Begabungsförderliche Strukturen stärken – Chancen im Sozialraum nutzen
Was haben große Fragen über das Sein und eine Faszination für Zahlen gemeinsam? Sie zeigen sich häufig bereits in jungen Jahren – und manchmal sehr eindrucksvoll. Ömer möchte wissen, weshalb wir leben, was nach dem Tod kommt und warum es Sterne gibt. Emma hingegen erkennt überall Muster, zählt mit großer Freude und interessiert sich sehr für geometrische Formen. Beide Kinder haben eine besondere Begabung: Ömer im philosophischen Denken, Emma im mathematischen Bereich. Die Beispiele von Ömer und Emma veranschaulichen: Begabungen sind ganz unterschiedlich und brauchen eine pädagogische Praxis, die auf die vielfältigen Begabungen reagiert.
Wichtig ist es, diese individuellen Interessen früh wahrzunehmen, um die Begabungen rechtzeitig zu fördern. Wenn Kinder erleben, dass ihre Fragen, Ideen und Stärken (an-)erkannt werden, kann echte Begabungsentwicklung geschehen. Die eigenen Begabungen auszuleben und das zu tun, was man gut kann, bereitet häufig im Sinne eines Flow-Moments 2, Freude und kann zur persönlichen Zufriedenheit führen. Langfristig gedacht, kann das Erleben solcher Flow Momente, das Wissen um die eigenen Begabungen fördern, dazu beitragen, Begabungen einzusetzen und somit zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen.
Ein entscheidender Faktor für die Begabungsentfaltung und auch die Begabungsentwicklung ist die Anregung. Längst ist bekannt, dass Begabungen sich nicht, wie vielleicht vermutet, von allein entwickeln (siehe auch 3). Oft benötigen auch begabte Kinder gerade in jungen Jahren Impulse, Herausforderungen, Motivation und Ermutigung. Begabungen entfalten sich vor allem in einer förderlichen (Lern-)Umwelt, wie unter anderem Forschungen von Heller und seinem Team (z. B. 4), deren Ergebnisse nach wie vor Gültigkeit haben, zeigen. Pädagogische Fachkräfte können durch die Gestaltung einer förderlichen Lernumwelt Flow-Momente ermöglichen. Eine gezielte Unterstützung hilft den Kindern, Neugier und Freude am Lernen aufrechtzuerhalten, ihre Kreativität zu entfalten und ihre sozialen sowie kognitiven Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Eine begabungsförderliche Umgebung, wie sie durch eine enge Kooperation zwischen Kita und Sozialraum entstehen kann, kann dazu beitragen, dass Begabungen nicht nur erkannt, sondern gezielt weiterentwickelt werden.
Der Sozialraum bietet eine Fülle an Möglichkeiten, die den Alltag der Kinder bereichern und ihre Begabungen gezielt fördern können. Mithilfe einer Sozialraumanalyse können über die Kita hinaus für die Kinder relevante Räume und Möglichkeiten erschlossen werden, die an die Lebenswelt der Kinder anknüpfen 5. Hierfür schlägt Werner folgendes Vorgehen vor:
Denkbar wäre auch, eine Stadtkarte in der Kita aufzuhängen, auf der die Kinder und Eltern Orte markieren, die für sie wichtig und spannend sind.
Der Sozialraum kann zum einen als Raum im physischen Sinne verstanden werden. Zum Beispiel wenn bestehende öffentliche Räume, die vormittags häufig ungenutzt sind – wie etwa Räume in Gemeindehäusern, Musikschulen oder Museen – einbezogen werden. Diese Orte bieten großes Potenzial für kreative und forschende Bildungsangebote. Denkbar wäre auch, ein „Spielplatz-Hopping“ zu etablieren, bei dem regelmäßig verschiedene Spielplätze in der Umgebung besucht werden, um den Kindern neue (motorische) Herausforderungen zu bieten und ihre Bewegungsfreude zu fördern. Ebenso bieten regelmäßige Ausflüge in die Natur – insbesondere in den Wald – vielfältige Lernmöglichkeiten. Der Wald als naturnaher Lernort kann die Entwicklung von Umweltbewusstsein, Motorik und Forschergeist auf besondere Weise unterstützen.
Der Sozialraum kann jedoch nicht nur als physischer Ort, sondern auch im Sinne von Menschen, Beziehungen und Kooperationen verstanden werden. Dabei bedeutet Sozialraumöffnung sowohl ein Einladen der Kooperations- und Netzwerkpartner in die Kita als auch ein (regelmäßiger) Besuch der Partner. Die Zusammenarbeit mit (Sport-)Vereinen, Kunst- oder Musikschulen, Bibliotheken, Museen, Bauernhöfen, Handwerksbetrieben, Stadtteilcafés, Initiativen usw. eröffnet vielfältige Möglichkeiten, die unterschiedlichen Begabungen der Kinder gezielt zu fördern – auf eine spannende und erlebnisreiche Weise. Auch die Kooperation mit Grundschulen spielt eine zentrale Rolle: Durch frühzeitige Vernetzung mit Grundschulen entstehen sanfte Übergänge für Kinder und wird eine Kontinuität im Bildungsprozess geschaffen. Gemeinsame Projekte zwischen Kita und Schule ermöglichen es, besonders begabte Kinder gezielt zu begleiten und ihnen weiterführende Bildungsangebote auch bereits in der Kita zu eröffnen.
Im Folgenden werden die oben angedeuteten Beispiele der Kinder Ömer und Emma als vertiefende Fallbeispiele dargestellt, die zeigen, wie eine gezielte Sozialraumvernetzung die Begabungsförderung unterstützen kann.
Ömer fragt sich, warum es Sterne gibt, woher das Leben kommt und was nach dem Tod passiert. Besonders gerne spricht er mit Erzieher:innen über den Sinn des Lebens und philosophische Themen. Solche Interessen und Denkweisen weisen auf eine mögliche philosophische Begabung hin – gekennzeichnet durch Neugier, erstes Abstraktionsvermögen und Reflexionsfähigkeit.
Sozialraumöffnung bedeutet für Ömer: Eine Kunstgalerie bietet eine interaktive Führung zu existenziellen Themen an. Im Seniorenheim tauscht sich Ömer mit den Senior:innen über ihre Lebenserfahrungen aus. Auch Bücher und kulturelle Angebote fließen ein – etwa durch eine Buchhandlung, die philosophische Kinderbücher bereitstellt, oder durch eine Lesung eines Kinderbuchautors, der über „ philosophische Fragen“ schreibt. Diese vielseitigen Impulse ermöglichen es Ömer, seine Gedanken weiterzuentwickeln und sie mit anderen zu teilen.
In der Kita wird dieses Angebot mit einer „Frage-Wand“ unterstützt, die es den Kindern ermöglicht, ihre Gedanken mit Hilfe der Fachkräfte aufzuschreiben oder selbst zu malen. In einer wöchentlichen „philosophischen Runde“ erhalten Kinder mithilfe von Bildern und offenen Fragen 6 den Raum, gemeinsam über ihre Fragen nachzudenken.
Emma erkennt Zahlen auf Schildern, zählt gerne und sortiert geometrische Formen mit großer Freude. Ihr Interesse deutet auf eine mögliche mathematische Begabung hin, die sich unter anderem durch ein intuitives Zahlenverständnis und eine starke Mustererkennung auszeichnet.
Die Erzieher:innen richten unter anderem für Emma eine Lernwerkstatt ein, ausgestattet mit Würfeln, Maßbändern, Zollstöcken und spannenden Zahlenspielen. Zudem wird Emma über die Kita hinaus gefördert: In einer nahe gelegenen Bibliothek nimmt sie an einer „Mathe-Werkstatt“ teil, in der sie spielerisch mathematische Zusammenhänge erforscht. Einmal die Woche besucht Emma die „Freie Lernzeit“ in der benachbarten Grundschule und erhält dort für sie knifflige mathematische Aufgaben, die sie gemeinsam mit den Grundschulkindern löst. Im Kita-Alltag ist Emma auch mathematisch unterwegs: Beim Einkaufen zählt sie mit ihrer Gruppe das Obst ab oder misst Zutaten bei der Essenszubereitung in der Kita-Küche. In der Zusammenarbeit mit einem Ingenieur begegnet sie beim Bau einer kleinen Holzbrücke im Kita-Garten realen Anwendungsfeldern mathematischen Denkens.
Die bewusste Öffnung der Kita in den Sozialraum ist ein wichtiger Schritt für eine bedarfsgerechte Begabungsförderung. Sie ermöglicht Kindern neue Erfahrungen, bereichert den pädagogischen Alltag und unterstützt Fachkräfte durch externe Impulse und Ressourcen.
Ein zentraler Mehrwert einer Öffnung der Kita in den Sozialraum ist die ganzheitliche Förderung. Kinder erleben die Kita und die Außenwelt nicht als zwei getrennte Welten, sondern erfahren eine durchgängige Unterstützung ihrer Interessen und Fähigkeiten. Die Verflechtung von Innen- und Außenraum ermöglicht es, Begabungsförderung in den Alltag zu integrieren und dadurch nachhaltiger und vor allem lebensnah zu gestalten.
Gleichzeitig erweitert sich durch die Kooperation mit externen Partnern die Lernumgebung der Kinder. Bibliotheken, Museen, Handwerksbetriebe oder Seniorenheime werden zu bedeutenden Lernorten. Kinder erhalten neue (An-)Reize, machen vielfältige Erfahrungen und begegnen unterschiedlichen Personen, die neue Perspektiven in ihre Bildungsbiografien einbringen können. Der Austausch mit Menschen aus verschiedenen Berufen fördert nicht nur den Blick über den Tellerrand, sondern stärkt auch die sozialen und kognitiven Kompetenzen der Kinder.
Zugleich trägt eine sozialraumorientierte Begabungsförderung auch zur Begabungsgerechtigkeit bei. Gerade Kinder aus Familien mit geringeren Ressourcen erhalten so Zugang zu Bildungsangeboten, die sie ohne die Unterstützung der Kita womöglich nicht erreichen würden. Dadurch kann ein wichtiger Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit geleistet werden (siehe auch 7).
Doch nicht nur Kinder profitieren, auch für pädagogische Fachkräfte bringt die Öffnung in den Sozialraum Vorteile mit sich. Durch die Nutzung externer Ressourcen kann eine Entlastung entstehen: Bildungsangebote können durch Fachpersonen aus dem Umfeld übernommen oder ergänzt werden, was Raum für individuelle Förderung oder andere pädagogische und organisatorische Aufgaben schaffen kann. Darüber hinaus kann der Austausch mit Kooperationspartnern zur Erweiterung des pädagogischen Repertoires führen. Neue Impulse, Ideen und Methoden aus anderen Fachdisziplinen können zur Weiterentwicklung der eigenen pädagogischen Arbeit beitragen.
Ein weiterer positiver Effekt zeigt sich in der intensiven Zusammenarbeit mit Familien und anderen Kooperationspartnern aus dem näheren Umfeld. Durch die gemeinsame Gestaltung von Projekten, die Einbindung von Eltern und lokalen Akteuren kann eine starke Bildungs- und Erziehungspartnerschaft entstehen, die die Qualität der pädagogischen Arbeit erhöht.
Begabungen entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern in Wechselwirkung mit dem Umfeld. Die vorgestellten Fallbeispiele zeigen, wie Kinder durch eine gezielte Öffnung der Kita in den Sozialraum profitieren. Sie erleben, dass ihre Stärken wertvoll sind, und wachsen an den Erfahrungen, die ihnen innerhalb und außerhalb der Kita geboten werden.
Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Begabungsförderliche Strukturen schaffen – Chancen im Sozialraum nutzen“ in der Zeitschrift „KiTa aktuell“, Juni 2025.