Hochbegabung verstehen

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Konzept schulischer Begabungsförderung nach Renzulli

Konzept schulischer Begabungsförderung nach Renzulli

„Welches pädagogische Konzept liegt (zumindest idealerweise) Programmen der schulischen Begabungsförderung zugrunde?“ So lautet übersetzt der Titel des Originalartikel von Joseph S. Renzulli aus dem „International Journal for Talent Development and Creativity“, der für das Karg Fachportal Hochbegabung übersetzt wurde. Renzulli zeigt darin, welche Vorteile es haben kann, wenn sich Schulen für mehr Innovation und kreative Prozesse öffnen.

Von: Joseph S. Renzulli

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Pädagogik ist ein anderes Wort für Erziehungswissenschaft, für den Beruf und die Wissenschaft des Lehrens. Pädagogik geht auf die griechischen Wörter paidagōgia (Kind oder Schüler) und paidagōgos (Lehrer oder Führer) zurück. Pädagogik betrachtet den Lehrberuf als Erziehungswissenschaft.

Joseph S. Renzulli, University of Connecticut, USA
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In aller Welt werden Bildungssysteme häufig vornehmlich als Orte der Wissens- und Kompetenzvermittlung angesehen. Die Folge davon sind hochgradig regulierte Lehrpläne und ein pädagogisches Konzept, bei dem den Lernenden festgelegte Inhalte präsentiert werden und der Fokus auf dem Erwerb, Auswendiglernen und Wiederholen von Informationen liegt. Die andauernde Umsetzung einer solchen Pädagogik führt dazu, dass die für das 20. Jahrhundert typischen kognitiven Kompetenzen, die für Innovation und kreative Produktivität förderlich sind, zurückgehen. Nie zuvor war das Vertrauen in das öffentliche Bildungswesen bei progressiven Pädagoginnen und Pädagogen sowie der Arbeitgeber- und Unternehmerschaft so gering ausgeprägt wie heute. Und auch zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer empfinden auf die eine oder andere Weise Frustration, weil sie durch übermäßige Regulierung in ihrer Freiheit, den Unterricht kreativer und interessanter zu gestalten, eingeschränkt sind.

Von Einstein stammt der Ausspruch, die Art, wie etwas unterrichtet wird, lasse sich am besten beschreiben als der Unterschied zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen. Obwohl Pädagoginnen und Pädagogen schon seit Jahren die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen organisatorischen Möglichkeiten schulischer Begabungsförderung diskutieren (z. B. Pull-out- oder Push-in-Programme, Ganztagsmodelle, Magnetschulen oder spezielle Schulen für Hochbegabte), hat die Frage des pädagogischen Konzepts in der schulischen Begabungsförderung – was also unabhängig von den organisatorischen Begebenheiten dort tatsächlich vonstattengehen sollte – bislang nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Bevor ich mich nun mit der Art von Pädagogik befasse, für die ich mich seit fast einem halben Jahrhundert einsetze, möchte ich zunächst auf zwei Punkte eingehen, von denen ich mich in meiner Arbeit habe leiten lassen.

Was ist der Zweck einer schulischen Begabungsförderung?

In Hinblick auf diese häufig gestellte Frage kann man zweifellos geteilter Meinung sein, aber ich habe sie immer folgendermaßen beantwortet: „Die Zahl kreativer und produktiver junger Menschen zu erhöhen, die einen innovativen Beitrag zu Kultur, Wissenschaft und allen anderen Bereichen menschlichen Wissens und menschlicher Produktivität leisten können.“ In diesem Zusammenhang habe ich eine Unterscheidung getroffen zwischen dem, was ich als „Schul(haus)begabung“ bezeichne, und dem, was ich „kreativ-produktive Begabung“ nenne. Was Schulbegabung ausmacht, dürfte allgemein bekannt sein – das Erlernen der vorgeschriebenen Inhalte sowie die Fähigkeit, das Erlernte durch eine Prüfung oder durch mündliche, schriftliche, künstlerische, darstellerische oder sonstige Ausdrucksweise unter Beweis zu stellen. Kreativ-produktive Begabung wiederum umfasst jene Aspekte menschlichen Handelns und Engagements, bei denen im Vordergrund steht, neue Ideen, Materialien und Produkte mit der Intention zu entwickeln, bei einer oder mehreren Zielgruppen Wirkung zu zeigen. Lernsituationen zur Förderung einer solchen kreativ-produktiven Begabung sind darauf ausgerichtet, dass Informationen (Inhalte) und Denkfähigkeiten auf integrierte, induktiv vorgehende und an realen Problemen orientierte Art und Weise genutzt und angewendet werden. Damit wandelt sich die Rolle von Schülerinnen und Schülern: Sie sind nicht mehr Lernende, die sich die vorgeschriebenen Inhalte der Schulstunden einprägen müssen, sondern sie übernehmen den modus operandi von eigenständig Forschenden. Dieser Ansatz unterscheidet sich fundamental von der Ausbildung einer Schulbegabung, bei der meist deduktives Lernen, strukturierte Lehrpläne und der Erwerb, das Speichern und der Abruf von Informationen im Vordergrund stehen.

Foto von Kindern in 3zu2
Bild: istock.com/shironosov

Was macht ein reales Problem aus?

Bei kreativ-produktiver Begabung geht es ganz einfach darum, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten dafür einsetzen, sich mit realen Problemen und Themengebieten auseinanderzusetzen, die für sie eine persönliche Relevanz haben und bei denen sich die Forschungsaktivität auf ein angemessen herausforderndes Niveau anheben lässt. Die Rollen, die den Schülerinnen und Schülern bzw. den Lehrpersonen bei der Beschäftigung mit diesen Problemen jeweils zukommen, sind an anderer Stelle beschrieben worden 12 und haben in Form von Konzepten wie authentischem Lernen, erfahrungsorientiertem Lernen und immersivem Lernen Eingang in die Regelschule gefunden. Laut meiner Definition haben reale Probleme folgende vier Eigenschaften:

  • sie liegen im persönlichen Interessensbereich der Schülerinnen und Schüler
  • sie sind mit authentischen Methoden bearbeitbar (Kompetenzen in den Bereichen Recherche, Forschung, Kreativität)
  • sie haben keine bestimmte, von vornherein feststehende korrekte Lösung
  • sie sind für eine oder mehrere Zielgruppen relevant.

Die Geschichte der menschlichen Kultur lässt sich in weiten Teilen über die kreativen und produktiven Leistungen erfassen, die von den begabtesten und talentiertesten Menschen der Welt erbracht worden sind. Was aber bringt manche Menschen dazu, ihre Voraussetzungen in puncto Intelligenz, Motivation und Kreativität auf eine Weise einzusetzen, dass herausragende Zeugnisse kreativer Produktivität dabei entstehen, während andere, obschon sie ähnliche, wenn nicht gar bessere Voraussetzungen mitbringen, hinter dem erwartbaren Leistungsniveau zurückbleiben? Und warum ist die kreativ-produktive Begabung wichtig genug, um den „sauberen“ und relativ einfachen traditionellen Ansatz, Schülerinnen und Schüler aufgrund von Testergebnissen auszuwählen, in Frage zu stellen? Warum sollte man Staub aufwirbeln und die Auffassung in Zweifel ziehen, dass Begabung durch einen bloßen Test numerisch definierbar wäre? Die Antworten auf diese Fragen sind einfach und doch sehr überzeugend. Eine Durchsicht der Forschungsliteratur 23 macht deutlich, dass zur Bestimmung des menschlichen Potenzials viel mehr gehört als die Fähigkeiten, die durch herkömmliche Intelligenz-, Eignungs- und Leistungstests gemessen werden können. Darüber hinaus hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass es in allen Bereichen menschlichen Strebens immer die kreativen und produktiven Menschen der Welt waren – also diejenigen, die Wissen schaffen, statt es nur zu konsumieren –, die als „wirklich begabt“ in die Geschichte eingegangen sind. An Menschen, die einfach nur gut bei Intelligenztests abgeschnitten oder immer gute Arbeiten nach Hause gebracht haben, erinnert sich am Ende niemand. Die schiere Menge an Volksweisheiten, massenmedialen Schilderungen sowie biografischen und anekdotischen Berichten über Kreativität und Begabung sind geradezu erschlagend. Eine sorgfältige Lektüre der Fachliteratur über Kreativität kann jedoch etwas Klarheit in die Sache bringen.

So besteht bei Kreativitätsforscherinnen und -forschern im Wesentlichen Einigkeit darüber, dass Kreativität die Kombination aus Originalität und durch einen bestimmten Kontext vorgegebener Aufgabenangemessenheit ist 4. Darüber hinaus werden in der Forschung vier Stufen der Kreativität unterschieden – von der eher subjektiv empfundenen Kreativität (Mini-C) über die Alltagskreativität (Little-C) bis hin zur professionellen (Pro-C) und schließlich der überragenden (Big-C) Kreativität 56. Ebenso gehen Kreativitätsforscherinnen und -forscher davon aus, dass es zwar grundsätzlich möglich ist, auf den unteren dieser Stufen in mehreren Bereichen kreativ zu sein, dass besonders ausgeprägte kreative Produktion aber eher bereichsspezifisch ist 7.

Trotz dieser Erkenntnisse aus der Kreativitätsforschung sind wir jedoch immer noch nicht dazu in der Lage, die fundamentale Frage zu beantworten, wie und warum manche Menschen ihr Talent so entwickeln, dass sie herausragende analytische, forschende und kreative Leistung erbringen. Auch wenn es verlockend wäre, mithilfe einer weiterer „Zutatenlisten-Theorie“ (auf Grundlage von Begabungsmerkmalen) zu erklären, warum manche Menschen Herausragendes leisten, befasst sich die in diesem Artikel ausführlich dargestellte Lerntheorie damit, wie sich drei miteinander in Wechselbeziehung stehende Wissensarten in die Struktur und Qualität formaler Lernerfahrungen einfügen. Bei diesen Arten handelt es sich um vermitteltes Wissen, analysiertes Wissen sowie angewandtes und kreiertes Wissen 8, ein Überblick dazu findet sich in Abbildung 3.2. Das im weiteren Verlauf dieses Artikels vorgestellte pädagogische Konzept basiert auf der Rolle von Wissen bei der Entwicklung einer forschenden Geisteshaltung und hoher kreativer Produktivität, und auf dem Beitrag, den die Kombination dreier Wissensarten zu dem großen Ziel der oben erwähnten schulischen Begabungsförderung leistet. Diese Arbeit unterscheidet sich bewusst von Theorien über charakteristische Begabungsmerkmale, da sie sich mit der Organisation und Struktur von Wissen befasst. Auch sind ihre Ergebnisse sowohl für die Lehrplanentwicklung als auch für Unterrichtsstrategien von Relevanz und können in Programme zur Entwicklung begabten Verhaltens bei jungen Menschen Eingang finden. Diese Angebote bilden einen zentralen Schwerpunkt sowohl der Fachliteratur in unserem Forschungsgebiet als auch unserer Programme für Schülerinnen und Schüler mit hohem Potenzial.

Kurzer Überblick über Lerntheorien

Der zweite Punkt im Zusammenhang mit dem pädagogischen Konzept, das hier vorgestellt werden soll, ist die Notwendigkeit, das Kontinuum von Lerntheorien zu verstehen, auf dem sich sämtliche an Schulen geleistete Arbeit abbilden lässt. Sämtliches Lernen, vom Windelalter bis zur Promotion und darüber hinaus, befindet sich auf einem Kontinuum, das sich vom deduktiven, didaktisch vermittelten und präskriptiven Lernen bis zum induktiven, investigativen und forschungsorientierten Lernen erstreckt. Dieses Kontinuum ist in Abbildung 1 dargestellt, und ich möchte betonen, dass beide Pole des Kontinuums wichtig sind. Doch wenn wir Fähigkeiten entwickeln wollen, bei denen Persönlichkeiten wie die in Abbildung 1 unten rechts aufgeführten entstehen, müssen wir uns verstärkt einer Pädagogik zuwenden, wie sie auf der rechten Seite des Schaubilds dargestellt wird. In gewisser Weise spiegelt dieses Kontinuum die in unserem Fachgebiet seit Ewigkeiten diskutierte Unterscheidung zwischen Akzeleration und Enrichment wider. Wenn Akzeleration einfach nur beinhaltet, dass mehr Lernstoff in beschleunigtem Tempo und in größerer Tiefe und Komplexität bewältigt wird, ohne dass auch die Möglichkeit zu dessen kreativer und produktiver Anwendung vorgesehen ist, dann bleibt der pädagogische Ansatz deduktiv, didaktisch und präskriptiv. In ihrer über vierzehn Jahre laufenden Follow-up-Studie an jahrgangsbesten Highschool-Absolventinnen und -Absolventen (mit 11.000 Seiten Interviewdaten von 81 jahrgangsbesten Schulabgängerinnen und -abgängern) kam Arnold 9 zu folgenden Ergebnissen:

Sie verhalten sich regelkonform, arbeiten hart und lernen gern, sprengen aber nicht die Grenzen des Bestehenden. Am besten arbeiten sie innerhalb des Systems, ohne dieses zu verändern. Sie sind sowohl persönlich als auch beruflich vielseitig und erfolgreich, haben sich aber nie mit voller Leidenschaft einem bestimmten Bereich gewidmet. Das klingt nicht gerade nach einem Rezept für Ruhm und Ehre. Die Möglichkeiten, als, sagen wir mal, Steuerberater berühmt zu werden oder die Welt zu verändern, sind eher begrenzt. Obwohl die meisten der jahrgangsbesten Highschool-Absolventinnen und -Absolventen beruflich sehr erfolgreich sind, vermitteln die wenigsten von ihnen den Eindruck, als wären sie auf dem Weg, den Leistungsolymp zu erklimmen und zu wahrer Größe zu gelangen. Jahrgangsbeste werden in der Regel nicht zu den Visionären der Zukunft … meistens machen sie es sich im System bequem, statt es aufzurütteln (9, S. 278).

Grafik erklärt das Kontinuum von Lerntheorien
Abb. 1: Kontinuum von Lerntheorien

Selbst die monumentale Studie von Terman und Oden 10 zur Identifizierung hochbegabter Schüler wirft die Frage auf, welche Eigenschaften für langfristigen Erfolg nötig sind. In der 40 Jahre lang laufenden Längsschnittstudie zu jungen Menschen mit überdurchschnittlichem IQ werden Erkenntnisse beschrieben, die bei der Rezeption der Arbeit häufig übersehen werden.

Um einige der nicht-intellektuellen erfolgsrelevanten Faktoren zu identifizieren, wurde eine detaillierte Analyse der 150 erfolgreichsten und der 150 am wenigsten erfolgreichen Männer durchgeführt. Da sich die weniger erfolgreichen Studienteilnehmer in Bezug auf ihre durch Tests quantifizierte Intelligenz auf keine Weise von der anderen Gruppe unterscheiden, liegt es auf der Hand, dass für herausragende Leistung deutlich mehr nötig ist als ein höheres Intelligenzniveau.

Die Ergebnisse [der Längsschnittstudie] weisen darauf hin, dass Persönlichkeitsmerkmale einen sehr bedeutenden Einfluss auf den Erfolg einer Person haben. Die vier Eigenschaften, bei denen sich die [erfolgreichste und am wenigsten erfolgreiche Gruppe] am deutlichsten unterschieden, waren Ausdauer bei der Zielverfolgung, Zielfokussierung, Selbstbewusstsein und das Fehlen von Gefühlen der Unzulänglichkeit. In der Gesamtschau bestand der größte Unterschied zwischen den beiden Gruppen in einer allseits guten emotionalen und sozialen Anpassung sowie dem Drang nach Leistung (10, S. 148, Kursivierung nicht im Original, Anm. d. Autors ) (siehe auch Anmerkung 1 am Ende des Textes).

Diese Persönlichkeitsmerkmale lassen sich offensichtlich weniger leicht messen oder normieren als Kriterien, die sich aus Leistungstests oder Tests zur Beurteilung der kognitiven Leistungsfähigkeit ergeben. Wenn Terman und Oden deren Einfluss auf eine hohe kreative Produktivität jedoch für so maßgeblich befunden haben, sollte man sich dann nicht auf die Suche nach weiteren Möglichkeiten machen, diese Eigenschaften bei jungen Menschen zu identifizieren? Und, wichtiger noch, sollten wir dann nicht überlegen, wie man sie bei allen jungen Menschen fördern könnte? Durch die Einbeziehung solcher Eigenschaften entfernen wir uns von der Beurteilung des Lernens zugunsten dessen, was ich „Beurteilung zum Lernen“ nenne 11. Zu diesen Eigenschaften zählen beispielsweise Interessen, bevorzugte Lernmodi oder Selbstausdrucksweisen sowie Fähigkeiten im Bereich der exekutiven Funktionen. Aus ebendiesem Grund empfehlen wir in unserem Schulischen Enrichment-Modell zwei Arten allgemeinen Enrichments für alle Schülerinnen und Schüler 12.

Wichtige Dimensionen des empfohlenen pädagogischen Konzepts für eine schulische Begabungsförderung

Compacting – Lehrplanverdichtung

Bei der ersten Dimension geht es um einen Prozess, der Lehrpersonen den Umgang mit sehr leistungsstarken Schülerinnen und Schülern innerhalb des regulären Lehrplans oder auch in fortgeschrittenen oder akzelerierten Kursen ermöglicht. Diese Dimension umfasst eine Reihe von Techniken, mit deren Hilfe (a) individuell festgestellt wird, in welchem Umfang die vorgeschriebenen Lerninhalte bereits beherrscht werden, (b) das Bearbeitungstempo und das Anspruchsniveau der vorgeschriebenen Lerninhalte an die unterschiedlichen Lernstände und Lernstile angepasst wird und (c) den Schülerinnen und Schülern, die die regulären Lerninhalte bereits beherrschen bzw. problemlos und schneller beherrschen werden, alternative Enrichment- und Akzelerationsangebote gemacht werden. Die erste Maßnahme zur Lehrplananpassung erfolgt für einzelne Schülerinnen und Schüler bzw. kleine Gruppen mit ähnlichem Lernstand durch ein systematisches Verfahren, das als „Curriculum Compacting“ oder auch nur „Compacting“ bezeichnet wird – eine Verdichtung bzw. Straffung des Lehrplans. Bei diesem dreistufigen Prozess werden zunächst die Lernziele und -ergebnisse einer bestimmten Lerneinheit definiert, dann wird ermittelt und dokumentiert, welche Schülerinnen/Schüler die meisten oder alle der vorgegebenen Lernziele bereits beherrschen (oder dazu in der Lage sind, diese in einem akzelerierten Tempo zu erreichen), und schließlich werden Ersatzaktivitäten angeboten, mit denen sich diese Schülerinnen und Schüler in der durch die Verdichtung des regulären Lehrplans gewonnenen Zeit beschäftigen. Mögliche Aktivitäten wären beispielsweise schnellere (akzelerierte) Erarbeitung von Inhalten, selbstgewählte Einzel- oder Gruppenprojekte, Peer Teaching oder verschiedene außerunterrichtliche oder außerschulische Angebote. Die Forschung zum Thema „Curriculum Compacting“ hat ergeben, dass es sich um ein Verfahren handelt, das von Lehrpersonen für sämtliche Klassenstufen leicht erlernt und umgesetzt werden kann und von dem die involvierten Schülerinnen und Schüler akademisch profitieren, weil sie die durch diese Art der Akzeleration eingesparte Zeit für die Verfolgung kreativerer und produktiverer Aufgaben und Projekte nutzen können 13.

Eine zweite Maßnahme, um den regulären Lehrplan auf breiterer Basis zu straffen, ist, Lehr- und Arbeitsbücher auf übermäßiges und verzichtbares Übungsmaterial hin zu durchsuchen und dieses „chirurgisch“ zu entfernen. Auf Grundlage der Überzeugung, dass bei der Förderung tiefergehender, komplexerer Lernprozesse „weniger mehr ist“, umfasst dieses Verfahren auch Ersatzaktivitäten in Form von direkter Vermittlung von Denkstrategien sowie die auf forschendes Lernen ausgerichtete Weiterentwicklung von Lehrplänen auf Grundlage des „Multiple Menu Model for Developing Differentiated Curriculum for the Gifted and Talented“ 14. Bei diesem Modell zur Lehrplandifferenzierung liegt der Schwerpunkt auf der Nutzung repräsentativer Konzepte, Fragestellungen, Muster, Organisationsstrukturen und Forschungsmethoden, um Themen sowohl innerhalb traditioneller Wissensdomänen als auch interdisziplinärer Studienfelder in ihrem Kern zu erfassen. Für vertieftes Lernen sind zudem zunehmend komplexe Inhalte notwendig, die immer höhere Stufen der Wissenshierarchie abbilden: von Fakten über Prinzipien und Verallgemeinerungen bis hin zu Theorien. Diese Fertigkeiten sowie der Umgang mit fortgeschrittenem Wissen bilden die kognitiven Strukturen und Problemlösestrategien, die auch dann noch Bestand haben, wenn die Schülerinnen und Schüler das Faktenwissen, das bei traditionellen Lernformen meist im Vordergrund steht, schon längst wieder vergessen haben. Durch den Wegfall repetitiver Übungseinheiten wird Langeweile verringert und Raum für problemorientiertes Lernen, thematische und interdisziplinäre Lerneinheiten und eine ganze Reihe weiterer authentischer Lernerfahrungen geschaffen.

Enrichment und Unterricht mit dem Triadischen Enrichment-Modell

Die Triebfeder hinter der Entwicklung des Triadischen Enrichment-Modells war der Wunsch, Lernenden den Weg zu dem zu ebnen, was ich als die „Drei E-s“ bezeichne: Erfüllung, Engagement und Enthusiasmus fürs Lernen. Wir alle können aus eigener Erfahrung sagen, dass wir uns, wenn uns etwas erfüllt und Freude bereitet, automatisch mehr dafür engagieren, woraus dann wiederum Enthusiasmus fürs Lernen entsteht. Der wesentliche Fokus des pädagogischen Konzepts, das empfohlen wird, um bei jungen Menschen begabtes und zu kreativer Produktivität führendes Verhalten zu fördern, liegt auf drei miteinander in Wechselbeziehung stehenden Typen von Enrichment, wie sie in Abbildung 2 dargestellt sind.

Grafik zum Triadischen Enrichment Modell
Abb. 2: Enrichment Triad Model

Beim Triadischen Enrichment-Modell handelt es sich um eine Sammlung von Strategien, die sowohl bei Lehrpersonen als auch bei Schülerinnen und Schüler aktive Lernmethoden fördern sollen. In gewisser Weise ist die Herangehensweise bei diesem Ansatz das genaue Gegenteil der herkömmlichen präskriptiven und didaktischen Lehrmethoden. Ihm liegen vier Prinzipien zugrunde:

  • Jede und jeder Lernende ist einzigartig. Deshalb müssen bei allen Lernerfahrungen die Fähigkeiten, Interessen, Lernstile und persönliche Ausdrucksform des Individuums Berücksichtigung finden.
  • Lernen ist effektiver, wenn die Schülerinnen und Schüler Freude an der Sache haben. Deshalb muss Freude bei der Entwicklung und Beurteilung von Lernerfahrungen dieselbe Bedeutung zukommen wie anderen Zielen.
  • Lernen wird als sinnvoller empfunden, bereitet mehr Freude und lädt zu größerem Engagement ein, wenn sowohl die Inhalte als auch die Arbeitstechniken im Kontext eines realen Problems erlernt werden, wenn die Lernenden zur Bearbeitung des Problems authentische Methoden anwenden und wenn sie wollen, dass ihre Arbeit für eine oder mehrere von ihnen selbst gewählte Zielgruppe(n) relevant ist.
  • Diese Art des Lernens und Unterrichtens durch Enrichment ist darauf ausgerichtet, Wissen aufzubauen und kognitive Kompetenzen zu erwerben, aber der eigentliche Schwerpunkt liegt darauf, Wissen und Fertigkeiten auf reale Probleme, wie sie weiter oben beschrieben wurden, anzuwenden.

Viele der Enrichment-Angebote beruhen auf dem Triadischen Enrichment-Modell 1, einem der am häufigsten eingesetzten Enrichment-Modelle in den USA und vielen anderen Ländern der ganzen Welt. Mit dem Triadischen Modell sollen junge Menschen zu kreativer Produktivität angeregt werden, indem sie (1) mit verschiedenen Themen, Interessengebieten und Fachrichtungen in Kontakt gebracht werden, indem (2) anhand selbst gewählter Interessengebiete komplexe Denkfähigkeiten entwickelt und Arbeitsmethoden vermittelt werden, wie sie beispielsweise in Blooms Klassifikationssystem für Lernziele beschrieben sind 15, und indem die Lernenden (3) die Gelegenheit, Ressourcen und Unterstützung bekommen, ihr Wissen und ihre kognitiven Kompetenzen auf einen Bereich anzuwenden, in dem sie ein eigenständiges Produkt hervorbringen wollen. Diesen drei Phasen entsprechend umfasst das Triadische Enrichment-Modell drei Enrichment-Typen.

Typ-I-Enrichment: Allgemeine Schnupperangebote

Beim Typ-I-Enrichment sollen die Schülerinnen und Schüler mit vielen unterschiedlichen Fachrichtungen, Themen, Berufen, Hobbys, Personen, Orten und Veranstaltungen in Kontakt kommen, die normalerweise nicht Teil des Regelunterrichts wären oder das Interesse an und Beschäftigung mit regulären Lehrinhalten verstärken könnten. In Schulen, bei denen dieses Modell zur Anwendung kommt, kümmert sich häufig ein aus Eltern, Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern zusammengesetztes Enrichment-Team darum, Typ-I-Aktivitäten zu organisieren und zu planen, zum Beispiel indem Referentinnen oder Referenten eingeladen, Workshops, Vorführungen oder Auftritte arrangiert oder Filme, Präsentationen, Videos oder sonstige Print- oder Non-Print-Medien bestellt und zur Verfügung gestellt werden. Durch Internet und Suchmaschinen haben Unterrichtende und junge Menschen mittlerweile Zugriff auf spannende Typ-I-Inhalte und -Erlebnisse aus dem Wissensschatz der ganzen Welt. Selbst von den unzugänglichsten Winkeln der Erde aus können sie ganz unkompliziert Literatur, Sachbücher, Anleitungen, Filme, Videos, Zeitungen und Magazine vergangener Epochen einsehen. Und dank Virtual Reality ist es ihnen möglich, über die Chinesische Mauer zu laufen, bei der Landung in der Normandie den Strand hinauf zu stürmen, selbst eine Mumie zu sezieren und zu konservieren, Präsidentenbibliotheken zu durchstöbern und die faszinierendsten historischen Schauplätze und Kunstmuseen der Welt zu besuchen. Manchmal beschreiben wir Typ-I-Enrichment als den „Angelhaken“ – einen Köder zum Anbeißen, der das Interesse von Schülerinnen und Schülern weckt und zu allen möglichen Folgeaktivitäten führen kann.

Für Lehrpersonen ist die Planung von Typ-I-Aktivitäten zudem eine wunderbare Möglichkeit, sich aktiver in die Lehrplanentwicklung einzubringen. Das Beispiel in Abbildung 3.1 zeigt anschaulich, wie es einigen Lehrkräften in Kleingruppen mittels eines Prozesses, der als „Curricular Enrichment Infusion“ (dt. Integration curricularer Anreicherung, siehe Abb. 3.2) bezeichnet wird 16, gelungen ist, innerhalb von zehn Minuten 22 Typ-I-Ideen zu sammeln, mit denen sich das Thema „US-Bundesstaaten und ihre Hauptstädte“ interessanter vermitteln lässt. Mit demselben themenfokussierten Brainstorming-Prozess lassen sich bei den Schülerinnen und Schülern auch Engagement und Freude steigern.

Grafik zu 22 Ideen in 10 Minuten
Abb. 3.1: 22 Ideen in 10 Minuten
Grafik zur Integration curricularer Anreicherung
Abb. 3.2: Integration curricularer Anreicherung

Typ-II-Enrichment: Vermittlung von Methoden und Arbeitstechniken

Typ-II-Enrichment umfasst Materialien und Methoden, die die Ausbildung von Denk- und emotionalen Prozessen fördern sollen. Eine Übersicht der über- und untergeordneten Kompetenzen, deren Vermittlung für diesen Enrichmenttyp empfohlen wird, findet sich in Abbildung 4. Ein Teil des Typ-II-Enrichments ist allgemeiner Natur. Beispielsweise werden Bereiche wie kreatives Denken und Problemlösestrategien trainiert, Lern- und Arbeitstechniken wie das Klassifizieren und Analysieren von Daten vermittelt, der fortgeschrittene Umgang mit Informationsquellen eingeübt sowie metakognitive Techniken erlernt. Bei Typ-II-Aktivitäten, die meist sowohl innerhalb des regulären Unterrichts als auch in Enrichment-Programmen stattfinden, wird u. a. mithilfe der in Abbildung 4 aufgeführten Kompetenzen eine auf kreatives Denken und Problemlösung ausgerichtete Denkweise ausgebildet. Daneben gibt es auch spezifisches Typ-II-Enrichment, das nicht im Voraus geplant werden kann, da es dabei meist um Kompetenzvermittlung in den von den Schülerinnen und Schülern ausgewählten Interessensbereichen geht. Hat beispielsweise eine Schülerin nach den Typ-I-Aktivitäten ein Interesse an Botanik entwickelt, könnte sie diesen Bereich nun vertiefen, etwa durch weiterführende Lektüre, den virtuellen Besuch eines universitären Biologielabors oder durch die Gründung einer interessebasierten Diskussionsgruppe, in der sie sich mit Gleichgesinnten darüber austauscht, wie die Beschäftigung mit dem Interessengebiet weitergehen könnte.

Es wird empfohlen, dass die Mitglieder des Enrichment-Teams die Sach- und Fachliteratur durchsuchen und eine Materialsammlung zusammenstellen, die für Aktivitäten dieses Enrichment-Typs genutzt werden kann. Da die Materialien von unterschiedlicher Qualität sind, wird des Weiteren empfohlen, sie in der Praxis zu erproben, um festzustellen, ob sich damit die gewünschten Resultate erzielen lassen. Auch schlagen wir vor, dass jede Schule in Zusammenarbeit mit einer Bibliotheksfachkraft eine eigene Ecke in der Bibliothek einrichtet, die für Bücher über Arbeitstechniken reserviert ist. Solche Bücher gibt es für alle Wissensgebiete. Wie Kochbücher vermitteln sie auf sehr praktische Art und Weise, welche Recherche- und Arbeitstechniken man braucht, um die Art von Ergebnissen oder Produkten zu gestalten, wie sie im folgenden Abschnitt beschrieben werden. Anhand solcher Bücher lässt sich jungen Menschen hervorragend beibringen, wie echte Fachleute an ihre Daten und Informationen kommen, welche Ausrüstung benötigt wird, und wie reale Erfahrungen bei der Planung, Recherche und Umsetzung in ihrem gewählten Wissensbereich aussehen.

Typ-III-Enrichment: Beschäftigung mit realen Problemen allein oder in Kleingruppen

Typ-III-Enrichment findet statt, wenn Schülerinnen und Schüler Interesse daran entwickeln, in einer selbst gewählten Disziplin weiterzuarbeiten, und bereit dazu sind, die Zeit zu investieren, die es braucht, um sich komplexe Inhalte und Arbeitsmethoden anzueignen und dabei selbst in die Rolle einer/eines Forschenden zu schlüpfen. Ich habe Typ-III-Enrichment oft beschrieben als den Vorgang, bei dem „ein junger Mensch wie ein echter Profi denkt, fühlt und handelt“, wenn auch auf etwas niedrigerem Niveau als erwachsene Autoren, Wissenschaftlerinnen, Regisseure oder andere Fachpersonen, die sich forschend oder kreativ in ihre jeweiligen Gebiete einbringen.

Grafik zur Taxonomie kognitiver und affektiver Prozesse
Abb. 4: Taxonomie kognitiver und affektiver Prozesse

Typ-III-Enrichment hat u. a. folgende Ziele:

  • Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit bieten, ihre Interessen, ihr Wissen, ihre kreativen Ideen und ihr Engagement an einem selbst gewählten Problem oder Forschungsgebiet anzuwenden
  • erweitertes Verständnis des Wissens (der Inhalte) und der Methoden (der Prozesse) vermitteln, wie sie in bestimmten Disziplinen, Kunstformen oder bei interdisziplinären Fragestellungen zum Einsatz kommen
  • authentische Produkte entwickeln, die primär darauf ausgerichtet sind, bei einer konkreten Zielgruppe eine erwünschte Wirkung zu zeigen
  • Fertigkeiten des selbstregulierten Lernens fördern in den Bereichen Planung, Organisation, Ressourcengebrauch, Zeitmanagement, Entscheidungsfindung und Selbstevaluation
  • Aufgabenzuwendung, Selbstbewusstsein und ein Gefühl kreativer Errungenschaft herausbilden.

In Tabelle 1 finden sich einige Beispiele für Typ-III-Produkte, die von Mittelstufenschülerinnen und -schülern erstellt wurden.

Tabelle mit Beispielen von Typ-III-Produkten
Tab. 1: Beispiele von Typ-III-Produkten

Enrichment-Cluster (Projektgruppen)

Auch wenn Enrichment grundsätzlich in allen schulischen Strukturen (z. B. Basislehrplan, Enrichment-Gruppen, Praktika) eingesetzt werden kann, haben wir festgestellt, dass ein fester „Platz“ im Stundenplan am besten sicherstellt, dass alle Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit bekommen, an dieser anderen Unterrichtsform teilzunehmen. Ein solcher fester Platz wird als „Enrichment-Cluster“ bezeichnet. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Umsetzung solcher Cluster dem Verbesserungsprozess zu unmittelbarer Sichtbarkeit verhilft und die Lernenden, das Kollegium und die Elternschaft bemerkenswert enthusiastisch darauf reagieren. Die Cluster sind außerdem eine hervorragende Möglichkeit, Lehrpersonen offiziell die Erlaubnis zu geben, die auf der rechten Seite des Kontinuums in Abbildung 1 angesiedelte Lerntheorie praktisch zu erproben.

Bei Enrichment-Clustern handelt es sich um nicht weiter differenzierte Gruppen von Schülerinnen und Schülern, die ein gemeinsames Interesse teilen und zusammenkommen, um diesem Interesse während eigens dafür vorgesehenen Zeitfenstern, meist einem halben Tag pro Woche, gemeinsam nachzugehen. Für Enrichment-Cluster gilt eine „goldene Regel“: Alles, was die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Clusters tun, muss darauf ausgerichtet sein, ein Produkt oder eine Dienstleistung für eine „im echten Leben“ real existierende Zielgruppe zu erarbeiten. Durch diese Regel wird sichergestellt, dass im Kontext der zur Erarbeitung des selbst gewählten Endergebnisses stattfindenden Aktivitäten nur relevante Inhalte gelernt und authentische Methoden angewendet werden. Die Cluster werden von allen Lehrkräften (auch für die Fächer Musik, Kunst, Sport etc.) unterstützt, und viele Schulen, an denen diese Fördermaßnahme umgesetzt wird, binden zusätzlich auch Eltern und weitere Mentoren aus dem kommunalen Umfeld mit ein. Bei der Beteiligung Erwachsener an einem konkreten Cluster sollten dieselben interessebasierten Kriterien zugrunde gelegt werden wie bei der Clusterwahl der Schülerinnen und Schüler.

Wie bei anderen außerschulischen Aktivitäten und Bildungsprogrammen (z. B. 4-H und Junior Achievement) treffen sich auch die Clustergruppen zu festen Zeiten, wobei vorausgesetzt wird, dass die Lernenden und die Lehrpersonen (oder die übrigen Mentoren) freiwillig dabei sind und wirklich teilnehmen wollen. In den Clustern wird höchster Wert auf die Ausbildung fortgeschrittener kognitiver Kompetenzen sowie auf deren kreative und produktive Anwendung auf realweltliche Situationen gelegt. Die Arbeit an einem gemeinsamen Ziel erfordert echte Kooperation, und die „Arbeitsteilung“ innerhalb der Cluster sorgt dafür, dass unterschiedliche Kompetenz- und Engagementniveaus die Möglichkeit zur Differenzierung bieten und die einzelnen Schülerinnen und Schülerinnen auf unterschiedliche Art und Weise eine Führungsrolle übernehmen können. Diese Art von Lernumgebung trägt individuellen Unterschieden in hohem Maße Rechnung und fördert bei den Schülerinnen und Schülern daher Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit und das positive Gefühl, das sich einstellt, wenn man Teil eines zielorientierten Teams ist. Um es anders auszudrücken: Wenn wir Bedingungen schaffen, in denen ein Kind als Spezialist in einer spezialisierten Gruppe agieren kann, wird jedes Kind seine spezielle Begabung entfalten.

Enrichment-Cluster können sich mit Einzelwissenschaften, mit interdisziplinären Themen oder fachübergreifenden Fragestellungen befassen. Einer Gruppe, die auf ein Theater- oder Filmprojekt hinarbeitet, könnten beispielsweise Schauspieler, Drehbuchautorinnen, Kostümdesigner und technische Spezialistinnen angehören. In jedem Fall geht es in den Clustern um Arbeitstechniken, kognitive Fähigkeiten und zwischenmenschliche Beziehungen, wie sie auch im echten Leben Anwendung finden. Die Arbeit der Schülerinnen und Schüler ist auf die Erstellung eines Produkts oder einer Dienstleistung ausgerichtet. Dabei wird der Lernprozess nicht durch einen Unterrichts- oder Lektionsplan vorgegeben, sondern orientiert sich an drei Fragen:

  • Wie gehen Leute vor, die sich für diesen Bereich – zum Beispiel Filmproduktion – interessieren?
  • Welche Kenntnisse, Materialien oder andere Ressourcen benötigen wir, um authentisch in diesem Bereich arbeiten zu können?
  • Wie können wir unser Produkt oder unsere Dienstleistung am Ende einsetzen, damit es die gewünschte Zielgruppe erreicht?


Cluster finden im Rahmen eines längeren festen Zeitfensters – meistens an einem halben Tag pro Woche – statt und werden bei fortbestehendem Interesse zuweilen über mehrere Halb- oder sogar Schuljahre weitergeführt, sofern die Schülerinnen und Schüler zunehmend engagiert bei der Sache sind und sich die Qualität des Endprodukts dadurch weiter verbessert. Die Entscheidung für die Teilnahme an einem Cluster wird auf Grundlage der im Talentportfolio („Total Talent Portfolio“) zusammengetragenen Interessen und Informationen getroffen. Schülerinnen und Schüler, die in einem bestimmten Bereich eine hohe Fachkompetenz entwickeln, können in ihrem eigenen Cluster eine Hilfs- oder Mentorenrolle übernehmen (in der Regel gegenüber jüngeren Teilnehmenden).

Es gibt inzwischen zahlreiche Studien zum Schulischen Enrichment-Modell (SEM) sowie praktische Erprobungen an Schulen mit den unterschiedlichsten demografischen Zusammensetzungen der Schulgemeinschaft 17. Hier können Schulen, die das SEM bei sich umsetzen möchten, sowohl wissenschaftlichen Rückhalt als auch praktische Anregungen finden. Bei Interesse an der Umsetzung des Modells wird empfohlen, die Autorinnen zu kontaktieren und/oder einige der in der Literaturliste am Ende des Artikels aufgeführten Materialien zu studieren. Hier nun einige Beispiele für Beschreibungen von Enrichment-Clustern:

Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg

Stell dir die Welt vor, wie sie vor ungefähr achtzig Jahren war. Hitler war an der Macht, und viele Staaten führten Krieg gegeneinander. In diesem Cluster beschäftigen wir uns mit den Ereignissen der vierziger Jahre, einschließlich des Holocausts, und untersuchen, wie sie unser heutiges Leben noch immer beeinflussen. Ein mögliches Produkt wäre ein Archiv von Video-Interviews mit Holocaust-Überlebenden unserer Stadt.

Schauspielwerkstatt

Entwickle dein schauspielerisches Talent durch die Arbeit an Szenen aus klassischen und zeitgenössischen Theaterstücken. Anhand unterschiedlicher Stücke von Shakespeare, Molière, Tschechow, Tennessee Williams, Arthur Miller und anderen von den Teilnehmenden ausgewählten Dramatikerinnen und Dramatikern können verschiedene Schauspielstile erkundet werden. Die Schülerinnen und Schüler werden Stücke lesen und Szenen auswählen, die sie sich im praktischen Spiel erarbeiten. Als mögliche Aktivitäten könnte man Schauspielerinnen und Schauspieler einladen, an Proben teilnehmen und eine für einen bestimmten Stil oder eine bestimmte Zeit typische Szene auswählen und auf die Bühne bringen.

Geh den Dingen auf den Grund – und schreib darüber!

Arbeite an unserer ersten Schulzeitung mit. Erweitere deine journalistischen Fähigkeiten, indem du für unsere neue Publikation recherchierst und berichtest. Hierfür kommen alle möglichen Artikel infrage, zum Beispiel Neuigkeiten aus den Jahrgängen, Reportagen über die Schule, Interviews mit Schulangehörigen, eine Ratgeber-Kolumne, Berichte über besondere Arbeiten aus der Schülerschaft, Leitartikel oder Buch- und Filmrezensionen.

Lyrik vor!

Hier könnt ihr euch über Gedichte austauschen – über eure eigenen oder die von anderen. Hier findet jede Art von Lyrik ihren Platz, auch zum Beispiel Akrosticha, Limericks, Formgedichte, Minderheitenlyrik, Chorgedichte.

Der Software-Check

Es gibt jede Menge Software für alle möglichen Fächer. Welche würdest du den Lehrkräften unserer Schule zur Anschaffung empfehlen? In diesem Cluster kannst du verschiedene Arten von Software evaluieren, einschließlich Multimedia. Deine Empfehlungen werden von den Lehrkräften unserer Schule berücksichtigt.

Die eigene Pädagogik auf den Prüfstand stellen

Eine praktisch leicht umsetzbare Möglichkeit, eine aktivierendere und motivierendere Pädagogik zu fördern, besteht darin, den eigenen Unterrichtsstil unter die Lupe zu nehmen. Für den Anfang kann man hierfür einen Blick darauf werfen, welche Verben man verwendet, insbesondere beim Fragenstellen. In Abbildung 5 sind Verben aufgelistet, die mit den drei in Abbildung 3.2 zusammengefassten Wissensarten korrelieren. Mittlerweile gibt es Computer-Software, mit der sich Unterrichtsdiskurse aufzeichnen und anschließend analysieren lassen, beispielsweise die Häufigkeit, mit der Verben wie die in Abbildung 5 verwendet werden.

Grafik mit Wörtern, die genutzt werden um ...
Abb. 5: Wörter, die genutzt werden um ...

Eine solche Selbstbeurteilung in Hinblick auf die Häufigkeit der jeweiligen Verben kann Lehrpersonen als Orientierungshilfe dienen, wenn diese ihren Unterricht planen, Lernziele festlegen und sich darum bemühen, bei ihren Schülerinnen und Schülern Denkfähigkeit und eine höhere kognitive Kompetenz zu fördern. Natürlich lässt sich so etwas nicht ohne den entsprechenden Willen und die Unterstützung von Seiten führender Verwaltungsmitglieder und politischer Entscheidungstragender umsetzen. Entsprechend besteht die größte Herausforderung darin, die Aufmerksamkeit derer, die darüber zu entscheiden haben, was in den Klassenzimmern geschieht, auf diese pädagogischen Themen zu lenken. Wenn es stimmt, dass man nur glaubt, was man sieht, wären Pilotschulen, an denen diese Art der begabungsfördernden Pädagogik umgesetzt und demonstriert wird, eine gute Möglichkeit, einen Veränderungsprozess in Gang zu setzen. Und auch wenn es zahlreiche Bücher zu Fragetechniken gibt – in letzter Zeit das beste Buch zum Thema, wie man zu kreativem und forschendem Denken anregende Fragen stellt, ist Now That‘s A Good Question von Erik Francis 18 (leider nur auf Englisch verfügbar, Anm. d. Übersetzerin).

Zusammenfassung und Ausblick

In den vergangenen zwei Jahrhunderten hat die Forschung in Erziehungswissenschaft und Psychologie große Fortschritte gemacht und unser Verständnis davon, wie komplex Begabung ist und wie sich die Begabungsentfaltung bei jungen Menschen fördern lässt, geschärft. Und die große Vielfalt an Optionen für Förderprogramme, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, hat einen großen Teil dazu beigetragen, uns praktische Möglichkeiten aufzuzeigen, wie wir junge Menschen mit herausragendem Potenzial besser fördern können. Allerdings verlangt unser weiterhin wachsendes Fachgebiet, dass wir unsere Forschungen und Entwicklungsbemühungen in Richtungen ausweiten, die bislang nur oberflächlich betrachtet oder weitgehend ignoriert wurden. In diesem Artikel wurde einer grundlegenden Frage unseres Forschungsgebiets nachgegangen: Wie das ideale pädagogische Konzept zur Entfaltung von kreativ-produktiver Begabung aussieht oder aussehen sollte, ist eindeutig ein Untersuchungsgegenstand, der auch künftig einen zentralen Platz in Forschung und Weiterentwicklung verdient. Es ist an der Zeit, über die zahlreichen Anleitungen für Lehrkräfte zum Umgang mit Hochbegabung hinauszugehen und stattdessen die Theorien und Fragestellungen zu untersuchen und einzubeziehen, die sich aus dem Lernkontinuum in Abbildung 1 ergeben. Das hier vorgestellte Triadische Enrichment-Modell ist ein solcher Versuch, aber auch andere Theorien müssen entwickelt und erprobt werden.

Wir brauchen sowohl quantitative Fallstudien als auch qualitative Längsschnittstudien, um herauszufinden, wie und auf welche Weise sich Programme zur Begabungsförderung bei den Teilnehmenden auf ihre Entscheidungen, Karrieren sowie kreativen und forschenden Beiträge zu ihren jeweiligen Fachgebieten ausgewirkt haben. In diesem Zusammenhang müssen wir lernen, solche Spezialprogramme als Orte zu sehen, an denen Begabung geschaffen, statt lediglich identifiziert wird. Wenn wir in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren etwas gelernt haben, dann dass aus Forschung und Fachliteratur neue und valide Begabungskonzepte hervorgegangen sind. Wenn wir aber an Programmen festhalten, die im Wesentlichen auf den älteren Modellen mit Schwellenwert-IQ und akzeleriertem Lernen beruhen, dann bremsen wir die Entwicklung neuer und innovativer Programme, in deren Rahmen zukunftsweisende Forschung stattfinden kann.

Auch ist es Zeit, die endlosen Diskussionen darüber ad acta zu legen, ob besonders (leistungs-)fähigen Kindern und Jugendlichen am besten durch Akzeleration oder Enrichment geholfen werden kann, oder ob sich die Förderung Hochbegabter am besten durch Sonderunterricht, eigene Hochbegabtenschulen oder Pull-out-Programme organisieren lässt. Was wir in solch- oder irgendeinem anderen Rahmen tun, ist das, worauf es letztlich ankommt. Und wir müssen endlich damit aufhören, darüber zu diskutieren, ob sich ein Curriculum für Begabte auf Inhalte oder auf Methoden fokussieren sollte – als wäre es auch nur denkbar, das eine ließe sich ohne das andere unterrichten! Vor allem jedoch müssen wir den Fokus unserer Forschungsaktivitäten auf das Kernthema der Bildung für begabte und talentierte Kinder und Jugendliche richten: den Prozess, wie man lernt, zu einem kreativ-produktiven Menschen zu werden. Das in diesem Artikel vorgestellte Modell stützt sich auf das, was ich für die Schlüsselkomponenten eines pädagogischen Konzepts zur Entwicklung von kreativ-produktivem begabtem Verhalten halte. Ein besseres Verständnis der drei interagierenden Komponenten des Triadischen Modells wird dazu führen, dass effektivere Möglichkeiten gefunden werden, um bei jungen Menschen nicht nur ein hohes Kompetenzniveau auszubilden, sondern auch das fachspezifische Denken zu fördern, das dem modus operandi der eigenständig Forschenden zugrunde liegt, ihr Selbstverständnis zur Entfaltung zu bringen und bei ihnen die Leidenschaft für Innovation und Wissenschaft zu wecken, die schon immer ein Charakteristikum der kreativ-produktiven Weltveränderer gewesen ist. Und es liegt in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass an allen Schulen, und ganz besonders an Schulen für Kinder und Jugendliche, die einer Minderheit angehören oder aus einkommensschwachen Familien stammen, die Gelegenheit zu einem solchen anspruchsvollen Arbeiten angeboten wird.

Anmerkung 1:
Es ist zum Teil auf diese Forschungsergebnisse zurückzuführen, dass Aufgabenzuwendung als eine der drei wichtigen Komponenten in das Drei-Ringe-Modell der Begabung aufgenommen wurde 19.

Originalveröffentlichung dieses Artikels:

Joseph S. Renzulli (2023): What is [or Should be] the Pedagogy of Gifted Education Programs. In: International Journal for Talent Development and Creativity, 10(1-2), S. 179–192. Unter: https://doi.org/10.7202/1099951ar

Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Taisir Subhi Yamin, General Director des International Centre for Innovation in Education (ICIE) in Ulm und Mitbegründer des International Journal for Talent Development and Creativity (IJTDC) für die Möglichkeit diesen Artikel in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen.

Übersetzt wurde der Artikel von Lea Cyrus, M. A., Dip Trans IoLET.

Die im Text enthaltenen Grafiken wurden nach den Vorlagen von Renzulli für das Karg Fachportal Hochbegabung neu gestaltet.