Wenn der Schulbesuch überwältigt: Schulangst bei Hochbegabten
Wenn Kinder und Jugendliche unter Schulangst leiden, bedeutet das für sie und ihre Familien oft eine enorme Belastungsprobe. Das zeigen die Geschichten von Henry, Elisa, Noah und Jonas, deren Schulangst es ihnen zum Teil jahrelang unmöglich gemacht hat, am Unterricht teilzunehmen. Dieser Artikel beschreibt mögliche Ursachen von Schulangst, erläutert den Zusammenhang mit Hochbegabung und beschreibt Ansätze, um das betroffene Kind und seine Familie zu unterstützen.
Von: Wiebke Evers und Miriam Lotze
Schulangst: Was ist das?
Schulangst ist ein eher unbekanntes Phänomen. So herrscht noch viel Unwissenheit darüber, was dieser Begriff eigentlich genau beschreibt und was betroffene Schüler:innen brauchen, damit sie wieder ohne Angst in die Schule gehen können. Im Gegensatz zu Schulabstinenz, Schulschwänzen und schulvermeidendem, dissozialem Verhalten, bei denen das Fernbleiben von der Schule meist aufgrund einer attraktiveren Beschäftigung oder auch aus Widerstand geschieht, handelt es sich bei Schulangst um eine ernst zu nehmende psycho-emotionale Reaktion. Die Angst bezieht sich dabei speziell auf die schulische Umgebung und die dort verorteten Faktoren, wie zum Beispiel Leistungs- oder Prüfungsangst oder auch soziale Ausgrenzung 1. Schulangst kann dazu führen, dass Kinder oft zu spät zur Schule kommen, viele einzelne Fehltage haben oder auch die Schule wochen- und monatelang nicht besuchen können.
Abb. 1: Differenzierung von Schulabsentismus
Bild: eigene Darstellung in Anlehnung an 2, 3, 4, 1
Erfahrungsberichte von Betroffenen und ihren Familien geben einen Einblick, was Schulangst eigentlich bedeutet. Die Eltern von Henry, Elisa, Noah und Jonas (Namen und im Artikel verwendete Fotos sind fiktiv) berichten in Tonaufnahmen von ihren persönlichen Erfahrungen. Sie erzählen, wie die Schulangst bei ihren besonders begabten Kindern entstanden ist, welche Schritte sie unternommen haben und wie die Situation heute ist. Ihre Geschichten machen deutlich, wie individuell die Verläufe, die Ausprägung und auch die Lösungswege sind.
Schulangst bei Hochbegabten: Vier Familien berichten
Durch Anklicken des Play-Buttons können Sie sich die persönlichen Erlebnisse von Henry, Elisa, Noah und Jonas anhören.
Henry (13 Jahre)
In der Grundschule hatte Henry keine Probleme. Er ging gern zur Schule, war dort glücklich und hatte sehr gute Noten. Nach der Grundschule wechselte Henry aufs Gymnasium. Im Laufe der sechsten Klasse zeigten sich bei ihm die ersten Symptome von Schulangst. Nach einem halben Jahr Hausbeschulung geht er nun wieder regulär zur Schule.
Ab der sechsten Klasse hat Henry immer wieder über Bauch- oder Kopfschmerzen geklagt – ich glaube, das ist bei Schulangst der Klassiker. Wir haben alles Mögliche abklären lassen, aber körperliche Ursachen sind nicht gefunden worden. Nach den Winterferien waren seine Bauchschmerzen so schlimm, dass Henry sich zwei Tage hintereinander vom Unterricht befreien ließ. Daheim ging es ihm dann wieder gut.
Am dritten Tag hat er mich gefragt, ob ich ihn zur Schule fahren kann. Normalerweise fährt er mit dem Fahrrad. Da habe ich mich schon ein bisschen gewundert. Ich habe ihn dann gebracht. Als wir an der Schule waren, ist er nicht aus dem Auto rausgekommen: Er konnte einfach nicht aussteigen. Er ist richtig zusammengebrochen. Da habe ich gemerkt, dass da mehr dahintersteckt.
Ich habe dann erstmal den Schulpsychologen kontaktiert. Der ist leider wenig taktvoll gewesen. In dem Gespräch, bei dem Henry auch dabei war, war er echt schroff und sehr fordernd. Er hat gleich deutlich gemacht, dass es so nicht geht und jeder Tag, den Henry nicht zur Schule geht, ein verlorener Tag ist. Es bestehe ja schließlich Schulpflicht! Wir als Eltern wären dafür verantwortlich, dass er zur Schule kommt. Dann fiel auch schon das Wort „Klinikeinweisung“. Ich war natürlich total überfordert mit diesen Äußerungen. Henry wollte da auch gar nicht mehr hin – und dann auch nicht mehr in den Unterricht gehen.
Im Nachhinein tut es mir leid, dass ich mich nicht von Anfang an einfach auf die Seite von meinem Kind gestellt habe. Man ist als Eltern am Anfang so verunsichert. Man denkt sich, vielleicht haben die anderen ja recht, vielleicht müssen wir einfach mehr Druck machen.
Wir haben dann probiert, wie es ist, wenn mein Mann Henry morgens bringt. Das wurde uns vorgeschlagen, denn vielleicht lasse ich als Mama Henry ja nicht los, vielleicht klammere ich so. Das Ende vom Lied war, dass mein Mann und Henry beide weinend am Boden gesessen haben und mein Mann zu ihm gesagt hat: „Es tut mir so leid. Wir tun alles, um dich zu beschützen. Du musst nichts mehr gegen deinen Willen tun.“ In diesem Moment hat mein Mann begriffen, was Schulangst eigentlich bedeutet.
Henry ist dann zu der Sozialpädagogin der Schule gegangen, jeden Tag zumindest für eine halbe Stunde.
Am Anfang hat er auch seine Freunde gemieden, auch den Sport. Er meinte, er hätte einfach keine Lust auf die Fragen der anderen Kinder. Kurz vor Schuljahresende hat er aber seine Meinung geändert und zu unserer Überraschung hat er sich mit seinen Kumpels getroffen. Und dann ist er auch wieder zu den Ausflügen der Klasse gegangen. Da habe ich gedacht, dass der Knoten jetzt geplatzt ist und es wieder bergauf geht.
Wegen seiner guten Leistung im ersten Halbjahr durfte Henry auf Probe in die siebte Klasse vorrücken, obwohl er im zweiten Halbjahr ja gar keine Schulnoten hatte. Die Probezeit ging bis Dezember. In dieser Zeit ist Henry stundenweise in die Schule gegangen. Er ist auch in den Hofpausen dageblieben. Das war aber irgendwann nicht mehr genug. Wir hatten gehofft, dass die Probezeit bis zu den Winterferien verlängert wird. Dann hätte Henry auch ein paar Noten mehr gehabt. Leider wurde das abgelehnt. Henry hätte zurück in die sechste Klasse gemusst. Das wollte er aber auf gar keinen Fall. Ja, und ab da ging dann wieder gar nichts mehr. Ein ganz großer Rückschritt und wir als Familie echt fix und fertig.
Zum Glück bin ich dann auf eine Selbsthilfegruppe für Eltern gestoßen und hab‘ dort viele wertvolle Infos bekommen. Allein der Satz „Nicht nur ihr seid in der Bringschuld, sondern auch die Schule! Sie müssen euer Kind beschulen – wie auch immer.“ hat schon viel geholfen. Hier habe ich auch den Tipp mit der Hausbeschulung bekommen.
Wir hatten viel Glück mit der Psychiaterin, die uns in dieser Zeit betreut hat. Sie hat gesagt: „Ich hab‘ ein gutes Gefühl bei Ihnen. Sie wissen als Eltern, was Ihr Kind braucht.“ Sie hat unsere Meinung geteilt, dass Henry bis zum Schuljahresende krankgeschrieben sein sollte und befürwortet, dass er Hausbeschulung bekommt.
Die ging im Frühjahr los und lief echt super. Jeden Tag ist für eine Doppelstunde ein Lehrer zu uns nach Hause gekommen, der Henry in den Hauptfächern unterrichtet hat. Die Nebenfächer hat er sich selbst erarbeitet. Henry hat die Klausuren geschrieben, seine Leistungsnachweise erbracht und ist zu den Prüfungen teilweise sogar in der Schule gewesen.
Wir haben dann wirklich lange überlegt, wie wir weitermachen und zwei Schulen ausprobiert. Bei der einen hat es für Henry nicht gepasst. Die andere hat ihn leider nicht aufnehmen können.
Jetzt ist aber vor zwei Wochen die Wende gekommen. Ich hatte einen Termin mit der Direktorin ausgemacht, um zu besprechen, wie es weitergehen kann. Henry war dieses Mal dabei. Die Direktorin hat – zum Glück – großes Verständnis gezeigt und zusammen haben wir ausgemacht, dass sich Henry die sechste Klasse doch noch mal anschauen würde. Und jetzt ist er seit Montag aus freien Stücken wieder jeden Tag und auch den ganzen Tag in der Schule.
Natürlich sind wir erstmal froh und probieren positiv auf das nächste Schuljahr zu blicken. Ich muss trotzdem sagen, als Mama habe ich das Gefühl, dass die Schule mein Kind nicht erfüllt. Ich merk das und er sagt es auch. In der nun sechsten Klasse kommen ihm die anderen alle sehr kindisch vor. Er ist eher reif. Gestern kam auch, dass ihm langweilig ist. Es steht im Raum, dass Henry überspringen könnte. Das möchten wir ihm erstmal nicht antun. Dieses rauf und runter ist schon schwer für ein Kind. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als optimistisch zu bleiben.
Elisa (14 Jahre)
Elisas Angstphase hat im Alter von elf Jahren begonnen und dauert mittlerweile drei Jahre an. Verschiedene Faktoren kamen bei Elisa zusammen, sodass es ihr mit der Zeit immer schwerer fiel, in die Schule zu gehen. Nach vergeblicher Suche nach einer passenden Schule liegt die Hoffnung nun auf der Bewilligung einer Online-Beschulung.
Im Moment können wir leider nicht sagen, ob Elisas Geschichte gut ausgehen wird. Die Grundschule war für Elisa fachlich ein Selbstläufer. Sie hatte mit dem Stoff überhaupt keine Schwierigkeiten. Allerdings waren Routineaufgaben wie Hausaufgaben oder Mathezettel mit x-Aufgaben zu Hause auch in dieser Zeit schon eine Katastrophe. Es hat deshalb immer viel Streit gegeben.
Elisa hat immer schon gesagt: „Ich hasse Schule“ – da haben wir uns als Eltern schon gefragt, warum sie das so sieht. Sie hatte ja keine Probleme und ihre Noten waren super. Elisas Hochbegabung war uns zu diesem Zeitpunkt allerdings auch noch nicht bekannt. Ihre Lehrerin hat uns dann kurz vor ihrem Übertritt auf die weiterführende Schule auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht. Das hat uns dann natürlich schon ein bisschen ins Nachdenken gebracht. Aber wir sind davon ausgegangen, dass sie auf dem Gymnasium bestimmt besser gefordert werden wird.
Der Start am Gymnasium erfolgte dann im zweiten Halbjahr 2020, mitten in der Corona-Pandemie. Die Schule war viel geschlossen, von daher hatte die soziale Anbindung für Elisa überhaupt nicht funktioniert: Alle sozialen Themen sind unter den Tisch gefallen. Ausflüge, Klassenfahrten und so weiter haben ja nicht stattgefunden. Elisa konnte also gar nicht richtig in ihrer neuen Klasse ankommen. Sie hat drei Monate vor ihrem Bildschirm verbracht oder für sich Aufgabenpakete bearbeitet. Die Lehrkräfte, selbst die in den Nebenfächern, haben Druck aufgebaut und gesagt: „Wir müssen jetzt Noten machen, bevor die nächste Schulschließung kommt“. Mit dieser Situation waren die Zehnjährigen natürlich total überfordert.
Elisa hat die fünfte Klasse zwar mit sehr guten Noten hinter sich gebracht – angeblich war sie die Klassenbeste – aber mit Beginn der sechsten Klasse haben wir bei ihr Veränderungen bemerkt. Morgens ist es immer zäher geworden: Elisa ist immer später und später von zu Hause los gegangen, alles total knapp. Sie hat uns erzählt, dass die Lehrkräfte hohen Druck auf die Kinder ausüben, die inhaltliche Probleme hatten. So wie sie es uns geschildert hat, war das eine sehr, sehr unangenehme Atmosphäre.
Da die anderen Kinder bemerkt haben, wie leicht es Elisa in der Schule fällt, gab es immer wieder Sticheleien. Im Oktober hat sie dann auf einmal gesagt: „Ich geh da nicht mehr hin. Ich schaff das nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“
Herauszufinden, warum das so ist, ist ein langer Prozess gewesen. Irgendwann war klar: Es sind die Sticheleien, der soziale Druck und die Lernatmosphäre in der Schule. Daneben aber auch Elisas Perfektionismus und ihre hohe Begabung. Elisa hat uns gefragt: „Warum soll ich dahingehen? Ich lern‘ ja gar nichts. Außerdem interessieren sich die Lehrer nicht für mich, ich bin denen als Person völlig wurscht.“ Elisa hat die Klassenarbeiten weiterhin mitgeschrieben und obwohl sie den Unterricht nicht mehr besucht hat, waren ihre Noten sehr gut.
Wir haben natürlich auch sehr schnell mit dem Schulpsychologen Kontakt aufgenommen. Der war wirklich bemüht, mit uns gemeinsam rauszufinden, wo die Ursachen liegen und was man tun könnte. Elisa hat erst ein bisschen gezögert, aber dann hat sie zugestimmt, dass der Schulpsychologe mit den Lehrkräften sprechen darf, wie sie die Klasse sehen. Von Seiten der Lehrkräfte haben wir aber lediglich gehört, dass die Klasse sehr sozial sei und Elisa halt einfach wieder kommen müsse.
Ein weiterer Bruch war, als eine Mitschülerin zu uns nach Hause gekommen ist, um die Hausaufgaben zu bringen, die hat dann erzählt, dass eine Lehrerin entgegen der Absprache mit der Klasse über Elisa gesprochen hat und von den Mitschülern wissen wollte, was denn mit Elisa los sei, wo denn das Problem liegt. Als keiner was gesagt hat, hat die Lehrerin vor allen daraus den Schluss gezogen, dass das Problem nichts mit der Klasse, sondern allein mit Elisa zu tun hat. Elisa hatte das Gefühl „anders“ zu sein und fühlte sich von Lehrkräften und Mitschülern unter Druck gesetzt, sich anzupassen. Sie wusste aber nicht wie.
Ab diesem Zeitpunkt ging gar nichts mehr. Elisa war am Boden zerstört und wir fühlten uns von der Schule nicht ernst genommen. Wir haben versucht, irgendwie ärztliche und psychologische Unterstützung zu bekommen und haben uns an die Klinikambulanz gewandt. Wir hatten das Gefühl, dass hier am umfassendsten auf die Situation geschaut wird. Da haben wir aber erst einen Termin acht Wochen später erhalten. So lange hat der Kinderarzt Elisa krankgeschrieben, um den Druck erstmal rauszunehmen.
Dann hatten wir wiederum die Lehrer am Telefon, die gesagt haben, dass eine so lange Krankschreibung nicht geht und dass Elisa alle Schularbeiten direkt nachschreiben muss, sobald sie wieder da ist. Und neben uns hatten wir unsere verzweifelte Tochter sitzen, die uns gesagt hat: „Das Leben macht überhaupt keinen Sinn mehr. Ich bin überhaupt nichts wert.“ Da haben wir als Eltern auch nicht mehr weitergewusst.
Als dann der Termin in der Klinik anstand, hieß es dort, dass sie Elisa nicht weiter krankschreiben, weil durch die Vermeidung die Angst nur größer werden würde. Elisa solle zumindest versuchen, für zwei Stunden in die Schule zu gehen. Dagegen hat sich die Schule wiederum gesperrt. Das sei schulorganisatorisch nicht machbar. Sie müsse zumindest alle Hauptfächer besuchen und dürfe sich zusätzlich noch ein „Freudefach“ aussuchen.
Das hat tatsächlich gar nicht geklappt. Zusammen mit dem Schulpsychologen haben wir dann eine Art „Wiedereingliederung“ erarbeitet, und abgesprochen, dass Elisa nachmittags zu ihm in die Schule kommt, was zwei Mal recht gut funktioniert hat. Elisa hatte dadurch auch Kontakt zu einigen Lehrkräften. Dann hat die Schule aber gefordert, dass es so nicht weitergehe und Elisa nun wieder ganz zum Unterricht kommen soll, wozu sie aber noch nicht bereit war.
In der Klinik wurde dann die Diagnose gestellt: Soziale Phobie und Depression. Die Klinik hat uns ermuntert, gemeinsam mit der Schule Lösungen zu finden, weil Elisas Problem ja in der Schule und im schulischen Umfeld liegt und darum auch dort an den Schwierigkeiten gearbeitet werden müsste.
Weil das aber gar nicht funktioniert hat und die Schule Vorschläge von uns und Elisas Therapeutin zu schrittweiser Wiedereingliederung oder Differenzierung immer wieder abgelehnt hat, haben wir uns schließlich nach einer anderen Schule umgesehen.
Auch an der neuen Schule war es für Elisa nicht möglich, am Unterricht teilzunehmen. Sie hat aber einzelne Schritte geschafft, wie z. B. zu Ausflügen mitzugehen oder einzelne Unterrichtsstunden zu besuchen. Nach einiger Zeit hat uns auch diese Schule gesagt, dass es so nicht weitergehe und uns mit dem Rauswurf gedroht, wenn wir Elisa nicht in die Klinik geben.
Elisa war dann tatsächlich für fünf Monate in der Klinik. Die Depression und auch die sozialen Ängste sind dort besser geworden. Das Problem mit dem Schulbesuch blieb aber weiter bestehen, auch wenn eine schrittweise Wiedereingliederung mithilfe der Klinik möglich war.
Schulleitung und Klinik haben uns gedrängt, eine Schule mit weniger schulischem Druck zu wählen. Nach einigem Hin und Her haben wir eine Montessori-Schule gefunden. Der Schulwechsel war schwer für Elisa, sie ist dort nicht richtig angekommen. Nach den Herbstferien hat Elisa wieder einen Rückfall in eine depressive Phase bekommen und konnte wieder kaum zur Schule gehen.
Daraufhin hat uns die Schule gesagt, dass sie momentan nicht der richtige Schulpartner für uns wäre, da sie merken, dass sie Elisa nicht beschulen und begleiten können. Das war immerhin qualitativ schonmal eine andere Erfahrung für uns. Bei allen anderen Schulen, mit denen wir in Kontakt waren, stand immer im Fokus, dass Elisa funktionieren muss.
Im Moment prüfen wir die Möglichkeiten einer Online-Beschulung. Durch die Nachhilfe haben wir festgestellt, dass ohne das Klassenumfeld, also in einer Eins-zu-eins-Situation, die Probleme nicht auftreten. Vielleicht liegt hier eine Chance für Elisa. Da kann sie sich kognitiv fordern und es gibt ihr wieder das nötige Selbstvertrauen, um sich schulischen Herausforderungen zu stellen.
Noah (17 Jahre)
Die ersten Anzeichen von Schulangst zeigten sich bei Noah in der dritten Klasse, als die Klassenlehrerin wechselte. Er ist hochbegabt, kann aber seit vier Jahren aufgrund der Schulangst nicht mehr regulär den Unterricht besuchen. Noah wird derzeit im Rahmen einer Online-Beschulung auf seinen Abschluss vorbereitet.
Noah hat schon in der ersten Klasse immer wieder gesagt, dass er die Schule sinnlos findet. Er würde mehr lernen, wenn er sich zu Hause ein Hörbuch anhört, als an einem ganzen Tag in der Schule. Er hat immer weniger Lust auf die Schule gehabt und immer öfter über Bauchschmerzen geklagt. Wir haben dann angefangen, Noah zur Schule zu bringen. Irgendwann war es dann so schlimm, dass er zitternd vor dem Klassenzimmer gestanden hat und nicht mehr reingehen konnte.
Im dritten Schuljahr nach den Weihnachtsferien ist Noah dann gar nicht mehr in die Schule gegangen. Von der Grundschule haben wir in dieser Zeit wenig Unterstützung und wenig Verständnis für seine Situation bekommen. Es gab immer mehr Druck, weil die Schulpflicht ja eingehalten werden muss. Wir als Eltern wussten ja aber auch nicht, was mit Noah los ist und wie es weitergehen soll.
Anfang der vierten Klasse hat Noah eine Tagesklinik besucht. Hier hat er ziemlich schnell herausgefunden, was er der Psychologin sagen muss, damit er seine Ruhe hat. Auch die Gespräche zwischen der Klinik und uns Eltern waren eher wie ein Polizeiverhör, als dass sie nützlich und hilfreich für uns gewesen wären. Nach zwei Monaten in der Klinik hat Noah dann von sich aus gesagt, dass er lieber wieder in die Schule gehen will, als noch länger dort zu bleiben. Und das hat er dann auch gemacht.
In der Schule ist Noah direkt wieder gut im Stoff mitgekommen, obwohl er ja so lange nicht da war. Er hat dann auch selbst die Entscheidung getroffen aufs Gymnasium zu gehen. Wir hatten große Hoffnungen, dass es auf der neuen Schule besser läuft, wenn Noah entsprechend gefordert wird.
Am Anfang der fünften Klasse, als er dann auf dem Gymnasium war, haben wir Kontakt zur Schulpsychologie gesucht und wurden da auch sehr gut begleitet. Wir hatten das Glück, dass der Schulpsychologe auch gleichzeitig Lehrer in Noahs stärkstem Fach war. Die fünfte Klasse hat also soweit geklappt, aber für die Hausaufgaben war schon recht wenig Kraft übrig. Für die einzelnen Fächer etwas lernen, konnte er nicht mehr. In der sechsten Klasse hat sich verstärkt gezeigt, wie massiv die Schule Noah anstrengt. Er musste sehr kämpfen und es ist keine Woche vergangen, in der er nicht mindestens an einem Tag gefehlt hat.
Ab der siebten Klasse ging dann gar nichts mehr. Die Sperre war spätestens im Auto: Noah konnte nicht aussteigen. Der Schulpsychologe hat direkt Termine und Angebote gemacht. Er hat vorgeschlagen, ihn direkt am Auto abzuholen und in die Klasse zu bringen. Das hat zwar funktioniert, aber in der zweiten Stunde in Geschichte zum Thema Mittelalter ist Noah dann ohnmächtig geworden. Noah ist sehr sensibel, ihm war der Stoff wohl zu gruselig und ich musste ihn wieder abholen. Und das war im Prinzip Noahs letzter Schultag: Alle weiteren Versuche, in die Schule zu gehen, sind ab da gescheitert.
Uns ist dann eigentlich Corona zugutegekommen: Noah musste die siebte Klasse unter den Bedingungen der Corona-Pandemie wiederholen. Zu Hause, vom Computer aus, konnte er tatsächlich am Unterricht teilnehmen. Das hat super funktioniert und Noah hat zumindest auf diese Weise am Schulalltag teilgenommen. Er hat danach aber nie wieder den Schritt zurück in die Schule geschafft.
Noah hat dann eine Hausbeschulung genehmigt bekommen, die ebenfalls online stattfinden konnte. Auch das hat gut für ihn gepasst. Nur in der zweiten Fremdsprache Französisch gab es Probleme. Da war Noah einfach raus. Die Lehrerin wollte, dass er viel spricht. Das war ihm aber sehr unangenehm.
Wir haben dann die Empfehlung bekommen, dass Noah wegen seiner Schwierigkeiten in der zweiten Fremdsprache die Schule wechseln soll. Daraufhin haben wir ihn auf der Wirtschaftsschule angemeldet. Wir haben wieder große Hoffnungen gehabt, dass dies ein Neustart werden könnte, weil ja alle Schüler:innen in der Stufe da neu angefangen haben. Wir hatten auch gehört, dass die schulpsychologische Begleitung und Betreuung durch die Beratungslehrkräfte dort sehr gut sein soll.
Aber, was soll ich sagen, sofort war es wieder so: Wir haben auf dem Parkplatz gestanden und Noah ist nicht aus dem Auto rausgekommen. Wir haben dann direkt den Schulpsychologen angerufen und einen Termin gemacht. Aber alle Versuche, Noah in die Schule reinzubringen, sind letztendlich gescheitert.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Vollzeitschulpflicht erfüllt und von da an bestand nur noch die Berufsschulpflicht. An der Berufsschule ist er auch angemeldet und die wissen, dass er nicht kommt. Dafür haben wir eine Entschuldigung von unserer Psychiaterin. Nun haben wir endlich die Online-Beschulung genehmigt bekommen und Noah wird jetzt halt so auf seinen Schulabschluss vorbereitet.
Für uns hat dieser Prozess viel zu lange gedauert. Noah ist jetzt im sechsten Jahr nicht mehr in der Schule. Er hat mittlerweile so gut wie keinerlei soziale Kontakte, auch aus seiner Sportgruppe ist er raus. Noah hat echt große Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen und damit, wie man sich im sozialen Umfeld bewegt. Für mich liegt das daran, dass Noah über diese lange Zeit das Gefühl entwickelt hat: „Ich bin eh verkehrt, ich kann nichts“. Sein Selbstvertrauen wurde einfach total erschüttert und er wird noch einige Zeit brauchen, bis er diese Erfahrungen verarbeitet hat.
Jonas (16 Jahre)
Bei Jonas begann es mit der Schulangst, als der Schulalltag nach der COVID-19-Pandemie und den Lockdowns wieder losging. Nach drei Jahren geprägt von einigen Höhen und Tiefen geht Jonas heute wieder regulär zur Schule.
Nach den Schulschließungen in der Coronazeit ist die Schule für die Kinder wieder von 0 auf 100 losgegangen. Die täglichen Corona-Tests, die Maskenpflicht und auch die Schilderungen über die Zustände auf den Intensivstationen haben bei unserem Sohn Jonas eine gewaltige Verunsicherung ausgelöst. Aus unserer Sicht wurde ihm dadurch ein großes Stück Sicherheit in seinem Umfeld genommen.
Bei Jonas ist dann noch die Pubertät mit Wachstumsproblemen dazu gekommen. Es war für ihn alles einfach sehr anstrengend. Den absoluten Bruch gab es, als er sich im Sekretariat wegen Krankheit abmelden wollte und ihm dann mitgeteilt wurde, dass das nicht vor der ersten Pause geht und er bis dahin warten muss. Jonas hat dann nochmal mit Nachdruck gesagt, dass es ihm aber nicht gut gehe und er konnte dann auch gehen, aber da war es dann trotzdem vorbei. Jonas ist danach zwei Wochen zu Hause geblieben.
Es gab dann viele Versuche, um ihm zu helfen, wieder in die Schule zu gehen. Aber er ist gar nicht mehr in das Schulgebäude reingekommen. Wir haben dann Kontakt zu der zuständigen Schulpsychologin aufgenommen. Die war aber total schroff und ist sehr bestimmt aufgetreten. Sie hat Jonas direkt vor die Wahl gestellt: Schule oder Klinik.
Das haben wir nicht eingesehen und uns gegen die Klinik entschieden. Von da an hatten wir das Gefühl, dass uns von schulischer Seite mehr und mehr Steine in den Weg gelegt werden. Wir haben dann auch direkt versucht, einen Psychotherapieplatz zu bekommen. Das dauert ja einige Zeit. Wir hätten uns gewünscht, dass Jonas stundenweise in die Schule gehen kann, dass er sich aussuchen darf, wann er geht und an welchen Stunden er teilnimmt. Dafür war die Schule aber anfangs gar nicht offen. Es ging aber einfach nicht jeden Tag, und wir haben ständig diesen Druck mit den Attestpflichten gehabt.
Hinzu kam dann noch, dass Jonas, wenn er es einen Tag nicht in die Schule geschafft hat oder er vorzeitig den Unterricht wegen einer Panikattacke verlassen musste, immer sehr, sehr wütend auf sich selber war und sich als Versager gefühlt hat. Da war es immer wichtig, dass er dann zu Hause etwas Sinnvolles tun und sich wieder wertvoll und wirksam erleben konnte. Wir hatten das Glück, dass er als Editor einer Bekannten bei ihrem Kinderbuch helfen konnte. Das hat ihn oft aus dem Tief wieder herausgeholt.
Es gab dann von uns den Vorschlag, mit Jonas immer wieder zu üben: fünf Minuten in das Schulgebäude rein und dann wieder raus, nur zum Schauen, ohne Unterricht. Auch da hat uns die Schule aber einen Strich durch die Rechnung gemacht: Das ginge nicht; wenn man krankgeschrieben ist, darf man das Schulgebäude nicht betreten. Dann haben wir mit den Lehrkräften abgemacht, dass sie Jonas unten an der Schultür abholen. Das hat anfangs auch sehr gut geklappt. Bis dann die Lehrer gesagt haben, dass sie das nicht mehr leisten können, wegen der Aufsichtspflicht den anderen Kindern gegenüber. Das war alles total mühsam.
Inzwischen hatte Jonas zum Glück einen Platz in der Ergotherapie bekommen, was ihm auch gut geholfen hat. Er ist dann auch wieder stundenweise zur Schule gegangen und konnte gegen Ende des Schuljahres sogar wieder 20 Schulstunden pro Woche bewältigen. Es war jedoch noch sehr anstrengend für ihn.
Jonas hätte das Jahr vom Stoff her sogar geschafft. Er musste die Klasse dann aber trotzdem wegen fehlender Noten wiederholen. Dann ging das ganze Spiel wieder von vorne los. Neue Klasse, neue Lehrer. Er hat sich nicht getraut, ins Klassenzimmer zu gehen. Aber die neuen Mitschüler:innen waren total unterstützend. Die haben ihn übers Handy angeschrieben und ihn ermuntert, es wieder zu versuchen. Sie haben wirklich versucht, ihm zu helfen.
Wir hatten echt wahnsinniges Glück mit der neuen Klasse. In der vorherigen war schon das Problem, dass die alle keinen Bock mehr hatten; also wirklich null Bock auf Schule. Und wenn man sich gemeldet, also sich am Unterricht beteiligt hat, dann war man für die schon komisch. Da hat der Jonas dann auch gesagt: „Warum gehe ich denn eigentlich hin? Wenn in der Schule nichts gearbeitet wird, ist das doch doof.“ In der Klasse jetzt sind wenigstens ein paar dabei, die auch mitmachen und die haben uns wahnsinnig geholfen, auch weil die Jonas total unterstützt haben. Trotzdem hat es zwei Monate gedauert, bis er sich getraut hat, wieder in sein Klassenzimmer zu gehen.
Von der Schule und den Lehrkräften kam oft das Argument, dass die anderen Mitschüler dann auch nur stundenweise kommen wollen, wenn es einem aus der Klasse ermöglicht wird. Aber das Gegenteil ist der Fall gewesen. Niemand aus der Klasse wollte diese Angststörung haben und mit Jonas tauschen, um solche vermeintlichen „Vorteile“ zu bekommen oder bevorzugt zu werden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich da kein Kind benachteiligt fühlt oder nicht einverstanden gewesen wäre.
Nachdem es mit der Schulpsychologin nicht geklappt hat, sind wir zu der Sozialpädagogin von der Schule gewechselt. Das hat viel besser für uns gepasst. Mittlerweile haben wir eine stundenweise Wiedereingliederung und Jonas macht begleitend eine Psychotherapie.
Er hat im letzten Schuljahr nie wegen Angst gefehlt, sondern nur, weil er krank war. Er ist jetzt wieder voll im Schulalltag, geht zum Chor, spielt in der Band. Aber dieser ganze Prozess hat drei Jahre gedauert.
Unsere Sprecherinnen und Sprecher:
Mutter von Henry: Lone Varga Mutter von Elisa: Dr. Anne-Kathrin Stiller Vater von Noah: Max Dörken Mutter von Jonas: Dr. Claudia Pauly
Schulangst erkennen und verstehen
Symptome von Schulangst können sich auf der körperlichen, der geistig-emotionalen und auch der Verhaltensebene äußern. Gerade bei jüngeren Kindern zeigt sich Schulangst zunächst oft durch nicht klar zuzuordnende körperliche Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit oder einen unruhigen Schlaf. Je weiter sich die Schulangst manifestiert, desto intensiver können die psychosomatischen Reaktionen werden. Auch im Gemütszustand der Kinder kann sich Schulangst zeigen. Betroffene Kinder sind oft niedergeschlagen oder kommen sehr missmutig von der Schule nach Hause. In manchen Fällen kann die Angst so lähmend sein, dass die betroffenen Kinder nicht imstande sind, das Schulgelände oder -gebäude zu betreten. Andere Kinder schaffen es nicht, aus dem Haus zu gehen oder vor der Schule aus dem Auto auszusteigen. Ebenso können starke Emotionen auftreten, die sich in Weinen, Zittern oder auch Wutausbrüchen äußern. In der Pubertät kann sich Schulangst eher in ablehnendem oder aggressivem Verhalten und durch Fernbleiben der Schule äußern.
Für die Diagnose von Schulangst gibt es keine festen Kriterien, wie es bei anderen Angststörungen der Fall ist. Psychische Erkrankungen können bei Schulangst eine Rolle spielen, zum Beispiel Phobien oder soziale Ängste, Trennungsangst oder auch Depressionen. Es muss aber nicht zwangsläufig eine psychische Erkrankung als Hintergrund geben. Es gibt durchaus berechtige Ängste, die hinter einer Schulangst stecken, wie Angst vor Mobbing oder Gewalt 5.
Wie häufig kommt Schulangst bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen vor?
Schulangst ist ein relativ weit verbreitetes Phänomen. Der Kinder- und Jugendreport 2018 hält fest, dass 3,5 Prozent der 11 Millionen schulpflichtigen Kinder in Deutschland betroffen sind 6. Die Häufigkeit ist bei Jungen laut dieser Untersuchung geringfügig höher als bei Mädchen; andere Studien kommen zu einem genau gegenteiligen Ergebnis (z. B. 3, 7). Diese Unterschiede sind wahrscheinlich auf die verwendeten Definitionen und daraus abgeleiteten Einschlusskriterien, eventuell auch auf die unterschiedlichen Altersgruppen und Schulformen zurückzuführen.
Schulangst tritt häufig ab Mitte der Grundschulzeit auf 8. Dabei scheint sich die Anzahl der Schüler:innen, die die Schule aufgrund von Schulangst meiden, mit dem Alter bzw. mit Dauer der Beschulung zuzunehmen 9.
Es gibt nur vereinzelt Studien, die Daten zur Prävalenz von Schulangst speziell bei hochbegabten Kindern liefern. Diese Untersuchungen ergaben, dass hochbegabte Kinder im Schulkontext häufiger unter Ängsten leiden als ihre Altersgenossen. Diese Ängste bezogen sich vor allem auf die Selbstexpression, die soziale Interaktion mit Lehrkräften und Mitschüler:innen sowie auf Leistungs- und Testsituationen 10.
Es liegen bislang keine neueren Daten zu Schulangst vor, die die Entwicklung während und nach der COVID-19-Pandemie abbilden. Untersuchungen zeigen jedoch, dass Angststörungen insgesamt bei Kindern und Jugendlichen während und nach der Pandemie zugenommen haben 11, 12.
Wie entsteht Schulangst? Welche Rolle spielt dabei Hochbegabung?
Schulangst entsteht oft schleichend. Hochbegabung ist dabei meist nur ein Faktor unter vielen. Besonders begabte Kinder können zu hohen Erwartungen an ihre schulischen Leistungen neigen. In manchen Fällen erleben sie auch Leistungsdruck von außen, von ihren Eltern oder den Lehrkräften. Mit dem Druck kann die Angst einhergehen, den Erwartungen nicht gerecht zu werden und andere oder sich selbst zu enttäuschen.
Werden besonders begabte Kinder in ihren Potenzialen in der Schule wiederum nicht gesehen und gefördert, kann auch dies Schulangst auslösen. Unterforderung kann dazu führen, dass Kinder und Jugendliche keinen Sinn darin sehen, am Unterricht teilzunehmen. Herrscht in der Klasse darüber hinaus ein leistungsfeindliches Klima, in dem Kinder, die etwas lernen und sich beteiligen wollen, ausgegrenzt oder gar gemobbt werden, begünstigt das die Entstehung von Schulangst ebenfalls.
Warum gehe ich dann eigentlich hin? Wenn in der Schule nichts gearbeitet wird, ist das doch doof.
Ereignisse wie die Einschulung, der Schulwechsel auf die weiterführende Schule, ein Umzug der Familie sowie der Wechsel der Klassenlehrkraft können die soziale und intellektuelle Passung für Schüler:innen aus dem Gleichgewicht bringen. Auch Krisen oder Ausnahmezustände können Auswirkungen auf das Bildungssystem und damit auf die in ihm lernenden Kinder und Jugendlichen haben. Die Fallgeschichten zeigen, dass COVID-19 und die Beschulung unter Pandemie-Bedingungen bei manchen Kindern unter anderem durch die Test- und Maskenpflicht große Unsicherheit ausgelöst und nachhaltige Ängste verursacht haben. Für andere hingegen war dies eine Zeit zur Regeneration, da sie in dieser Zeit von der Schulpflicht im Sinne einer Anwesenheit im Schulgebäude befreit waren.
Der Wiedereinstieg in den Präsenzunterricht brachte vielerorts einen erhöhten Leistungsdruck mit sich. Schulstoff, der im Distanzunterricht nicht ausreichend vermittelt werden konnte, und Prüfungen mussten nachgeholt werden. Bei manchen Kindern haben der hohe Druck und die negative Lernatmosphäre in der Schule ebenfalls zur Entstehung von Schulangst beigetragen. Durch übermäßigen Leistungsdruck, Unterforderung und soziale Ausgrenzung leiden vor allem das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen der betroffenen Schüler:innen nachhaltig. Diese wieder aufzubauen, braucht oft Zeit und viele Gelegenheiten.
Sicherheit und Zugehörigkeit sind für Kinder und Jugendliche in jedem Alter und unabhängig von einer besonderen Begabung wichtig. Das gilt sowohl für den schulischen als auch für den familiären Kontext. Eine verlässliche emotionale und soziale Unterstützung durch das Umfeld ist daher ein entscheidender Schutzfaktor, der die Entstehung von Schulangst verhindern kann. Denn letztlich kann diese als ein psychologischer Verteidigungsmechanismus 13 verstanden werden, mit dem das Kind reagiert und damit letztlich auf einen Missstand aufmerksam macht.
Bild: iStock/Dobrila Vignjevic
Im Oktober hat sie [Elisa] dann auf einmal gesagt: ›Ich geh da nicht mehr hin. Ich schaff das nicht mehr. Ich kann nicht mehr.‹ Herauszufinden, warum das so ist, ist ein langer Prozess gewesen. Irgendwann war klar: Es sind die Sticheleien, der soziale Druck und die Lernatmosphäre in der Schule.
Was können die (langfristigen) Folgen von Schulangst sein?
Schulangst kann langfristige negative Folgen für die psychische Gesundheit und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben. Studien zeigen, dass Schulangst mit einem höheren Risiko einhergeht, auch andere psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen zu entwickeln 5. Neben psychischen Problemen können das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeitserwartung der betroffenen Kinder nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen werden. Vor allem Letztere hilft dabei, die Bewertungs- und Vergleichssituationen, die die Schule mit sich bringt, einzuordnen und zu bewältigen 3.
Kinder mit Schulangst haben zudem ein höheres Risiko für soziale Isolation. Im Alltag haben sie zumeist durch die schulische Abwesenheit weniger soziale Kontakte außerhalb der Familie. Dies kann das Gefühl der Einsamkeit und sozialen Entfremdung verstärken. Hält die Schulangst und damit einhergehende Schulvermeidung über mehrere Jahre an, kann es Kindern und Jugendlichen, wie am Beispiel von Noah zu sehen, zunehmend schwerer fallen, sich in sozialen Räumen zu bewegen und in Gruppen zu integrieren.
Für uns hat dieser Prozess viel zu lange gedauert. Noah ist jetzt im fünften Jahr nicht mehr in der Schule. Er hat keinerlei soziale Kontakte, auch aus seiner Sportgruppe ist er raus. Noah hat echt große Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen.
Wenngleich hochbegabte Kinder, auch wenn sie längere Zeit nicht am Unterricht teilgenommen haben, oft fachlich schnell wieder anschließen können, kann Schulangst zu schlechteren Noten und Lernrückständen führen. Im schlimmsten Fall folgen dann Klassenwiederholungen, fehlende Schulabschlüsse oder auch der Schulabbruch. Somit können die weiteren beruflichen Entwicklungschancen möglicherweise beeinträchtigt werden. Diese Gefahr gilt insbesondere dann, wenn Schulangst in psychischen Erkrankungen mündet.
Schulangst als Lehrkräfte und Eltern begleiten
Wie kann ich als Lehrkraft ein betroffenes Kind begleiten?
Werden Lehrkräfte auf die oben beschriebenen Symptome aufmerksam, sollten sie diese Anzeichen ernst nehmen. Gerade bei Anzeichen für Schulunlust oder verlorener Lernfreude ist es wichtig, genauer hinzuschauen, was dahinterstecken könnte, da diese oft vor der Schulangst stehen. Wenn zu lange gewartet wird, können sich die Probleme verfestigen und sich eventuelle Ängste noch steigern.
In einem ersten Schritt ist es wichtig, dass Lehrkräfte feinfühlig hinspüren, um herauszufinden, wie es dem Kind in der Schule wirklich geht, ob es sich sozial eingebunden und zugehörig fühlt. Ist das Kind über- oder unterfordert? Wie geht das Kind mit Erfolg und Misserfolg um? Setzt es sich stark unter Druck? Zeigt es internalisierendes Verhalten und zieht sich oft zurück? Wie ist es in die Klassengemeinschaft eingebunden? Was könnte dem Kind dazu verhelfen, dass es wieder mehr Freude in der Schule und am Lernen hat? Wie kann das Gefühl von Sicherheit beim Kind gestärkt werden?
Für das Sicherheitsgefühl ist es essenziell, dass das Kind weiß, dass in der Schule jemand – die Klassen- oder eine Fachlehrkraft – für es da ist, wenn es sie braucht. Neben sich selbst als Ansprechpersonen können Lehrer:innen zusätzlich auf Beratungslehrkräfte, Schulsozialarbeiter:innen, (Schul-)Psycholog:innen oder auf Erziehungs- und Beratungsstellen verweisen. Dies kann insbesondere hilfreich bei innerfamiliären Themen sein, die das Kind belasten und die es nicht mit den Eltern selbst besprechen kann. So können Bezugspersonen von außen helfen, einen sicheren Rahmen zu schaffen.
Ein zentraler Aspekt ist, den Druck für das Kind zu reduzieren. Eine Balance zwischen Herausforderung und einem passenden Anforderungslevel auf kognitiver Ebene, ohne Leistungs- und Bewertungsdruck, herzustellen, kann hier ein erster Schritt sein.
Bei tatsächlichem Fernbleiben wird von pädagogischen und psychologischen Fachkräften oder auch der Schulleitung manchmal der Eindruck vermittelt, dass es in der Verantwortung der Familie liegt, das Kind dazu zu bewegen, in die Schule zu gehen. Wenn die Familie das Kind zusätzlich unter Druck setzt, kann dies bei ihm das Gefühl auslösen, dass es nichts wert ist, wenn es das nicht schafft. Hier ist es wichtig, den Fokus auf die Stärken des Kindes zu lenken und auch kleine Erfolge zu feiern. Wenn Situationen von Kindern wieder als sicher und kontrollierbar erlebt werden und sie merken, dass sie imstande sind, Herausforderungen zu meistern, stärkt das ihre Selbstwirksamkeit 5. Die Selbstwirksamkeitserwartung steht Studien zufolge mit einer Abnahme der Angst und auch mit einem regelmäßigeren Schulbesuch in Zusammenhang 14. Um dem Kind diese Erfahrungen wieder zu ermöglichen, ist es wichtig, gemeinsam mit ihm herauszufinden, welche Schritte es für machbar und erfolgsversprechend hält.
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Wir hätten uns gewünscht, dass Jonas stundenweise in die Schule gehen kann, dass er sich aussuchen darf, wann er geht und an welchen Stunden er teilnimmt. Dafür war die Schule aber anfangs gar nicht offen. Es ging aber einfach nicht jeden Tag, und wir haben ständig diesen Druck mit den Attestpflichten gehabt.
Offenheit und Flexibilität sind in dem Prozess entscheidend, damit das Kind wieder den Weg in die Schule findet. Dafür können auch Ausnahmen vereinbart werden 5. Kinder sollten selbst Vorschläge unterbreiten dürfen, wie es ihnen gelingen kann, wieder am Unterricht teilzunehmen. Ein erster Schritt kann dabei sein, zu überlegen, an welchen Stunden sie aus ihrer Sicht am ehesten teilnehmen könnten. Auch am Morgen zu entscheiden, wie viele Schulstunden sie sich heute zutrauen, kann eine Vorgehensweise sein. Bei Kindern, die es nicht ins Schulgebäude schaffen, kann mit ihnen gemeinsam überlegt werden, was ihnen helfen könnte, die Schule zu betreten.
Es sollte Raum für individuelle Interessen und Stärken geschaffen werden. Was macht dem Kind Spaß? Wo kann es seine Stärken und Interessen einbringen? Welche Projekte oder Aufgaben vermitteln ihm das Gefühl, dass es etwas lernt oder etwas bewirkt? Auch Projekte für und mit anderen innerhalb und außerhalb der Schule können das ermöglichen. Dies könnte durch Praktika, Projektarbeiten oder spezielle AGs geschehen, die das Kind in die Schule zurückführen. Auch ein vorübergehender Verzicht auf Hausaufgaben oder Klassenarbeiten kann helfen, das Kind von Druck zu befreien, damit es wieder angstfrei zur Schule gehen kann.
Ein wichtiger Aspekt ist zudem, eine positive Lern- und Klassenatmosphäre zu schaffen. Hier spielt unter anderem auch der Umgang mit Fehlern eine gewichtige Rolle: Wie wird auf Fehler reagiert? Werden sie als Lernhelfer gesehen oder werden Schüler:innen wegen falscher Antworten belächelt oder auch beschämt? Auch kann es hilfreich sein, Konkurrenz um gute Noten im Klassenverband keinen Raum zu geben und zu vermitteln, dass jede und jeder sein Bestes gibt. Wie das Beispiel von Henry zeigt, kann eine gute Klassengemeinschaft das Zugehörigkeitsgefühl der betroffenen Kinder stärken und ihnen den Weg zurück ins Klassenzimmer erleichtern.
Bei einer mit Schulangst einhergehenden längeren Abwesenheit von Schüler:innen steht schnell eine Rückstellung im Raum. Dies ist oft nicht die beste Lösung, da sie die psychischen Probleme verschärfen kann 5. Gerade bei überdurchschnittlich begabten Kindern kann dies zu einer Verstärkung der Unterforderung führen, was die Schulangst weiter verschlimmern kann. Ein Klassen- oder Stufenwechsel kann jedoch auch positive Auswirkungen haben, sofern in der neuen Umgebung ein unterstützenderes, lernfreundlicheres Klima herrscht. Alternativen zum regulären Schulbesuch wie Hausunterricht oder Online-Schulen sind ebenfalls Optionen, die jedoch sorgfältig abgewogen werden müssen. Informationen dazu finden sich häufig über das Jugendamt oder spezielle Bildungsberatungsstellen.
Was brauchen Eltern?
Beim Thema Schulangst wissen Eltern oft nicht weiter und geraten hier an ihre Grenzen. Dabei müssen sie sich klar machen: Sie müssen diese Situation nicht allein lösen. Wenn sich Schulangst vor allem durch körperliche Beschwerden äußert, sollten diese zunächst ärztlich abgeklärt werden. Können körperliche Ursachen ausgeschlossen werden, ist eine psychologische Beratung und Diagnostik ratsam, um mögliche Angststörungen oder andere Probleme zu identifizieren. Kinderärzt:innen können über die weiteren Schritte beraten und Personen und Einrichtungen, wie etwa Erziehungs- und Familienberatungsstellen oder Psychotherapeut:innen empfehlen, um der Sache weiter auf den Grund zu gehen.
Auch die schulischen Beratungsstrukturen wie der Schulpsychologische Dienst, die Beratungslehrkräfte oder die Schulsozialarbeiter:innen können kontaktiert werden. Die Fallbeispiele zeigen, dass die Zusammenarbeit mit der Schule nicht immer frei von Herausforderungen ist. Es wird aber auch deutlich, dass die verschiedenen Ansprechpartner:innen sich in ihrer pädagogischen Haltung und auch in ihrem Wissen über das Thema Schulangst stark unterscheiden können. Sollte sich ein erstes Gespräch nicht als hilfreich erweisen, kann es darum gut sein, auf jemand anderen zuzugehen.
Oft befinden sich Eltern von Schulangst betroffener Kinder und Jugendlicher „zwischen den Stühlen“. Sie wollen einerseits die Erwartungen der Schule, dass ihr Kind der Schulpflicht nachkommt, erfüllen sowie ihrem Kind die Teilhabe am schulischen und sozialen Leben ermöglichen. Andererseits sehen sie den täglichen Leidensdruck ihres Kindes, möchten zu seinem Wohle handeln und müssen dafür teilweise große Kämpfe mit Lehrkräften und Schulleitung austragen.
Im Nachhinein tut es mir leid, dass ich mich nicht von Anfang an einfach auf die Seite von meinem Kind gestellt habe. Man ist als Eltern am Anfang so verunsichert. Man denkt sich, vielleicht haben die anderen ja recht, vielleicht müssen wir einfach mehr Druck machen.
Wichtig ist daher vor allem, dass Eltern und Schule die Schulangst gemeinsam angehen und miteinander flexible, individuelle Lösungen erarbeiten. Dabei sollte das Augenmerk auf dem Prozess als solchem liegen. Maßnahmen sollten ohne Druck auf deren Erfolg probiert werden dürfen, gemeinsam reflektiert und die nächsten Schritte überlegt werden.
Unsicherheit und Überforderung aufseiten der Eltern können die Situation noch verschlimmern. Eltern sollten sich daher fragen: Was brauche ich, um in der momentanen Situation ruhig bleiben zu können? Was kann ich für mich tun, um mit der Herausforderung umzugehen und meinem Kind das geben zu können, was es gerade von mir braucht? Hier kann auch der Austausch mit anderen Eltern (z. B. in einer entsprechenden Selbsthilfegruppe) helfen, die familiäre Situation zu sortieren und sich nicht allein zu fühlen. Im besten Fall schaffen es Eltern, ihren Kindern zu vermitteln, dass sie das Vertrauen haben, dass sie als Familie die Schulangst überwinden werden und die momentanen Herausforderungen gemeinsam meistern können.
Hinzu kam dann noch, dass Jonas, wenn er es einen Schultag nicht geschafft hat oder er vorzeitig den Unterricht […] verlassen musste, immer sehr, sehr wütend auf sich selber war und sich als Versager gefühlt hat. Da war es immer wichtig, dass er dann zu Hause etwas Sinnvolles tun konnte und sich wieder wertvoll und wirksam erleben konnte.
Als Ausgleich zur Angstumgebung Schule sollte die Freizeit umso mehr Situationen bieten, in denen das Kind erfolgreich, selbstwirksam oder auch einfach entspannt sein kann. Ausflüge, Sport oder auch besondere Events wie Theater- oder Museumsbesuche können hier Ideen sein. Im Zuhause einen sicheren Hafen zu bieten, hier den Fokus auf Sicherheit und Nähe zu legen, den Druck rauszunehmen und das Wohlbefinden zu fördern, ist gerade bei Kindern, die sich aus der Schule zurückziehen, wichtig. Das ist nicht immer leicht, insbesondere, weil Eltern sich oft sorgen, dass das Kind in der Schule den Anschluss verlieren könnte. Hier kann es helfen, sich klarzumachen, dass die Voraussetzung von Leistung, um die es ja letztendlich geht, Wohlbefinden und Angstfreiheit ist. Das Kind emotional aufzufangen, muss darum zunächst der Fokus der Eltern und auch der Schule sein.
Fazit
Schulangst bei hochbegabten Kindern ist ein komplexes Thema, das eine einfühlsame Begleitung und die Zusammenarbeit von Eltern, Lehr- und Fachkräften erfordert. Ihnen gemeinsam Brücken zu bauen und ihre individuellen Bedürfnisse zu sehen und zu respektieren, kann betroffenen Kindern wieder einen angstfreien Schulbesuch ermöglichen.
Impulse zum Weiterdenken
Ist Ihnen Schulangst schon mal begegnet? Falls ja, wie hat sich diese geäußert?
Wie würden Sie Ihre Rolle und Aufgabe verstehen, wenn ein Kind in Ihrer Klasse oder an Ihrer Schule unter Schulangst leidet?
Wen könnten Sie bei sich an der Schule oder in Ihrem Netzwerk ins Boot holen, um ein Kind und seine Familie bei Schulangst zu unterstützen?
Welche flexiblen Angebote können Sie bei sich an der Schule machen, um betroffenen Schüler:innen wieder einen angstfreien Schulalltag zu ermöglichen?
Was brauchen Sie selbst, um Schüler:innen mit Schulangst gut begleiten zu können?
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