Hochbegabung verstehen

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Das Kinderparlament – ein Weg für echte Partizipation

Das Kinderparlament – ein Weg für echte Partizipation

In einem sogenannten Kinderparlament bekommen Kinder die Chance, demokratische Verhaltensweisen und Rituale aktiv zu erproben und zu verinnerlichen. Da Demokratie kein Selbstläufer ist – wie aktuelle politische Entwicklungen einmal mehr zeigen –, sollte die demokratische Kompetenz von Kindern so früh wie möglich gefördert werden. Wie das gelingen kann, zeigt ein Praxisbeispiel der Kita „Hanna Lucas“ aus Wedel in Schleswig-Holstein.

Von: Gesa Hartenbach

Idee des Kinderparlaments

Die Idee des Kinderparlaments entsprang den Bemühungen, Kinderrechte und die Beteiligung von Kindern weltweit zu stärken. Durch die Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 rückte das Thema verstärkt in den Fokus vieler Organisationen 1. Die UN-Kinderrechtskonvention erkennt Kinder als Schutzbedürftige und als Akteur:innen mit eigenen Rechten an. Dazu zählen unter anderem das Mitbestimmungsrecht (Artikel 12), das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit (Artikel 13) sowie das Recht auf Bildung (Artikel 28) 2. Infolgedessen entstanden erste Projekte, die es Kindern ermöglichen, demokratische Prozesse kennenzulernen und Entscheidungen zu beeinflussen 1. Unter einem Kinderparlament wird ein Gremium verstanden, in dem Kinder die Möglichkeit haben, eigene Themen und Angelegenheiten demokratisch zu verhandeln. Dabei lernen sie parlamentarische Formen kennen und üben diese in einer Praxissituation 3. Die Methode des Kinderparlaments vereint die oben genannten Artikel 12 und 13 miteinander: Es versetzt Kinder in die Lage, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu äußern, zu erfahren, dass ihre Meinung zählt und sie den Alltag aktiv mitgestalten können, und zu lernen, mit Kompromissen sowie der eigenen Frustrationstoleranz umzugehen 4.

Wichtig für den Erfolg eines Kinderparlament ist, dass die Entscheidungen und Ergebnisse der Kinder verbindlich sind 4. Die Bereitschaft der pädagogischen Fachkräfte, die Kinder an relevanten Entscheidungen zu beteiligen und die Ergebnisse umzusetzen, ist eine Voraussetzung für das Gelingen. So wird auch die ressourcenorientierte Sichtweise auf Kinder gestärkt und ein konstruktiver Dialog zwischen Fachkräften und Kindern ermöglicht 5.

Der amerikanische Pädagoge John Dewey betonte in seiner demokratieorientierten pädagogischen Arbeit, dass Kinder demokratisches Handeln und Verhalten durch eigene Erfahrungen und Handlungen am besten lernen 6. Ihm zufolge bietet das Kinderparlament dafür einen idealen Rahmen, in dem Kinder durch Partizipation und Teilhabe gemeinsam mit anderen demokratische Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit erwerben 6.

Bild: iStock.com/Kiwis

Praktischer Ablauf eines Kinderparlaments

Die Zusammensetzung und Tagungsregelmäßigkeit des Kinderparlaments können je nach Ausgestaltung variieren. Bei jüngeren Kindern – etwa Kita-Kindern – ist eine enge Betreuung durch die pädagogischen Fachkräfte nötig. Eine starke Handlungsorientierung ist dabei wichtig 7. Damit ein Kinderparlament produktiv sein kann, müssen klare Regeln bzw. Verhaltensweisen gelten und beachtet werden:

  • Wie wird miteinander gesprochen?
  • Wie wird sachorientiert diskutiert?
  • Wie wird geregelt, dass alle Kinder zu Wort kommen können?
  • Wie werden Ideen gesammelt?
  • Wie wird über Ideen abgestimmt?
  • Wie werden Entscheidungen und Themen dokumentiert und präsentiert?

Bedeutung von Partizipation

„Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden“ 8. Partizipation ist ein zentrales Bildungsziel und gilt als grundlegende Voraussetzung für erfolgreiche Bildungs- und Entwicklungsprozesse. Sie spielt eine wichtige Rolle in der persönlichen Entwicklung von Kindern, und ist damit auch gesellschaftlich bedeutsam 3.

Mithilfe von Partizipationsmöglichkeiten erfahren und lernen Kinder Selbstwirksamkeit. Das Selbstbewusstsein wird gestärkt, wenn Kinder die Erfahrung machen, dass ihre Meinung zählt und Veränderungen bewirken kann. Wenn Kinder in Entscheidungen eingebunden werden, übernehmen sie automatisch Verantwortung für ihr Handeln und dessen Ergebnisse. Dies stärkt ihr Verantwortungsbewusstsein. Durch Diskussionen und die gemeinschaftliche Entscheidungsfindung kommen Kinder in die Situation, andere Standpunkte einzunehmen und von ihrer Meinung abweichende Ansichten zu akzeptieren. Dadurch lernen sie, diese zu respektieren, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, empathisch zu sein sowie Konflikte zu lösen 4. Zudem wird die Teamfähigkeit gefördert, da die Kinder ihre sozialen Kompetenzen im Umgang mit anderen Kindern üben und ausprobieren können 5. Somit wird eine Grundlage für langfristige gesellschaftliche Teilhabe geschaffen.

Pädagogischen Fachkräften kommt dabei die wichtige Aufgabe zu, den Prozess der Aushandlung und Entscheidung methodisch und inhaltlich zu unterstützen sowie zu gestalten, sodass sich alle Kinder – gemäß ihrem Entwicklungsstand – daran beteiligten können 7.

Bezug zur Hochbegabung

Alle Kinder – auch die mit einer hohen Begabung – profitieren von einer inklusiven und partizipativ gelebten Grundhaltung in Kitas. Wenn die inklusive Hochbegabtenförderung den Grundprinzipien einer konstruktivistischen Didaktik folgt, die also das Lernen als selbstgesteuerten Prozess begreift, dann werden alle Kinder als aktive Mitgestalter:innen ihrer Entwicklung verstanden 9. Diese Haltung erfordert es, Kita-Kindern Räume und Möglichkeiten zu bieten, in denen sie ihren individuellen Entwicklungsweg selbst beeinflussen und gestalten können. Für hochbegabte Kinder stellen eine real gelebte partizipative Grundhaltung und Partizipationsmöglichkeiten wie das Kinderparlament Gelegenheiten dar, ihre Bedürfnisse, Kompetenzen und Interessen zu zeigen und zu entwickeln 9.

Hochbegabte Kinder haben in einem Kinderparlament zum Beispiel die Chance, als Interessenvertretung für andere Kinder aufzutreten und können so ihr Wissen und ihre Kommunikationsfähigkeiten einsetzen und üben. Auch künstlerische Potenziale können genutzt werden, etwa wenn Kinder malerisch die Ergebnisse protokollieren. Dadurch entsteht eine wertschätzende förderliche Umgebung, in der die Kinder ihre Kompetenzen gegenseitig zu schätzen lernen.

Außerdem verhindern Partizipationsformate wie das Kinderparlament eine unhinterfragte Fremdbestimmung der Kinder durch Erwachsene. Besonders hochbegabte Kinder mit ihren vielfältigen Interessen, ihrer intellektuellen Neugierde und dem Wissensschatz erleben somit weniger Frustrationssituationen, in denen sie von Fachkräften (möglicherweise unbewusst) ausgebremst werden (siehe auch Glossarbegriff Adultismus oder 10).

Ein Praxisbeispiel

Die AWO-Kindertagesstätte „Hanna Lucas“ aus Wedel folgt seit dem Jahr 2000 dem Konzept der Kinderstube der Demokratie. Dies ist ein umfassendes Konzept für Partizipation in Kindertageseinrichtungen. In enger Kooperation mit Rüdiger Hansen – Gründungsmitglied des Instituts für Partizipation und Bildung e. V. und Mitentwickler des Konzepts – hat sich das Kita-Team zunächst fortbilden lassen und anschließend über einen langen Zeitraum mit demokratischen Inhalten beschäftigt. Über mehrere Jahre wurde von den pädagogischen Fachkräften der Kita eine Verfassung für die Kita erarbeitet, die 2009 in Kraft getreten ist. Die Verfassung bildet die Grundlage für die real gelebte partizipative Grundhaltung unter den Fachkräften und wird regelmäßig überarbeitet sowie erweitert. Unter anderem sind darin die Verfassungsorgane der Kita und deren Struktur festgehalten: die Kinderkonferenz, der Kindergartenrat bzw. das Kinderparlament und die „Bunte Konferenz“.

Wahl und Arbeitsweise

Einmal im Monat treffen sich routinemäßig alle Gruppensprecher:innen, um die Anliegen der Kita-Kinder aus den vier Gruppen zu besprechen. Bei Bedarf kann das Kinderparlament auch gerne öfter zusammenkommen. Aus jeder Gruppe werden einmal im Jahr – immer kurz vor den Sommerferien – zwei Sprecher:innen für einen Zeitraum von zwölf Monaten gewählt. Diese Zeit ist nicht nur für die Kandidat:innen spannend, sondern für die gesamte Kita. Interessierte Kinder können sich für die Wahl aufstellen lassen; auf Wahlplakaten stellen sie sich vor und geben in einer Selbsteinschätzung an, was ihre persönlichen Stärken sind. Abschließend werden die Wahlplakate im Flur für alle sichtbar für einige Tage aufgehängt.

Am Wahltag wird gruppenintern geheim gewählt. Dafür haben alle Kinder eine Stimme, die mit einem Klebepünktchen für die jeweilige Person vergeben werden darf. Die pädagogischen Fachkräfte dürfen nicht abstimmen. Die feststehenden Gruppensprecher:innen werden im Anschluss in der Vollversammlung verkündet, die jeden Morgen um 9 Uhr für maximal zehn Minuten mit der gesamten Kita (alle Gruppen, Krippe, pädagogische Fachkräfte) in der großen Halle stattfindet. Darin werden kurz und prägnant wichtige Tageshighlights, Kinderwortmeldungen und Berichte besprochen sowie Geburtstage gefeiert.

Nachdem die neuen Gruppensprecher:innen verkündet wurden, treffen sich kurz vor den Sommerferien die vorherigen und die zukünftigen Gruppensprecher:innen in einer gemeinsamen Sitzung. Dort findet der Austausch der Aufgaben statt. Prinzipiell gilt, dass Kinder auch gerne zweimal kandidieren dürfen.

Die Themen, die im Kinderparlament besprochen werden, sind ganz unterschiedlich. Mal sind es persönliche Themen, mal wird die Planung von Festen oder Ausflüge besprochen oder auch Themen aus den Gruppenkonferenzen. Jede Kita-Gruppe tagt einmal pro Woche in der sogenannten Gruppenkonferenz. Dabei geht es um Themen der Gemeinschaft und diese können bei Bedarf von den Gruppensprecher:innen ins Kinderparlament getragen werden. Die Ideenfindung basiert auch oftmals auf dem Beschwerdemanagement der Kita: Beschwerden können entweder direkt von den Kindern an die zuständige pädagogische Fachkraft getragen oder zunächst nur unter den Kindern ausgetauscht werden. Auch Beschwerden oder Themen aus dem Kollegium können im Kinderparlament besprochen werden. Es gibt unterschiedliche Zugangswege, beispielsweise können Inhalte aufgemalt oder von Kindern, die schon schreiben können, aufgeschrieben werden.

Entscheidungen werden per Mehrheit entschieden. Dafür werden je nach Thema zum Beispiel Klebepunkte, Striche oder Muggelsteine verwendet. Nachdem alle Stimmen verteilt wurden, zählen die Kinder gemeinsam mit der pädagogischen Fachkraft die Stimmen aus. Bei wichtigen Entscheidungen, wie etwa Entscheidungen über Regeln bezüglich der Außentür, wird deren Relevanz zwar vorab mit den Kindern besprochen, dennoch liegt das letzte Wort bei den Kindern. In der Verfassung der Kita ist ein Vetorecht für die pädagogischen Fachkräfte aufgeführt, welches in seltenen Situationen zum Einsatz kommt. Die getroffene Entscheidung wird in der Bunten Konferenz für alle verkündet.

Die Bunte Konferenz wechselt sich mit der Vollversammlung ab. Ihr Ziel ist die Bekanntgabe von wichtigen Entscheidungen des Kinderparlaments, die alle betreffen. Damit sie sich von der Struktur der Vollversammlung abhebt, wird sie mit Trommeln eingeläutet und mit einem Zauberspruch beendet. Es wird ein Protokoll erstellt, welches als Plakat im Flur aufgehängt wird. Somit haben neben den Kindern auch Eltern die Chance, sich die Ergebnisse des Kinderparlaments anzuschauen. Für die Gestaltung des Protokolls werden bildliche Symbole für zum Beispiel den Wochentag verwendet. Alle Kinder können sich an der Dokumentation in ihrem gewünschten Maß beteiligen. Je nach Form wird die Dokumentation vermehrt von den Kindern oder den pädagogischen Fachkräften übernommen. Wichtig ist, dass alle Gruppensprecher:innen als Vertretung der Kita-Kinder das Protokoll „unterschreiben“.

Chancen und Potenziale – 
Herausforderungen und Grenzen

Der zentrale Vorteil eines Kinderparlaments ist die politische Bildung der Kinder. Es findet außerdem eine Stärkung der Partizipation und Mitbestimmung statt. Die Kinder bekommen die Möglichkeit, ihre Anliegen und Bedürfnisse zu äußern und sich aktiv in (politische) Diskussionen einzubringen. Neben der Stärkung des Selbst- und Verantwortungsbewusstseins werden zusätzlich soziale und kommunikative Kompetenzen gefördert. Diese sind vor allem für zukünftige gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung relevant.

Neben den zahlreichen bereits genannten Chancen und Potenzialen bringt die Methode des Kinderparlaments für die pädagogischen Fachkräfte auch Herausforderungen und Grenzen mit sich, die es zu beachten gilt: Eine Herausforderung kann das Abgeben von Macht sein. Um den Kindern eine authentische und sinnvolle Partizipation zu ermöglichen, bedarf es einer bewussten und reflektierten Umsetzung. Es ist entscheidend, die Angst vor dem „Machtverlust“ zu überwinden und in das zu vertrauen, was die Kinder wollen. Alexandra Zimmermann – die langjährige Leitung des Kinderparlaments der Kita „Hanna Lucas“ – erlebt immer wieder, dass Kinder ein inneres Gespür dafür haben, was gut für sie ist. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, Vertrauen in Prozesse zu setzen, Sorgen, Ansichten und Meinungen der Fachkräfte wertfrei anzusprechen, ohne dabei manipulierend zu sein. Beispielsweise wurde nach einer finanziellen Spende an die Kita im Kinderparlament darüber diskutiert, was damit angeschafft werden sollte. Viele Ideen, wie ein Barbiehaus, Laufband, Puppen, Trainingsgeräte für die Turnhalle und Hüpfburg, lösten bei den Fachkräften erstmal Unbehagen aus. Im Endeffekt ist es die Hüpfburg geworden – ein voller Erfolg für alle Beteiligten. Es gilt also zuversichtlich zu sein, wie Kinder ihren eigenen Weg ebnen, und gespannt darauf zu sein, wie sehr sie daran wachsen können.

Empfehlung für die Praxis

Es ist immer wertvoll, in den Erfahrungsaustausch mit anderen Institutionen bezüglich der Frage „Wie macht ihr das?“ zu gehen – auch wenn die Art und Weise der Umsetzung selbstverständlich immer auf die eigene Einrichtung adaptiert werden muss. Wichtig bei der Etablierung von neuen Gremien wie dem Kinderparlament ist es, Fehler zu akzeptieren und die Angst vor dem Scheitern zu verlieren. Nur dann können pädagogische Fachkräfte selbst etwas lernen und daran wachsen. Um die Angst zu verlieren, ist es besonders entscheidend, auf die Ideen der Kinder zu vertrauen und ihnen den Raum zu geben, ihre Vorstellungen und Wünsche selbst zu artikulieren.

Die Kita „Hanna Lucas“ hat die positive Erfahrung gemacht, dass die Kinder sehr geduldig und den Fachkräften zugewandt sind, sodass es, selbst wenn etwas schiefläuft, immer die Möglichkeit gibt, noch einmal zurückzugehen und neu anzufangen.

Fazit

Das Praxisbeispiel zeigt, wie Partizipation auf unterschiedlichen Ebenen und mithilfe verschiedener Gremien gelebt werden kann. Es gilt, der Meinung von Kindern Raum und Gehör zu verschaffen und diese ernst zu nehmen. Selbst bei Personalentscheidungen werden die Kinder zu den hospitierenden Personen angehört. Diese echte Partizipation zeigt, wie positiv Kinder sich entwickeln können, wenn sie die Chance bekommen, sich selbst aktiv einzubringen.

Ein Kinderparlament bietet eine großartige Möglichkeit für Kinder – aber auch für pädagogische Fachkräfte – über sich hinaus zu wachsen. Alle Kinder bekommen die große Chance zu erfahren, dass sie etwas bewirken können. Sie lernen dadurch: Ich bin wichtig! Ich werden gehört! Ich habe eine Stimme! Ich kann mit meinem Wirken einen Prozess starten!