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Erkennen und Fördern bei Underachievement: Alles eine Frage der Haltung?

Offen, wertschätzend, ressourcenorientiert: Die pädagogische Arbeit mit Underachiever:innen ist bestenfalls von einer solchen Haltung geprägt. Doch welchen Einfluss nimmt die eigene Haltung eigentlich auf unseren Umgang mit Underachievement? Wie kann man die eigene und die Haltung von anderen entwickeln? Und was haben Underachiever:innen davon?

April 2022

Von: Dr. Wiebke Evers


Erkennen und Fördern bei Underachievement: Alles eine Frage der Haltung?

Die professionelle pädagogische Haltung

Unter dem Begriff der professionellen pädagogischen Haltung versteht man ein „hoch individualisiertes […] Muster von Einstellungen, Werten, Überzeugungen“. Sie kommt zustande durch einen „authentischen Selbstbezug und objektive Selbstkompetenzen“ 1. Die Haltung ist immer subjektiv und etwas sehr persönliches, geprägt von eigenen Erfahrungen, der durchlaufenen Ausbildung, dem angeeigneten Wissen und verinnerlichten Werten. Damit ist die Entwicklung der eigenen persönlichen wie auch der professionellen Haltung nie ganz abgeschlossen, sondern befindet sich stetig im Prozess. Dies wiederum macht die eigene Haltung oft gar nicht so gut greifbar und folglich auch schwer an andere zu vermitteln.

Das Potenzial einer förderlichen Haltung

Die Haltung, auf die Underachiever:innen bei ihren Mitmenschen stoßen, beeinflusst stark, wie gut sich diese auf die individuellen Herausforderungen, die mit Underachievement einhergehen, einlassen können. Im Allgemeinen hilft es Underachiever:innen, wenn sie auf Personen treffen, die offen, wertschätzend, empathisch und kongruent (in dem Sinne, dass die Haltung auch repräsentativ ist für das Verhalten, was aus ihr folgt) sind. Genau damit tun sich jedoch manche schwer, da ihre Vorstellung von Hochbegabung und Leistungsfähigkeit nicht mit Underachievement zusammenpasst.

Wenn die Haltung von der Überzeugung geprägt wird, dass Underachievement allein Problem der Schüler:innen ist und nicht in den eigenen Aufgabenbereich fällt, dann wird man sich sicherlich wenig unterstützend für diese Schüler:innen einsetzen. Genauso schwierig kann sich der Umgang mit Underachievement gestalten, wenn das Vorgehen von der Frage „Wer ist denn nun schuld daran?“ getrieben wird. Zeigt man sich offen und ressourcenorientiert gegenüber der Situation der Schüler:innen, öffnet sich vielleicht auch eher der Raum für die Handlungsmöglichkeiten.

Haltung im Wandel

Haltung erfordert die ständige Reflexion. Sie lebt davon, dass man sich ihrer bewusst ist, das eigene Verhalten an ihr abstimmt und bei Reibungen mal genauer hinschaut. Dafür braucht es nicht nur zeitliche Ressourcen, sondern auch Anlässe – sowohl selbstgewählte (z. B. der Austausch unter Kolleg:innen in der Kaffeepause) als auch von außen gegebene (z. B. eine Fortbildung für das Kollegium oder Team). Hier ist es gerade in Bezug auf Underachievement spannend zu sehen, was passiert, wenn gemeinsam ein ausschließlich (!) stärkenorientierter Blick auf ein Kind aus unterschiedlichen Richtungen (z. B. der verschiedenen Fachlehrer:innen) eingenommen wird.


Der Austausch mit anderen lädt zur Reflexion ein und dazu, sich blinde Flecken bewusst zu machen und unter Umständen auch mal den eigenen Kurs zu korrigieren. Als lebenslang Lernende ist es überaus wichtig, dass wir nicht innerlich steckenbleiben bei den Mythen oder Werten, denen wir selbst vielleicht als Schüler:innen oder Auszubildende begegnet sind und die uns unbewusst bis heute nachhängen. Eine klare und „gelebte“ Haltung, die sich deutlich in der Kommunikation und in den Handlungen einer Person ausdrückt, kann für andere ein wichtiges Vorbild sein. Sowohl im Umgang mit den Schüler:innen selbst, als auch im Austausch mit den Eltern oder den Kolleg:innen kann eine ressourcenorientierte und offene Sicht auf die Gelingensbedingungen wie ein Funke auf andere überspringen. Gerade im Kontext Schule geht es auch oft um die gemeinsame Haltung des Kollegiums, die sich auch im pädagogischen Leitbild widerspiegelt. Ist auch dies geprägt von Offenheit, können die verschiedenen Perspektiven, Ressourcen und Kompetenzen viel besser zusammengebracht werden.

Haltung vs. Handlungsmöglichkeiten

Manchmal scheitert die Begleitung von Underachiever:innen auch nicht an der Haltung selbst, sondern an den Gegebenheiten. Wenn durch fehlende Ressourcen wie Zeit und Materialien nicht entsprechend der eigenen Haltung und der eigenen Ansprüche gehandelt werden kann, kann das schwierig auszuhalten sein. Sich unter diesen Umständen den Blick für die vorhandenen Möglichkeiten zu bewahren, ist umso wichtiger. Im Kontakt mit Underachiever:innen, die sich oft in sehr komplexen Problemlagen befinden und eine manchmal schier überwältigende Menge an Herausforderungen zu meistern haben, ist es schwer, sich als Fachkraft nicht zu sehr unter Druck zu setzen. Oft geht es zunächst erstmal darum, sich im Vertrauen auf sich und die Schüler:innen auf den Weg zu machen, sich Zeit zu nehmen und auch den Mut zu haben, gemeinsam mal was Neues auszuprobieren. Die daraus deutlich werdende Haltung kann für Underachiever:innen schon viel bedeuten: Sie merken, dass da wieder jemand an sie glaubt und sich mit ihnen auf den Weg macht.

Was sagen Sie?

  • Welche Merkmale sollten die pädagogische Haltung bei der Begleitung von Underachiever:innen besonders prägen?
  • Können Sie sich an eine Situation erinnern, die zu einer Veränderung Ihrer Haltung zum Thema Underachievement geführt hat?
  • Haben Sie eine:n Schüler:in im Kopf, bei dem Ihre Haltung oder die von Kolleg:innen einen echten Unterschied für die weitere Entwicklung gemacht hat?
  • Wodurch konnten Sie eine Veränderung in der Haltung von Kolleg:innen in Bezug auf das Thema Underachievement bewirken?

Fußnoten
Die Impulse für diesen Artikel stammen aus der Diskussion mit Fachkräften aus Schule und Beratung sowie mit Wissenschaftlerinnen im Rahmen des 2. Themennachmittags „Underachievement“ der Arbeitsgruppe Underachievement der Karg-Stiftung im Herbst 2021. Die zentralen Punkte wurden von Anna Penkner von Designdoppel in einem Graphic Recording (siehe oben) festgehalten. Wir danken allen Teilnehmenden der Themennachmittage Underachievement für den spannenden Austausch und die anregende Diskussion!

Literatur

1 Kuhl, J., Schwer, C., Solzbacher, C. (2014). Professionelle pädagogische Haltung. Versuch einer Definition des Begriffes und ausgewählte Konsequenzen für Haltung. In: Professionelle pädagogische Haltung. Historische, theoretische und empirische Zugänge zu einem viel strapazierten Begriff. Schwer, C., Solzbacher, C. (Hrsg.). Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 107–122.