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Acht Mythen zu Underachievement

Ein überdurchschnittlicher IQ, aber unterdurchschnittliche Schulleistungen? Wie kommt das? Underachievement erscheint Vielen paradox. Wir greifen acht gängige Mythen zum Thema auf und schauen einmal genauer, wo etwas dran ist, und wo nicht.

Januar 2022

Von: Dr. Wiebke Evers und Karen Johannmeyer


Hochbegabten wird oft mit Stereotypen und überzogenen Erwartungen begegnet, die nicht selten auf Mythen und überholten Fakten beruhen. Gleiches gilt für das Thema Underachievement! Ein hohes Potenzial gepaart mit niedrigen Leistungen erscheint manchen als Paradox, da es nicht in ihre Vorstellung von Hochbegabten als „Genies“ oder „Überflieger:innen“ passt. Wir haben acht Mythen aufgegriffen und geschaut, was wo dran ist und womit aufgeräumt werden kann.

1. Wer schlechte Noten hat, kann überhaupt nicht hochbegabt sein!

Eine besondere intellektuelle Begabung ist zunächst ein Potenzial und sagt wenig darüber aus, wie gut die Leistungen sind, die eine Person erbringt. Begabung und Leistung sind also nicht gleichzusetzen! Um ein Potenzial auch auszuschöpfen, braucht es noch mehr, z.B. Motivation, soziale Unterstützung, eine förderliche und leistungsfreundliche Umgebung und ein angemessenes Maß an Herausforderung [1]. Passen die einzelnen Faktoren schlecht zusammen, kann es also durchaus sein, dass auch Hochbegabte keine guten Noten einfahren.

2. Underachiever:innen sind doch einfach nur faul. Die müssten nur wollen!

Manche Underachiever:innen wollen vielleicht tatsächlich nicht – mal mehr und mal weniger bewusst. Spannend ist hier die Frage nach dem Warum. Was hält sie davon ab, sich stärker zu bemühen? Liegen ihre Interessen vielleicht außerhalb des Unterrichts? Oder stellen gute schulische Leistungen einfach keinen Anreiz für sie dar?

Andere Underachiever:innen können aber tatsächlich nicht. Ihnen fehlt es unter Umständen an den passenden Lernstrategien oder der nötigen Selbstregulation [2, 3]. Manchmal liegt die Herausforderung auch darin, die Hochbegabung als Teil der eigenen Persönlichkeit anzunehmen. Stößt diese auf Unverständnis und Kritik, wird man durch sie aus Freundeskreisen und Klassengemeinschaften ausgeschlossen, wird sie lieber verborgen gehalten. Und das führt selten zu guten Noten!

3. Bei Underachievement muss man immer einschreiten. Das vergeudete Potenzial ist doch eine Schande!

Im Allgemeinen bleiben wahrscheinlich sehr viele Menschen unter ihren Möglichkeiten. Das trifft nicht nur auf Hochbegabte zu. Dennoch findet Underachievement oft in Bezug auf Hochbegabung Beachtung und wird für diese Gruppe stärker untersucht. Dass Underachievement aber immer Maßnahmen erfordert, lässt sich nicht pauschalisieren. Abhängig von der betroffenen Person, ihrer Wahrnehmung der Situation und ihrer empfundenen Belastung muss mit ihr gemeinsam darüber beraten werden, welche Schritte eingeleitet werden können und welche dann tatsächlich eingeleitet werden. Wichtig ist, ganz aktiv mit dem Kind bzw. dem Jugendlichen in Kontakt zu gehen, und ihnen auch die Übernahme von Verantwortung für ihre eigene Entwicklung zu ermöglichen und zuzutrauen.

4. Am meisten leiden doch die Eltern unter Underachievement.

Leidet das Kind, leiden auch oft die Eltern. Manchmal sogar noch stärker. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen der Schüler oder die Schülerin selbst ihr Underachievement überhaupt nicht als Problem empfindet – ganz im Gegensatz zu den Eltern! An dieser Stelle ist es wichtig zu fragen, warum der Zustand für die Eltern schwer zu ertragen ist und wie sie unterstützt werden können. Im Allgemeinen ist die Unzufriedenheit der Eltern mit den vorhandenen Noten allein aber kein Anlass, um für das Kind Maßnahmen einzuleiten.

Im Übrigen leiden auch manchmal die Lehrkräfte unter dem Underachievement ihrer Schüler:innen. Gerade wenn sie wissen, dass ein Schüler oder eine Schülerin über ein besonderes Potenzial verfügt, sind die Gründe, warum die guten Noten ausbleiben, oft unersichtlich. Dies kann unter Umständen zu Zweifeln an der eigenen Kompetenz und auch Frust führen. Auch darum ist es wichtig, dass Lehrkräfte das richtige Bild von Begabung und Leistung haben und wissen, welche Faktoren zu Underachievement beitragen können. Nur dann können sie auch hilfreich intervenieren!

5. Wenn die doch wirklich so begabt sind, finden die doch bestimmt selbst aus ihrer Situation.

Leider wird von Hochbegabten vielfach erwartet, dass sie ihre Probleme selbst lösen. Diese überzogene Erwartungshaltung führt dazu, dass Schwierigkeiten nicht offen von Hochbegabten angesprochen werden können. Oft entsteht dadurch auch bei den Schüler:innen selbst der Anspruch, dass sie alles allein hinbekommen müssen, da sie sonst gar nicht wirklich hochbegabt sein können [4]. Wir alle brauchen Raum und Verständnis für unsere Herausforderungen und Unterstützung in ihrer Bewältigung. Und ja, auch Hochbegabte brauchen ein soziales Netz, in dem ihre Probleme gewürdigt werden – auch wenn diese manchmal außergewöhnlich und vielleicht sogar beneidenswert erscheinen.

6. Underachievement wächst sich raus! Am besten wartet man einfach ab.

Studien zeigen, dass sogar eher das Gegenteil der Fall ist [3]. Underachievement wird oft über die Jahre schlimmer, komplexer und eine Intervention immer schwieriger. In manchen Fällen ändert sich vielleicht die Situation durch einen Schulwechsel auf die weiterführende Schule oder einen Umzug. Hat sich das Underachievement verfestigt, braucht es in den meisten Fällen sehr viel mehr. Am wirksamsten haben sich Programme gezeigt, die Underachiever:innen sowohl darin unterstützen, Kompetenzen aufzubauen und Wissenslücken zu schließen, als auch beraterisch begleiten, z.B. an den persönlichen Zielen zu arbeiten und so die Motivation zu wecken [5]. Nach ausführlicher individueller Abwägung können ein Klassensprung oder auch ein Schul- oder Klassenwechsel, also Veränderungen des schulischen Umfelds, sinnvoll sein [6]. Wichtig ist, dass solche Schritte gut begleitet werden und die Kommunikation mit allen Beteiligten kontinuierlich aufrechterhalten wird.

7. Underachievement ist doch ein Luxusproblem!

Oft werden die Schwierigkeiten von Underachiever:innen mit der Aussage zur Seite geschoben, dass andere ja noch viel schwerwiegendere Probleme haben als sie. Diese Relativierung der Problematik verschließt den Blick für die Bedürfnisse dieser Gruppe! Underachievement kann eine echte Belastung darstellen und schwerwiegende Folgen haben wie Depressionen, Angststörungen und Verhaltensauffälligkeiten [7]. Auch resultierende Schulabstinenz und Verweigerung im Unterricht können langfristige Auswirkungen für den weiteren Lebensweg haben. Das sollte Grund genug sein, um frühzeitig tätig zu werden und eine Verbesserung der Situation für die Betroffenen erzielen zu wollen.

8. Underachievement ist doch nur Ausdruck des Selbstoptimierungswahns unserer Gesellschaft!

Auch hier kommt wieder der wichtige Aspekt ins Spiel: Leidet jemand darunter, dass das eigene Potenzial nicht ausgeschöpft werden kann? Ist es belastend, dass man nicht so kann, wie man möchte, Anstrengung sich nicht auszahlt oder die Schule zur Qual wird? Wenn ja, ist es wichtig, hinzuschauen und darauf einzugehen – ganz unabhängig davon, ob dieser Druck durch die Gesellschaft entsteht oder nicht. Ist die Situation für die Beteiligten unproblematisch? Wunderbar! Dann gibt es weder für Eltern, noch für Lehrkräfte oder Berater:innen einen Grund, auf der „Luft nach oben“ zu beharren und diese zu problematisieren.

 

Welche der acht Mythen ist Ihrer Meinung nach am weitesten verbreitet? Welche möchten Sie gern ein für alle Mal aus der Welt räumen? Welche Antwort hat Sie selbst vielleicht überrascht? Und wer sollte Ihrer Meinung nach diesen Beitrag unbedingt einmal lesen?

 

Literatur

[1] Heller, K. A. (2001). Hochbegabung im Kindes-und Jugendalter. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe.

[2] Fischer, C. (2009). Individuelle Förderung besonders begabter Kinder mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten. Individuelle Förderung: Lernschwierigkeiten als schulische Herausforderung. Münster, 178-191.

[3] Steenbergen-Hu, S., Olszewski-Kubilius, P., & Calvert, E. (2020). The effectiveness of current interventions to reverse the underachievement of gifted students: Findings of a meta-analysis and systematic review. Gifted Child Quarterly, 64(2), 132-165.

[4] Boaler, J., & Constantinou, S. (Regie). (2017). Rethinking Giftedness [Film]. Citizen Film. https://www.youcubed.org/rethinking-giftedness-film/ . Abgerufen am 15.12.2021.

[5] Snyder, K. E., Fong, C. J., Painter, J. K., Pittard, C. M., Barr, S. M., & Patall, E. A. (2019). Interventions for academically underachieving students: A systematic review and meta-analysis. Educational Research Review, 28, 100294.

[6] Matthews, M. S., & McBee, M. T. (2007). School factors and the underachievement of gifted students in a talent search summer program. Gifted Child Quarterly, 51, 167 – 181.

[7] Siegle, D., & McCoach, D. B. (2018). Underachievement and the gifted child. In: APA Handbook of Giftedness and Talent. (pp. 559-573). American Psychological Association.