Authentischer Selbstbezug – gelassener durch den Schulalltag

Die folgenden drei Fallbeispiele zeigen Situationen, die Lehrkräfte vermutlich ähnlich aus ihrem Schulalltag kennen.
Situation A:
Ich hetze zum Kopierer, um noch schnell die Arbeitsblätter für die nächste Stunde zu kopieren. Da eine Kollegin mal wieder krank ist, vertrete ich sie in ihrer Freistunde erneut. Die Stunde konnte ich daher für die Schüler:innen nicht so individualisiert vorbereiten, wie ich das eigentlich gerne gemacht hätte. Ich bin super spät dran und sprinte völlig gestresst zum Klassenraum. Auf dem Weg spricht Torben mich an, der unbedingt noch möglichst zeitnah mit mir über das neue Projekt für hochbegabte Schüler:innen sprechen möchte. Völlig abgehetzt öffne ich die Tür zum Klassenzimmer, direkt dahinter steht Max. Eigentlich sollen alle Schüler:innen auf ihren Plätzen warten, bis der Unterricht beginnt und nicht im Klassenzimmer herumlaufen. Mir platzt der Kragen und ich gebe Max sehr bestimmend die Anweisung, dass er sich auf seinen Platz setzen soll, da ich jetzt dringend mit meinem Unterricht beginnen möchte. Max bricht in Tränen aus, begibt sich aber auf seinen Platz. Ich nehme wahr, dass meine Reaktion überzogen war, und fahre mit schlechtem Gewissen mit meinem Unterricht fort.
Situation B:
Ich sitze zu Hause an meinem Schreibtisch und möchte die nächste Unterrichtsstunde für meine 12er vorbereiten. Seit zehn Minuten starre ich auf das leere Blatt und finde keinen Anfang. Eigentlich muss ich mit dem kaputten Auto noch in die Werkstatt und irgendwie fällt mir gerade auch nichts Kreatives ein. Also beschließe ich pragmatisch, die Schüler:innen morgen doch die zwei Aufgaben zur Thematik aus dem Lehrbuch machen zu lassen, obwohl ich weiß, dass sie für einige von ihnen viel zu leicht sind. Gerade Anne wird völlig unterfordert sein und sich nach kurzer Zeit langweilen.
Situation C:
In den Wiederholungsstunden vor der nächsten Klassenarbeit hat Marie schon zweimal nach tiefergreifenden Zusammenhängen einer Aufgabe gefragt und sie wird nicht müde, auch heute noch einmal Fragen, die über den eigentlichen Stoff hinausgehen, zu stellen. Dabei möchte ich die bisherigen Inhalte doch eigentlich mit der ganzen Klasse noch einmal wiederholen, um alle gut vorzubereiten. Für die Beantwortung ihrer Fragen fehlt mir die Zeit und ehrlich gesagt auch die Geduld. Das Curriculum ist dieses Halbjahr mal wieder so vollgepackt, dass ich sowohl in den vergangenen Unterrichtsstunden durch den Stoff hetzen musste als auch jetzt für die Wiederholung nicht ausreichend Zeit habe. Obwohl es mir eigentlich wichtig ist, dass alle ihrem Leistungsstand entsprechend gefördert werden, rutscht mir Marie gegenüber raus: „Marie, ich habe jetzt schon zweimal nur für dich zusätzliche Dinge erläutert. Tut mir leid, aber wir müssen jetzt dringend weitermachen, damit alle mitkommen.“ Ich fahre mit schlechtem Gewissen gegenüber Marie mit der Wiederholung der anderen Themen fort.
In den drei Beispielen oben handelt die Lehrperson ad hoc und vielleicht nicht so, wie sie es sich wünscht. Eventuell ärgert sie sich auch, wenn sie im Nachhinein nochmal über die Situation nachdenkt. Dass sie in den Situationen nicht den eigenen Werten entsprechend und damit nicht authentisch handelt, kann damit zusammenhängen, dass ihr Zugang zum Selbst angesichts der bestehenden Herausforderung versperrt ist. Das Selbst kann als ein Speicher an Erfahrungen gesehen werden, auf den beim Treffen von Entscheidungen, aber auch bei situativem Handeln automatisch zurückgegriffen wird 1. Für professionelles pädagogisches Handeln wirkt der Zugang zu sich selbst wie ein innerer Kompass – er gibt die Richtung vor und setzt damit unter anderem den Rahmen für das individuelle Agieren in pädagogischen Situationen 2. Ein authentischer Selbstbezug ermöglicht es, pädagogisches Handeln kongruent zum eigenen Selbst und dem fachlichen Selbstverständnis auszurichten.
Der Begriff Authentizität geht zurück auf Carl Rogers, der als Psychologe und Psychotherapeut die personenzentrierte Gesprächsführung begründet hat. Authentisch zu sein ist für Rogers eine Grundhaltung von Therapeut:innen und meint, in Gesprächssituationen echt, wahrhaftig und bei sich selbst zu sein. Das setzt zunächst voraus, dass man sich selbst reflektiert, sich darüber bewusst ist, wer man ist und wie man anderen gegenüber auftreten möchte. „ Sei du selbst, gib dich nach außen hin so, wie dir innerlich zumute ist.“ – das ist nach dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun der Schlüssel, um authentisch zu sein 3. Authentizität hat also sehr viel mit dem Eigenen, dem Inneren, dem Selbst zu tun.
In herausfordernden, komplexen, unübersichtlichen Situationen, durch Ansprüche von außen usw. kann der authentische Selbstbezug gefährdet sein. Dies kann gerade in der Interaktion mit hochbegabten Kindern schnell der Fall sein, zum Beispiel wenn diese weiterführende Inhalte einfordern (wie Marie in Situation C) sehr wissbegierig sind und/oder Dinge „besser“ wissen. Es wirkt möglicherweise einschüchternd und beängstigend, wenn Schüler:innen auf einem bestimmten Gebiet mehr Wissen haben als man selbst. In solchen herausfordernden Situationen kann es sein, dass Fach- und Lehrkräfte nicht auf ihr Selbst, ihr Reservoir an Erfahrungen zurückgreifen können, das sie befähigt, authentisch und professionell zu handeln. Das Handeln entsprechend der eigenen Werte und Normen fällt dann schwer 4.
Ein solcher fehlender Selbstbezug zeigt sich in den Eingangsbeispielen: In der ersten Situation sorgt Stress, der im Schulalltag empfunden wird, dafür, dass die Lehrperson nicht mehr bei sich selbst ist und den Schüler – eventuell entgegen den eigenen Werten und Normen – unangemessen tadelt. Im dritten Beispiel werden Anforderungen von außen, hier durch das Curriculum, an die Lehrperson herangetragen. Gepaart mit Stress führt das dazu, dass nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um eine adäquate Lösung dafür zu finden, wie die Schülerin dabei unterstützt werden kann, den Unterrichtsstoff auf ihrem Niveau zu bearbeiten. Einfach weiterzugehen, entspricht eigentlich nicht dem eigenen pädagogischen Anspruch, aber ein anderer Ansatz wird gegebenenfalls von der Lehrperson in der Kürze der Zeit nicht gesehen.
Das, was in den oben beschriebenen Situationen beobachtet werden kann, ist eine Erstreaktion. Diese ist ad hoc und situativ – es fehlt die Zeit, reflektiert und gemäß der eigenen Wertorientierungen zu interagieren. Es ist im Sinne des Wortes der Bezug zu sich selbst versperrt, man ist nicht in der Lage, authentisch, sprich: mit dem eigenen Selbst im Reinen, zu handeln.
In solchen Situationen hilft es, selbstkompetent zu sein. Selbstkompetenzen sind ein Bündel an Fähigkeiten wie etwa Frustrationstoleranz, Selbstmotivation, Selbstberuhigung, Planungsfähigkeit und Zielorientierung, die auch in herausfordernden Situationen einen Zugang zum Selbst, dem Reservoir der eigenen Erfahrungen, ermöglichen. Sie sind ein Leben lang lernbar 5.
Blicken wir noch einmal auf die skizzierten Situationen, in denen ein authentischer Selbstbezug und der Zugriff auf die Selbstkompetenzen fehlt: In der ersten Situation würde es helfen, sich selbst zu beruhigen – eine wichtige Selbstkompetenz, damit in solchen herausfordernden Situationen gelassenes Handeln möglich wird. Um kreativ werden zu können und die nächste Unterrichtseinheit vorzubereiten, wie in dem zweiten Beispiel, wird die Fähigkeit benötigt, „die eigene Motivation auch dann aufrechtzuerhalten, wenn schwierige oder unangenehme Phasen des Lernens zu bewältigen sind“ 5. In der dritten herausfordernden Situation fällt es schwer Frustration auszuhalten, der Zugriff auf die Frustrationstoleranz würde hier helfen. Selbstkompetenzen tragen folglich dazu bei, auch unter hohen Handlungsanforderungen den Zugang zum Selbst zu ermöglichen und authentisch, den eigenen Werten und Orientierungen entsprechend zu handeln 6.
Der authentische Selbstbezug spiegelt sich insbesondere auch in der professionellen Haltung von Fachkräften wider. Um in Lehr- und Lernsituationen authentisch handeln zu können, braucht es eine reflektierte pädagogische Haltung als Basis.
Der Begriff Haltung wird im Diskurs über das Bildungssystem zwar häufig verwendet – oft bleibt jedoch schwammig, was damit genau gemeint ist 7. Zudem ist er teils normativ aufgeladen und mit Erwartungshaltungen von außen verknüpft. In der Bildungsforschung wird Haltung von Schwer & Solzbacher wie folgt definiert:
„Eine professionelle Haltung ist ein hoch individualisiertes […] Muster von Einstellungen, Werten, Überzeugungen, das durch einen authentischen Selbstbezug und objektive Selbstkompetenzen zustande kommt, die wie ein innerer Kompass die Stabilität, Nachhaltigkeit und Kontextsensibilität des Urteilens und Handelns ermöglicht.“ 8
Die professionelle Haltung wird durch den Gegenstandsbezug zur pädagogischen Haltung – in unserem Falle also durch den Bezug zur Schule. Eine professionelle pädagogische Haltung ist demnach ein individuelles Zusammenspiel aus Wertorientierungen, Normen, Deutungsmustern und Einstellungen, unter anderem in Bezug auf das Lernen, Bildung, Schule und (Hoch-)Begabung. Sie sorgt für situationsübergreifendes kohärentes Verhalten einerseits und situationsspezifische Sensibilität im Verhalten andererseits, indem beispielsweise Kinder und Jugendliche mit ihren individuellen Bedürfnissen, Interessen und Potenzialen wahrgenommen und gefördert werden. Damit wird deutlich, dass die professionelle pädagogische Haltung sowohl ein Bild vom Kind/Jugendlichen als auch das Verständnis der eigenen Rolle enthält 9.
Ein wichtiger Bestandteil einer professionellen pädagogischen Haltung ist die Selbstreflexion. Sie ist zum einen bedeutsam, um sich, wie bereits beschrieben, nach Schulz von Thun bewusst darüber zu sein, wer man ist, und um authentisch handeln zu können. Zum anderen auch, um gegebenenfalls die wenig authentischen Erstreaktionen, die manchmal nicht verhindert werden können, zu hinterfragen. Nicht immer gelingt es, sich in stressigen Situationen zu beruhigen, sich in herausfordernden Lebensphasen zu motivieren oder die eigene Frustration zu regulieren – dann kann es passieren, dass unter Umständen wie in den Eingangsbeispielen gehandelt wird. In solchen Situationen gehört es zu einer professionellen pädagogischen Haltung, die Situation zu reflektieren und sich im Nachgang vorzunehmen, beim nächsten Mal anders zu handeln oder bei einer unangemessenen Reaktion das Gespräch mit der beteiligten Person zu suchen, sich gegebenenfalls zu entschuldigen und damit eine angemessene Zweitreaktion zu zeigen.
Wichtige Aspekte eines authentischen Selbstbezugs sind also:
Wie könnte man die Situationen aus den Fallbeispielen entsprechend einem authentischen Selbstbezug und einer professionellen pädagogischen Haltung – also mit einer entsprechend geklärten Zweitreaktion – auflösen? In unserem ersten Beispiel könnte die Lehrperson zum weinenden Max gehen, ihn trösten und ihn nach seinen Gefühlen und nach dem Grund fragen, warum er nicht auf seinem Platz saß. Wichtig ist hierbei, dass die Situation zunächst reflektiert wird und die Lehrkraft sich damit ihres Handelns bewusst wird. Dadurch bemerkt auch Max, dass das Interesse an ihm authentisch ist. Ihm könnte auch erklärt werden, aus welchem Grund so gehandelt wurde und ihm ein Einblick in die eigene Gefühlswelt gegeben werden. In der zweiten Situation hätte vielleicht eine kleine Belohnung oder der Gedanke daran, welche Lernerlebnisse die Schüler:innen haben werden, geholfen, um für die Schüler:innen individualisierte Aufgaben zu finden. Und in der dritten Situation könnte Marie in der nächsten Gruppenarbeitsphase noch einmal zur Seite genommen werden, um mit ihr zusammen zu überlegen, auf welchen Wegen sie sich selbst weiterführende Informationen beschaffen könnte, damit sie sich noch tiefer mit den Inhalten auseinandersetzen kann.
Nicht immer gelingt es, die spontane Erstreaktion zu verbergen. Je häufiger aber Situationen reflektiert werden, in denen der authentische Selbstbezug fehlte, und überlegt wird, wie eine Zweitreaktion aussehen könnte, desto häufiger wird es gelingen, diese auch in ähnlichen Situationen zu zeigen. Der Zugriff auf die eigenen Selbstkompetenzen und der authentische Selbstbezug wirken also wie eine Art Puffer zwischen der Situation und der (Erst-)Reaktion. So wird es möglich, Distanz einzunehmen, einen Blick von außen auf die Situation zu werfen – und es gelingt leichter, gelassen zu sein und authentisch zu handeln.
Kuhl, J. (2011): Begabung und Selbstkompetenzen. In: Kuhl, J.; Müller-Using, S.; Solzbacher, C. et al. (Hrsg.): Bildung braucht Beziehung: Selbstkompetenz stärken – Begabung entfalten. Freiburg im Breisgau: Herder. Hier online verfügbar.