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Das Bild vom Kind von Clara und William Stern und ihr Beitrag zum heutigen Verständnis von Partizipation

Clara und William Stern prägten ein Bild vom Kind, welches den Weg zu einer partizipativen Haltung ihm gegenüber ebnete. Auch wenn sich das Verständnis von Partizipation seitdem noch stark gewandelt hat, lassen sich in den Aufzeichnungen der Sterns erste Ansätze erkennen.

Juni 2021

Von: Lisa Pohlmeier


Die (Früh-)Pädagogik von 1900 lässt sich nur bedingt mit der heutigen vergleichen – vieles hat sich weiterentwickelt und verändert. Doch einige pädagogischen Sichtweisen haben die moderne Frühpädagogik stark geprägt. So auch die Betrachtungsweisen von William und Clara Stern in Bezug auf das aktuelle Bild vom Kind und die ersten Ansätze auf dem Weg zur kindlichen Partizipation.

Partizipation gelingt nur durch echte Teilhabe

Die Partizipation von Kindern nimmt heute einen großen Stellenwert in den aktuellen Bildungsplänen ein: „Kinderbeteiligung bedeutet Mit- und Selbstbestimmung“ [1]. „Kinder haben ein Recht, an allen sie betreffenden Entscheidungen entsprechend ihrem Entwicklungsstand beteiligt zu werden“, heißt es beispielhaft im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan [1].

Eine so klare Positionierung gegenüber der kindlichen Partizipation finden wir bei den Sterns nicht. Auch wenn William Stern um 1900 erste Aussagen in Richtung dieser partizipativen Haltung dem Kind gegenüber tätigte, war der aktive Einbezug der Kinder in ihre eigene Entwicklung und Bildungsbiografie zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht gegeben.

Deutlich wird dies anhand des jahrelangen „Tagebuch-Projekts“, in dem William und Clara Stern auf insgesamt 4963 Seiten jeden Entwicklungs(fort)schritt ihrer drei Kinder Hilde, Eva und Günther notierten und analysierten. „‘Ich wusste nichts von der Forschungsabsicht meiner Eltern‘, wird sich Eva Michaelis-Stern Jahrzehnte später in einem Interview […] erinnern“ [2].

Zwar spürten die Kinder die außergewöhnlich interessierte Zuwendung ihrer Eltern, realisierten jedoch nicht, Teil einer Wissenschaftsstudie ihrer Eltern zu sein [2]. William Stern erfand Vorwände, wenn die Kinder neugierig fragten, was er immerzu für Aufzeichnungen machte und er und seine Frau Clara organisierten für ihre Kinder gezielt Spiele und Experimente, um „Befunde des Tages gleich am nächsten Morgen auf die Probe stellen [zu] wollen“ [2].

Das Bild vom Kind als Ausgangspunkt zur Partizipation

Auch wenn im Vorgehen von Clara und William Stern bei ihrer einzigartigen Einzelfallstudie der aktive Einbezug ihrer Kinder eine untergeordnete Rolle spielte, legte ihr Bild vom Kind bereits den Grundstein für eine partizipative Haltung dem Kind gegenüber, welches heute noch bedeutungsvoll ist und die (frühe) Begabungs- und Begabtenförderung maßgeblich beeinflusst:

Sterns Überzeugung nach ist jeder Mensch als ein „unteilbares, einzigartiges Ganzes zu betrachten und zu würdigen“ [2]. Heute finden wir in den Bildungsplänen der Bundesländer sich ähnelnde Definitionen vom Bild des Kindes, die diesen Gedanken u.a. mit Worten wie „individuell“, „achtsam“, „autonom“ oder „ganzheitlich“ beschreiben und den Grundgedanken William Sterns aufgreifen und widerspiegeln.

Diese von William Stern geprägte Betrachtungsweise des Kindes ist der entscheidende Ausgangspunkt für das heutige Verständnis über Partizipation. Schließlich kann sie nur gelingen, wenn wir Kinder als autonome Individuen betrachten. Darauf greift auch das heutige Verständnis der (frühen) Begabungsentfaltung bei Kindern sowie die Anerkennung der Einzigartigkeit eines jeden begabten Kindes und seine individuelle Begabung zurück.

Die Sterns als Vorreiter der modernen
(Früh-)Pädagogik

Auch wenn deutlich wurde, dass die kindliche Partizipation sich zur Zeit von Clara und William Stern noch deutlich weiterentwickeln musste, lässt sich ihre Pionierarbeit in besonderer Weise hervorheben und deren Bedeutsamkeit für die heutige Zeit veranschaulichen.

Mit voranschreitender Zeit erhielten ihre Sichtweisen immer mehr Zuspruch in der Wissenschaft und in der Praxis und heute orientieren sich pädagogische Konzepte, Fachkräfte und Institutionen am Grundgedanken ihres Bildes vom Kind und richten ihre Prinzipien, Methoden und Qualitätsstandards danach aus.

Literatur

[1] Hessisches Ministerium für Soziales und Integration; Hessisches Kultusministerium (Hrsg.) (2016). Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen. (7. Auflage). Online verfügbar unter: https://www.hessen.de/sites/default/files/media/hkm/bildungs-und_erziehungsplan.pdf (aufgerufen am 04.06.2021).

[2] Tschechne, M. (2010). William Stern. Hamburg: Ellert & Richter Verlag GmbH