Blog Begabungsgerechtigkeit

Ressort

It‘s beginning to look a lot like fairness

It‘s beginning to look a lot like fairness

Everywhere we go… Ja, das wäre schön. Während Weihnachten in jedem Fall kommt, ist das mit der Fairness, respektive der Begabungsgerechtigkeit, so eine Sache. Überraschend unter dem Christbaum liegen wird sie wieder eher nicht. Also haben wir uns direkt zu Beginn des Jahres 2024 auf die Suche nach ihr gemacht. Dabei haben uns zwei Fragen geleitet: Wie können sich hochbegabte Kinder und Jugendliche gut entfalten? Und an welchen Stellen wird das durch ungerechte gesellschaftliche und (bildungs-)politische Strukturen verhindert?

Dezember 2024

Von: Claudia Pauly

Diese Fragen sind essenziell, denn alle Menschen haben einen Anspruch darauf, sich entsprechend ihrer Begabungen entwickeln zu können – ganz unabhängig von Faktoren wie sozialem Kontext, Geschlecht oder Ethnizität. Die Förderung von Begabungen stellt damit einen bildungsdemokratischen Grundwert dar, wie Ingmar Ahl im Januar verdeutlicht hat. Ob und wie dieser Grundwert tatsächlich Raum findet, hängt allerdings von vielen verschiedenen Faktoren ab – unter anderem davon, wo Kinder und Jugendliche aufwachsen, mit wem, und an welcher Stelle sie Unterstützung bekommen.

Gut beschreiben lässt sich das mit Bezug auf den Sozialraum, wie es Simone Welzien und Angelina Haupt in ihrem Beitrag tun. Sie erklären, wie wichtig es ist, in der Sozialraumarbeit in Netzwerken zu denken und zu handeln, und stellen dabei fest: „Wenn wir in diesem Raum genau hinschauen und bewusst Wissensnetze knüpfen, die allen zugutekommen, dann können wir damit Bildungschancen gezielt beeinflussen“.

Eine hohe Relevanz hat in diesem Zusammenhang die Ermöglichung von Teilhabe, also die Einbezogenheit von Menschen in soziale Kontexte und die Chance, sich dabei frei entwickeln zu können. Teilhabe kann durch unterschiedliche Faktoren beeinträchtigt sein – ein sehr relevanter ist die Einkommensarmut. Nadine Seddig geht im Februar auf die komplexen Zusammenhänge ein und zeigt, was es konkret bedeutet, von Möglichkeiten ausgeschlossen zu sein, die andere selbstverständlich nutzen können.

Im Kontext von Armut wird Bildungsungerechtigkeit schnell offensichtlich; manchmal kommt sie aber auch auf leisen Sohlen daher, beispielsweise als Adultismus. Kurzgefasst versteht man darunter: Erwachsene agieren oft in der impliziten Annahme, es sei in Ordnung, wenn sie für Kinder Entscheidungen treffen. Ausführlicher erläutert es Gesa Hartenbach in ihrem Beitrag vom März. Sicher, niemand würde sein Kind farbenfrohen Haushaltsreiniger trinken lassen, weil es das gerade für eine hervorragende Idee hält. Aber oft entscheiden Erwachsene Dinge für Kinder, die diese eigentlich gut selbst bestimmen könnten. Hochbegabte Kinder werden so nicht selten ausgebremst und dadurch in ihren Möglichkeiten beschnitten. Das ist zwar meist gut gemeint (oder, seien wir mal ehrlich, Zeitnot oder Stress geschuldet) – aber eben ungerecht.

Apropos Stress: Das aktuelle Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung zeigt, dass Stress auch bei Schüler:innen allgegenwärtig ist. Wie der sich auf Bildungschancen auswirkt, hat Wiebke Evers im April genauer beleuchtet. Von ihr erfährt man, was Mobbing mit der Amygdala zu tun hat und warum Stress „nicht nur die Entdeckung und Entwicklung von Begabungen behindern, sondern auch den Zugang zu Bildungs- und Fördermöglichkeiten verwehren“ kann.

Wenn Stress –  zum Beispiel durch unterfordernde Schulsituationen oder Mobbing –   für hochbegabte Kinder und Jugendliche zur Dauerbelastung wird, setzt sich die Ungerechtigkeit dort fort, wo sie in dem Moment besonders schmerzt: bei den therapeutischen Unterstützungsangeboten. Denn Therapieplätze sind rar, und Therapeut:innen müssen bei der Vergabe, so beschreibt es Kathrin Schmitt eindrücklich in ihrem August-Beitrag, nicht selten die paradoxe Überlegung anstellen, ob es betroffenen Kindern und Jugendlichen „schlecht genug“ für eine Therapie geht.

Überhaupt – wie geht es hochbegabten Kindern und Jugendlichen eigentlich damit, wenn sie Begabungsungerechtigkeit erleben? Das haben wir im Gespräch mit Oskar erfahren. Er ist „twice exceptional“ – hochbegabt mit einer LRS und AD(H)S. Mittlerweile ist er Student, erinnert sich aber noch gut an seine Schulzeit. Im Interview reflektiert er, warum es mit besonderen Voraussetzungen in unserem Schulsystem oft eine große Herausforderung ist, erfolgreich zu lernen und psychisch gesund zu bleiben, und welche Faktoren dazu beitragen können, dass es in diesem Kontext oft nicht gerecht zugeht. Einer davon ist, wenig überraschend, die klassische Form der Leistungsbewertung, also vor allem die guten alten Ziffernnoten.

Generell können Noten ganz schön stressig werden, das wissen wir alle noch. Und ja, auch für die Hochbegabten. Mit Saskia Niechzial selbst hochbegabt und Lehrkraft, haben wir im Mai darüber gesprochen, warum das so ist und welche gerechteren Bewertungsmöglichkeiten es gibt. Im Idealfall geht es dabei dann nicht mehr nur um Leistungsrückmeldung allein, sondern um deren Verschränkung mit dem Fördern und Erkennen von Potenzialen.

Letzteres gelingt Lehrkräften laut Studien übrigens ganz gut. Deutlich Luft nach oben ist aber immer noch. Tanja Baudson schlüsselt in ihrem Juni-Beitrag auf, warum Begabungen durch Lehrkräfte manchmal nicht ausreichend erkannt werden und welche Rolle Stereotype und Urteilsverzerrungen dabei spielen. Man könnte sich ja fragen, ob man vor diesem Hintergrund nicht lieber auf standardisierte Verfahren statt auf menschliche Urteile setzen sollte.

Zum Teil keine schlechte Idee, sagt Christine Koop, die sich im November mit den Herausforderungen schulischer Begabungsdiagnostik befasst. Aber auch Screenings und Intelligenztests haben ihre Grenzen und können aus unterschiedlichsten Gründen keine einflussfreie und komplett begabungsgerechte Diagnostik garantieren. Am sinnvollsten erscheint deshalb letztlich ein breiter und vor allem reflektierter Einsatz von Diagnostikinstrumenten.

Der Einblick in die verschiedenen Beiträge des vergangenen Jahres zeigt: Begabungsungerechtigkeiten manifestieren sich häufig auf systemischer Ebene. Zum Beispiel im „großen“ Bildungssystem, aber auch im „kleinen“ System der einzelnen Schule. Dass das nicht einfach hingenommen werden muss, zeigt Nicole Miceli in ihrem September-Beitrag, der sich mit gelingenden Schulentwicklungsprozessen befasst. Sie erklärt, wie Schulen sich systematisch so entwickeln können, dass „alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen entsprechend ihrem jeweiligen Lern- und Entwicklungsstand ihre Begabungen ausleben und Potenziale freisetzen können“ .

Wäre das überall der Fall, könnte man tatsächlich besinnlich den Titel dieses Beitrags anstimmen. Realistisch betrachtet sind wir noch ein ganzes Stück davon entfernt, denn Begabungsungerechtigkeit findet sich derzeit an vielen verschiedenen Orten. Genauso gibt es aber, das haben die Autor:innen und Interviewpartner:innen in diesem Jahr ebenfalls aufgezeigt, viele Chancen, das zu ändern.

Um den Blick für diese Möglichkeiten zu schärfen, enden wir in diesem Blog, wie sollte es kurz vor Weihnachten anders sein, mit einem Wunschzettel für mehr Begabungsgerechtigkeit.

Grafik: Claudia Pauly

Wünsche bewegen sich vielleicht nicht immer besonders nah an der Realität. Gerade das verleiht ihnen aber die Kraft, Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren. Und vielleicht können wir uns der Erfüllung des ein oder anderen Wunsches ja zumindest in kleinen Schritten annähern. Theodor Fontane schrieb: „Die Erfüllung eines Lieblingswunsches, sei der Wunsch selber, was er wolle, berührt uns wie eine Weihnachtsfreude.“

Welcher wäre Ihr Lieblingswunsch?