprechenden Leistungsdurchschnitt.

Die Gelegenheiten, spezifische Begabungsmerkmale zu zeigen und zu entwickeln, sind somit für die Kinder nicht nur in Familie und Freizeit, sondern auch im schulischen Kontext reduziert. Doch es braucht sowohl Gelegenheiten, bei denen Kinder ihre Talente und Begabungen zeigen können, als auch eine Sensibilität aufseiten der Lehrkräfte, diese Potenziale zu erkennen. Bestimmte Aspekte können dieses Erkennen von Begabungen einschränken – zum Beispiel ein ungeeignet gewählter diagnostischer Fokus, Interaktionseffekte und die Sprachabhängigkeit auch vieler Verfahren der pädagogischen Diagnostik, wie eingangs schon näher beschrieben.

Vorschläge für mehr Fairness in der Begabungsdiagnostik

Mit Blick auf das Ziel, bislang unterrepräsentierte Gruppen stärker in der schulischen Begabtenförderung zu berücksichtigen, stößt das bislang erprobte diagnostische Vorgehen also an Grenzen. Für mehr Fairness müssen wir aber nicht nur die jeweiligen Stärken und Grenzen einzelner Verfahren kennen, sondern vielmehr unsere Grundannahmen und unser diagnostisches Vorgehen reflektieren.

Die schulische Begabtenförderung sollte beides leisten. Sowohl diejenigen angemessen fördern, die bereits außergewöhnliche Leistungsniveaus erreicht haben, als auch jene unterstützen, deren Potenziale bislang aufgrund von Herkunftseffekten noch nicht zur Entfaltung gekommen sind. Das erfordert zum einen eine Angebotsvielfalt: Schulen sollten ihre Begabtenförderung nicht auf eine Maßnahme beschränken, sondern die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schüler:innen mit verschiedenen Angeboten berücksichtigen. Zusätzlich ist auch eine variable diagnostische Perspektive notwendig. Statt die „passendsten“ Schüler:innen für das eine verfügbare Programm zu finden, sollten vielmehr hilfreiche Verfahren etabliert werden, mit denen individuell passende Angebote gefunden werden können.

Hierfür bedarf es gut fortgebildeter Lehrkräfte, die Talent und Begabung in verschiedenen Bereichen nicht nur an hohen Schulleistungen erkennen, sondern auch wirksame Möglichkeiten zur Talententwicklung schaffen. Zudem müssen sie kultur- und armutssensibel sein, um möglichst vielfältige Ausdrucksformen und Indikatoren für Begabungen erkennen zu können.

Darüber hinaus sollten folgende Aspekte leitend sein:

  • Die diagnostischen Verfahren sollten Merkmale der Begabungen erfassen, die durch die geplanten Maßnahmen gefördert werden sollen.
  • Screenings sollten nicht eindimensional sein, sondern möglichst mehrere Begabungsdimensionen abdecken.
  • Pädagogische Verfahren sollten neben Interesse, Motivation und Ausdauer auch Aufschluss über fachspezifische Begabungsindikatoren (z.  B. für Mathematik, Sprachen, Kunst) geben.
  • Die Verwendung von (Intelligenz-)Screenings und Nominierungen durch Lehrkräfte ist dem jeweils isolierten Einsatz nur eines dieser Verfahren überlegen.
  • Um Benachteiligungseffekte zu reduzieren, sollten die Ergebnisse in Screenings möglichst mit denen anderer Kinder verglichen werden, die unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind (Verwendung von Normgruppen mit vergleichbaren demografischen Merkmalen oder schul-/stadtteilspezifische Normen).

Speziell wenn sich die Frage stellt, ob Schüler:innen ihr Leistungspotenzial bisher wegen fehlender Lerngelegenheiten noch nicht ausschöpfen können, sollten Schulen zudem bei der Festlegung von Schwellenwerten für die Zuweisung zu Fördermaßnahmen großzügig sein. So könnten in einem ersten Schritt 15 bis 20 % der Kinder für eine begabungsspezifische Fördermaßnahme ausgewählt werden. Die Fördermaßnahme selbst kann dann diagnostische Erkenntnisse liefern, welche Kinder für weitere Maßnahmen der Begabtenförderung infrage kommen. So gelingt es eher, das Lernpotenzial und Talent der Schüler:innen zu bewerten und nicht ihr aktuelles Leistungsniveau. Und das ist ein wichtiger Schlüssel zu mehr Begabungsgerechtigkeit.

Eine persönliche Frage zum Schluss:
Was ist für mich fair/Fairness?

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Fairness hat für mich immer etwas damit zu tun, sich um einen Chancenausgleich zu bemühen. Das gilt insbesondere dann, wenn die jeweiligen Chancen von nicht beeinflussbaren Faktoren abhängen, wie Glück oder Zufall. Fair ist, wenn jemand die Chance dazu erhält, seines eigenen Glückes Schmied zu sein.
Mir gefällt aber auch ein Zitat des österreichischen Komponisten Gerhard Bronner (1922–2007): ›Fairness ist die Kunst, sich in den Haaren zu liegen, ohne dabei die Frisur zu zerstören.‹

Christine Koop
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