Hohe Begabung – hoher Druck?

Layla ist 16 Jahre alt und Schülerin der 10. Klasse eines Gymnasiums. Zuvor hat sie eine Gemeinschaftsschule besucht und wiederholt jetzt auf dem Gymnasium die 10. Klasse, um sich auf die Oberstufe vorzubereiten. In Zeiten von G8 ein üblicher Weg, um nach der Gemeinschaftsschule das Abitur zu machen. In der 9. Klasse wurde Layla nach der Empfehlung ihres Klassenlehrers auf Hochbegabung getestet. Der Test bestätigte, dass sie weit überdurchschnittlich intelligent ist. „Zu wissen, was für ein Potenzial in mir steckt, hat mir das Selbstvertrauen gegeben, es auf dem Gymnasium zu versuchen“, sagt sie. Layla fühlt sich an der neuen Schule sehr gestresst. Das liegt einmal am vollen Stundenplan, aber auch am großen Leistungsdruck, den sie spürt. Sie berichtet, dass sie an der Gemeinschaftsschule immer die Klassenbeste gewesen sei und jetzt große Angst habe, zu versagen. Ihre Eltern, die aus der Türkei nach Deutschland kamen, als Layla noch ein Baby war, würden ihr keinen Druck machen; der komme von ihr selbst: „Eine 3 minus ist für mich ein Weltuntergang. Ich weiß ja, dass ich das eigentlich besser könnte.“
Leistungsdruck ist meist durch mehrere Faktoren bedingt. Manche liegen in der Schülerin oder dem Schüler (z. B. in ihrer Persönlichkeit, ihren biografischen und sozialisationsbedingten Merkmalen), andere in ihrer sozialen Umwelt wie dem familiären oder schulischen Kontext. Eine besondere Begabung kann zusätzliche Faktoren ins Spiel bringen, die Leistungsdruck auslösen oder verstärken.
Ein vorherrschendes Stereotyp über besonders begabte Schüler:innen ist, dass sie gute Noten ganz mühelos erreichen. Sie erbringen beste Leistungen, können Aufgaben leicht und schnell bewältigen, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Dieses Bild – Begabung gleich super Leistung – kann einen hohen Erwartungsdruck auslösen. Darüber hinaus kann bei besonders Begabten die Vorstellung bestehen, schulische Herausforderungen allein schaffen zu müssen und keine Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen 1.
Schüler:innen unterscheiden sich in ihrer Sensibilität für Erwartungen von außen, die aufgrund des Etiketts (Hoch-)Begabung bestehen können. Sind sie dafür empfindsam, kann es sein, dass sie lieber tiefstapeln, um die Erwartungen herunterzusetzen, oder auch maskieren, wenn sie etwas nicht wissen oder können. Dies kann auch dazu führen, dass sie Vergleichssituationen meiden und sich optionalen Bewertungssituationen entziehen. Damit gehen aber auch Gelegenheiten verloren, in denen sie sich als erfolgreich und selbstwirksam erleben können.
Bei Layla scheinen die hohen Leistungsansprüche eher aus ihr selbst heraus zu bestehen. Die Diagnose Hochbegabung gibt ihr dabei sowohl das Vertrauen, dass sie das Zeug zum Abitur hat, übt aber auch einen gewissen Druck aus, die Herausforderungen meistern können zu müssen.
Wie besonders Begabte selbst über Begabung und Intelligenz denken, kann zu mehr oder weniger Druck führen. Interessant sind an dieser Stelle das Attributionsmuster und das Mindset. Die Attributionstheorie 2 beschreibt die Zuschreibung von Erfolg oder Misserfolg auf entweder interne Faktoren oder auf externe, die sich häufig auch außerhalb des eigenen Einflussbereichs befinden (z. B. viele Fehlstunden der Lehrkraft). Zusätzlich wird unterschieden, ob die Faktoren stabil oder veränderbar sind. Intern und stabil wäre z. B. die angeborene genetische Ausstattung, intern und veränderbar die investierte Vorbereitungszeit.
Beim Fixed Mindset 3 werden die eigenen Fähigkeiten oder Begabungen als unveränderbar eingeschätzt. Misserfolg wird nicht auf mangelnde Anstrengung, sondern auf geringe Fähigkeiten (also interne und stabile Attribuierung) zurückgeführt: „Ich habe es einmal probiert. Ich bin einfach nicht schlau genug.“ Das Gegenteil ist ein Growth Mindset. Dahinter steht die Überzeugung, dass Begabung keine feste Einheit ist, sondern es Raum für Entwicklung gibt. Diese Denkweise hilft, Misserfolge und Hindernisse als Chancen und nicht als Grenzen zu sehen.
Layla scheint nicht der Überzeugung zu sein, dass eine hohe Begabung heißt, dass man alle schulischen Herausforderungen mühelos meistert. Misserfolge scheint sie aber eher auf sich (intern) und weniger auf den Schulwechsel (extern) zurückzuführen. Die externen Faktoren stärker zu betrachten, könnte ihr helfen, etwas wohlwollender zu sich zu sein und ihre Selbstansprüche zu relativieren.
Perfektionismus wird in der Gesellschaft oft als positiv bewertet. Dabei kann Perfektionismus auch ungesunde Ausmaße annehmen, besonders wenn ihr Antreiber die große Angst vor Misserfolg ist 4. Perfektionismus kann durch eigene und äußere Leistungsansprüche, aber auch durch das Selbstbild in Bezug auf die eigene Begabung verstärkt werden. Anstrengungsbedarf, Fehler und Misserfolge führen dann zu Selbstzweifeln. Lernen bedarf aber einer gewissen Frustrationstoleranz bei den Lernenden, da die Beschäftigung mit neuen Inhalten immer wieder vor Augen führt, was noch nicht gewusst oder gekonnt wird.
Perfektionismus kann dazu führen, dass sich Schüler:innen aus Angst vor dem Scheitern exzessiv auf Tests oder Referate vorbereiten. Dabei gehen sie oft über ihre Kräfte hinaus und vernachlässigen andere Dinge. Das führt meist zu entsprechend guten Leistungen, die aber oft im Angesicht des übermäßigen Investments eher abgetan werden.
Perfektionismus kann sich aber auch anders äußern, z. B. in Prokrastination 5. Dabei wird auf den Stress, den beispielsweise eine anstehende Klausur auslöst, mit Vermeidung reagiert. Die Schüler:innen erleben dann eine massive emotionale Barriere, die es ihnen unmöglich macht, sich mit einer Aufgabe auseinanderzusetzen. Eine weitere Reaktion kann Self-Handicapping bzw. Selbstsabotage sein 6. Dabei verschafft sich die Schülerin oder der Schüler ein Handicap, das ihr oder ihm bei einem potenziellen Misserfolg als Ausrede dient (z. B. Müdigkeit). Solche schädlichen Strategien erfolgen selten bewusst und sind von außen oft nicht leicht als Reaktionen auf hohen Leistungsdruck zu erkennen.
Bei Layla zeigen sich durchaus perfektionistische Tendenzen. Diese sind vor allem auf ihrer großen Sorge begründet, es nicht auf dem Gymnasium zu schaffen. Bei ihr äußern sich diese Tendenzen in einer enorm hohen Lernzeit. Wenn es Layla gelingen würde, diesen Perfektionismus zu hinterfragen, könnte dies den Raum für Veränderung öffnen.
Der sogenannte Big-fish-little-pond-Effekt (auch Fischteich- oder Bezugsgruppeneffekt) beschreibt die Tendenz, die eigenen Leistungen in Abhängigkeit von den Leistungen der sozialen Bezugsgruppe zu bewerten 7. So kann die gleiche Leistung je nach Kontext sehr unterschiedlich beurteilt werden. In einer eher durchschnittlichen Klasse ist es demnach leichter, mit überdurchschnittlichen Leistungen aufzufallen. Der Übergang in ein Umfeld mit vielen leistungsstarken Personen kann darum erstmal am Selbstwert kratzen und Druck erzeugen, sich wieder die vorherige Leistungsposition zu erkämpfen.
Besonders ausgeprägt kann dieser Druck bei Personen sein, die in der Gruppe der besonders Begabten eher unterrepräsentiert sind, wie Mädchen, Kinder mit Migrationsgeschichte oder aus sozioökonomisch schwächeren Familien. Sie können dadurch nicht nur an ihrer Leistung, sondern auch an ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zweifeln. Angehörige stigmatisierter Gruppen können außerdem befürchten, aufgrund von herrschenden Stereotypen anders beurteilt oder behandelt zu werden oder durch eigenes Verhalten ein Stereotyp zu bestätigen und noch zu verstärken (Stereotype Threat 8). Diese Bedrohung kann zu einer objektiven Leistungsminderung führen.
Layla ist durch den Schulwechsel in einem neuen Umfeld (Teich) und muss sich damit zurechtfinden, nicht mehr die Klassenbeste zu sein. Ihre Aufgabe ist es, die eigene Entwicklung in den Vordergrund zu rücken und ihr Selbstwertgefühl nicht so sehr auf den Vergleich mit anderen zu stützen. Als Mädchen mit Migrationsgeschichte kann es sein, dass sie aufgrund des beschriebenen „Stereotype Threats“ das Gefühl hat, sich beweisen zu müssen. Dass kein besonderer Leistungsanspruch aus ihrer Familie besteht, kann auch als ein fehlendes Zutrauen empfunden werden, sodass Layla entgegen dieser Erwartung zeigen möchte, dass sie es auf dem Gymnasium (allein) schafft.
Layla hat sich auf eigene Faust mithilfe der Vertrauenslehrerin an den Schulpsychologischen Dienst gewandt. Die Eltern waren selbst nicht in die Beratung eingebunden, hatten aber ihr Einverständnis gegeben, dass Beratungstermine mit der Schulpsychologin stattfinden dürfen. In einem Zeitraum von vier Monaten fanden drei Beratungstermine mit Layla statt, zunächst in der Schule, dann im nahe gelegenen Familienberatungszentrum.
Layla zeigte sich als sehr reflektiertes Mädchen, dass sich selbst schon viele Gedanken um seine Probleme gemacht hatte. Sie schilderte für Perfektionismus typische Denkmuster („Für mich gibt es nur schwarz oder weiß.“) und Sorgen („Sobald ich ein bisschen locker lasse, geht alles den Bach runter.“). Im Selbsteinschätzungsfragebogen FLM 7–13 9 erreichte Layla im Vergleich mit Mädchen ihres Alters in den Bereichen Leistungsstreben und aktivierende Prüfungsangst jeweils einen T-Wert >72.
Um die druckauslösenden Gedanken und Attribuierungen zu überprüfen und zu verändern, arbeitete Layla mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat nach Hartmann (1926), Helwig (1967) und Schulz von Thun (1989) 10. Hier wird grafisch dargestellt, wie aus positiv besetzten Werten und Einstellungen (Tugenden) durch Übertreibung negativ besetzte Werte (des Guten zu viel) werden können. Daraus lässt sich in der Folge eine gewünschte Entwicklungsrichtung ableiten. Layla benannte die Tugenden, die für ihre Situation Bedeutung haben, mit „Leistungsbereitschaft“ und „Selbstfürsorge“, die Übertreibungen mit „Leistungsdruck“ und „Faulheit“.
Sie nahm sich klar im Leistungsdruck wahr – und beschrieb ihre Angst, dass sie schon beim kleinsten Nachlassen in der Faulheit landen könnte. Die gewünschte Entwicklungsrichtung war damit ebenso klar: vom Leistungsdruck hin zu mehr Selbstfürsorge. Die grafische Darstellung half Layla, zu erkennen, dass das Risiko für ein Abdriften in Faulheit bei ihr denkbar gering war. Durch diese neue Perspektive war Layla in der Lage, eine bessere Selbstfürsorge zu erreichen und vom übertriebenen Leistungsstreben etwas abzulassen.
Hoher Leistungsdruck ist oft von inneren und äußeren Erwartungen geprägt. Der Druck kann zu großer Angst vor Misserfolgen führen und in ungesundem Perfektionismus sichtbar werden. Eine Veränderung in Mindset und Attributionsmuster kann bei besonders Begabten dazu führen, dass Misserfolge nicht als Begrenzungen der eigenen Fähigkeiten verstanden werden, sondern als Chance für Weiterentwicklung. Gerade in einem starken Leistungsumfeld ist es entscheidend, den Fokus auf die persönliche Entwicklung und nicht auf den Vergleich mit anderen zu legen. Schulpsychologische Unterstützung kann hier einen wertvollen Beitrag leisten, indem sie Schüler:innen hilft, unrealistische Selbstansprüche zu hinterfragen und Strategien für den Umgang mit Leistungsdruck zu entwickeln.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in:
Praxis Schulpsychologie, Ausgabe 42, April 2025
Wir bedanken uns beim Deutschen Psychologen Verlag für die Möglichkeit, den Artikel auch im Karg Fachportal Hochbegabung veröffentlichen zu können.