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Sehen und gesehen werden: Wie erkennen Sie Underachievement?

Das Erkennen von Underachievement ist eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt pädagogisch handeln zu können. Doch wie erkennt man „schlummernde Potenziale“ eigentlich? Wie schärft man seine Aufmerksamkeit für diese besonderen Fälle, und welche diagnostischen Instrumente lassen sich einsetzen?

Februar 2022

Von: Karen Johannmeyer


Das Erkennen von Underachievement ist eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt pädagogisch handeln zu können. Doch wie erkennt man „schlummernde Potenziale“ eigentlich? Wie schärft man seine Aufmerksamkeit für diese besonderen Fälle, und welche diagnostischen Instrumente lassen sich einsetzen?

Sehen und gesehen werden: Wie erkennen Sie Underachievement?

Begabung ? Leistung

Ob hochbegabte Kinder und Jugendliche ihr Potenzial auch in hohe schulische Leistungen umsetzen können, ist von vielen Faktoren abhängig. Neben Umweltmerkmalen wie dem Schulklima haben auch nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale wie beispielsweise die Art der Stressbewältigung (und Resilienzfaktoren) oder das Arbeitsverhalten einen Einfluss. Dass auch besonders begabte Kinder und Jugendliche nicht immer und in allen Schulfächern auch gute oder sehr gute Leistungen zeigen, ist den meisten Praktiker:innen bekannt. Doch ab wann spricht man in diesem Zusammenhang von Underachievement?

Definition von Underachievement

Laut den meisten Definitionen liegt Underachievement (deutsch: Minderleistung) dann vor, wenn es eine signifikante Differenz zwischen dem kognitiven Potenzial und der tatsächlichen gezeigten Leistung gibt [1]. Was nach einer einfachen Rechenaufgabe klingt, ist im Alltag gar nicht so leicht festzustellen. Denn nur von den wenigsten Kindern und Jugendlichen kennt man den IQ, der häufig als Indikator für das geistige Potenzial herangezogen wird. Die Definition über eine Differenz zwischen IQ und Leistung ist also in vielen Fällen nicht praxistauglich. Doch auch durch andere Verfahren können pädagogische Fachkräfte Hinweise auf ein mögliches Underachievement sehen.

Wie können wir auf Underachievement aufmerksam werden (auch, wenn kein IQ-Test vorliegt)?

Wer wachsam hinguckt, kann im (Schul-)Alltag oder in Beratungssituationen möglicherweise Hinweise auf Underachievement finden. Praktiker:innen berichten, dass sie aufmerksam werden, wenn Schüler:innen ein hohes Maß an Kreativität zeigen, unkonventionell über gestellte Aufgaben nachdenken und „eigensinnige“ Lösungen finden. Auch wenn sie merken, dass in anderen Kontexten sehr wohl besondere Leistungen erbracht werden, die auf ein außergewöhnliches Potenzial schließen lassen, werden sie hellhörig.

Andererseits fallen diese Schüler:innen häufig durch Motivationsschwierigkeiten oder ein geringes Selbstwertgefühl auf. Auch fehlende Lernstrategien oder Probleme mit der Selbstorganisation können Indikatoren sein. In einigen Fällen hängt Underachievement auch mit einer Schulangst zusammen, etwa, wenn es in der Biografie des Kindes mehrfache Schulwechsel gibt.

Hilfreich ist in jedem Fall ein stärkenorientierter und neugieriger Blick auf die Schüler:innen – was bei den genannten Indikatoren möglicherweise nicht immer ganz leicht fällt.

Was sind hilfreiche diagnostische Instrumente?

Die alltäglichen Begegnungen und Beobachtungen, die auf ein verstecktes Potenzial hindeuten, können der Anlass für ein genaueres Hinsehen sein. In einigen Fällen – und in Absprache mit allen Beteiligten – kann es hilfreich sein, einen IQ-Test durchführen zu lassen. Es gibt jedoch auch zahlreiche Möglichkeiten, die man anstatt eines IQ-Tests oder ergänzend zu diesem wählen kann. Neben schulischen Leistungen über Zeugnisse und mündliche Beteiligung am Unterricht kann es hilfreich sein, weitere Eindrücke zu gewinnen.

An einigen Schulen werden umfassende Screenings durchgeführt, in denen beispielsweise die Lern- und Leistungsmotivation, die Interessen oder auch die emotionale und soziale Schulerfahrung von Schüler:innen erfragt werden. Solche (teilweise standardisierten) Instrumente – etwa in Fragebogenform – können Hinweise auf weitere Faktoren geben, die bei der Entwicklung des Potenzials und des Leistungsverhaltens eine Rolle spielen. Individuell können Lehrpersonen über Beobachtungen Informationen erhalten. Wie verhält sich die Schülerin beispielsweise bei kreativeren Aufgabenstellungen? Wie geht ein Schüler komplexe Problemstellungen im Rahmen einer Projektarbeit an? Gibt es Hinweise auf Schwierigkeiten in der Selbstorganisation? Wie ist das Verhalten in der Schulklasse und außerhalb des Unterrichts? Um aussagekräftige Rückschlüsse aus solchen Situationen ziehen zu können, sollten Beobachtungsszenarien geplant und auf ausgewählte Bereiche beschränkt zielgerichtet durchgeführt sowie dokumentiert werden.

Potenzial im Gespräch erkennen

Nicht zuletzt sind Gespräche mit dem Kind und der Familie eine der wichtigsten Möglichkeiten, Potenziale zu erkennen oder zu fördern. Dies ist besonders wichtig, da sehr vielfältige Gründe zu einem Underachievement führen können (individuelle, familiäre, oder schulische Faktoren). In Gesprächen können gemeinsam mit dem Kind und der Familie weitere Schritte erarbeitet werden. Auch der interdisziplinäre Austausch zwischen Lehrkräften, (Schul-)Berater:innen und Schulpsycholog:innen ist besonders fruchtbar, wenn es um die ganzheitliche Potenzialerfassung eines Kindes geht, und einen Ausweg aus dem Underachievement zu finden.

Wann sollte man bei einem Underachievement eingreifen?

In einigen Fällen geht Underachievement mit einem sehr hohen Leidensdruck einher. Dabei sollte sorgfältig abgewogen werden, wer von diesem Leidensdruck betroffen ist. Ist es wirklich der/die Schüler:in oder sind es eher die besorgten Eltern bzw. die sehr engagierte Lehrkraft, die an der Situation unbedingt etwas ändern möchten? Manchmal kann Underachievement auch lediglich bedeuten, dass ein:e Schüler:in generell unter ihrem Potenzial bleibt, dies aber nicht zwangsläufig eine umfassende Intervention notwendig macht. Im Kontext der Diskussion wird deutlich: Die (rechnerische) Feststellung von Underachievement ist an sich noch kein Anlass, um eine Intervention zu initiieren/veranlassen, um das Potenzial aus diesen Schüler:innen noch besser „herauszukitzeln“.

Anlass zum Handeln sollte der wahrgenommene Bedarf beim Schüler oder bei der Schülerin sein. Diese sollten dabei unterstützt werden, ausgerichtet an ihren eigenen Lernzielen die zu deren Erreichung nötigen Kompetenzen sowie auch das oft fehlende Selbstvertrauen aufzubauen. Wenn Schüler:innen merken, dass sie eigentlich mehr könnten, sich aber ihre Anstrengungen nicht auszahlen, verlieren sie häufig die Freude und die Motivation am Lernen. Pädagogisches Handeln sollte an diesem Punkt einsetzen – im Idealfall noch bevor ein zu großer Leidensdruck und größere Lernrückstände entstehen.

Was sind Merkmale von Underachievement, die Ihnen oft begegnen? Worauf reagieren Sie mit erhöhter Aufmerksamkeit? Wie werden Sie auf Ihnen bislang verborgene Potenziale von Schüler:innen aufmerksam? Welche Möglichkeiten gibt es an Ihrer Schule schon, Underachievement zu begegnen?

 

Fußnoten

Als Lehrperson können Sie Methoden der pädagogischen Diagnostik übrigens auch in unseren Karg Impulskreisen Schule kennenlernen

Die Impulse für diesen Artikel kommen aus einer Diskussion mit Fachkräften aus Schule und Beratung sowie mit Wissenschaftlerinnen im Rahmen des ersten Themennachmittags „Underachievement“ der Arbeitsgruppe Underachievement der Karg-Stiftung im Herbst 2021. Da ein wichtiger Teil unserer Arbeit in der Karg-Stiftung in der interdisziplinären Vernetzung von Fachpersonen liegt, haben wir die Themennachmittage ins Leben gerufen. Die zentralen Punkte haben wir in einem Graphic Recording festhalten lassen (Danke an Anna Penkner von Designdoppel) – und möchten sie über diesen Bericht auch allgemein zugänglich machen.

Danke an alle Teilnehmenden der Themennachmittage Underachievement für den anregenden Austausch und die wertvolle Diskussion!

Literatur

[1] Heller, K. A. (2001). Hochbegabung im Kindes-und Jugendalter. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe.