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William Stern: Der IQ als Puzzleteil

William Stern war nicht nur für die Erfindung der Formel zur Berechnung des Intelligenzquotienten bedeutend. Seine Ansichten zum Einsatz von Intelligenztest für die Erkennung und Förderung von besonderen Begabungen sind bis heute für die Beratung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien maßgeblich.

Dezember 2021

Von: Aline Fach und Dr. Wiebke Evers


William Stern war nicht nur für die Erfindung der Formel zur Berechnung des Intelligenzquotienten bedeutend. Seine Ansichten zum Einsatz von Intelligenztest für die Erkennung und Förderung von besonderen Begabungen sind bis heute für die Beratung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien maßgeblich.

Der Intelligenzbegriff nach Stern

William Stern hat sowohl den Intelligenzbegriff als auch die Intelligenzmessung entscheidend mitgeprägt [1]. Intelligenz definierte Stern als „[…] die personale Fähigkeit, sich unter zweckmäßiger Verfügung über Denkmittel auf neue Forderungen einzustellen“ [2]. Für ihn war Intelligenz damit also eine personen- und kontextbezogene Fähigkeit, sich verändernden Umweltbedingungen anzupassen. Stern beschäftigte sich auch mit der Beziehung zwischen Intelligenz und Leistung und brachte bereits sehr früh den Aspekt der notwendigen Motivation und den positiven Einfluss einer lernförderlichen Umwelt in die Diskussion ein [3].

Intelligenz: Quotient statt Differenz

William Stern ist bekannt dafür, die Formel zur Berechnung des Intelligenzquotienten (IQ) revolutioniert zu haben. Durch die Beobachtung seiner unterschiedlich alten Kinder [I] soll Stern auf die Idee der vergleichenden Normierung gekommen sein: Nur weil der jüngere Sohn nicht so viele Aufgaben lösen kann oder nicht so viele Wörter weiß wie seine ältere Schwester, bedeutet dies nicht, dass der Sohn einen niedrigeren IQ haben muss [4]. Stern löste dieses Problem auf, indem er das Intelligenzalter ins Verhältnis zum Lebensalter setzte und daraus statt einer Differenz einen Quotienten berechnete.

Begabung ist mehr als die Zahl auf dem Papier

Stern war überzeugt davon, dass ein Intelligenztest eine objektive Maßnahme ist, um Begabungen festzustellen, sofern dieser gewissen Gütekriterien (z.B. Vergleichbarkeit und Objektivität) entspricht und nicht nur ein einzelnes Merkmal, sondern mehrere Teilfunktionen der Intelligenz erfasst.

Dennoch war Stern sich stets der begrenzten Aussagekraft durch die alleinige IQ-Messung bewusst. Ein Intelligenztest kann laut Stern immer nur eine Annäherung an die Persönlichkeit eines Menschen und seine Begabung sein. Um den Menschen in seiner Gesamtheit zu begreifen, erfordert aber mehr als nur diese Nummer auf einem Papier.

Der IQ-Test ist demnach ein Teil des Puzzles, welches erst durch Zusammenbringen weiterer Informationsquellen vervollständigt werden kann. Sei der Test auch noch so gut, solle er Stern zufolge nicht als alleiniges Werkzeug der Intelligenzbestimmung verwendet werden: „Man darf die Tests nicht überschätzen […]. Sie sind […] eine erste Orientierung […] und sie sind geeignet, die anderweitige Beobachtung psychologischer, pädagogischer, ärztlicher Art zu ergänzen […] nicht aber zu ersetzen.“ [5]

Intelligenzmessung als hilfreiches Indiz für die passende Förderung

Das begabte Kind ist nach Stern mehr als die Summe seiner Fähigkeiten [6]. Der IQ-Wert sollte darum immer im Kontext der Person und seines Umfelds betrachtet werden. Umso kritischer sah Stern die Verwendung von Intelligenzscreenings als flächendeckendes „Instant-Verfahren“ z.B. zur Verteilung von Kindern auf verschiedene Schulformen oder auch zur Berufsauswahl [4]. Ohne ein umfassendes Bild einer Person, „[…] die man sonst gar nicht kennt […]“ [5] und einen Einblick in deren eigene Ziele und Motivation durch ein persönliches Gespräch, ist ein solche Ableitung allein anhand des IQ-Wertes über den weiteren Werdegang schwierig.

Einbettung von Intelligenztestungen in den Beratungsprozess

Wie es Stern schon vor einigen Jahrzehnten nahelegte, sollte das Anliegen, was mit dem Wunsch nach einer Intelligenztestung bei Eltern, Lehrkräften oder auch den Schüler:innen einhergeht, im Kontext einer Beratung gut geklärt werden. In Bezug auf eine mögliche Hochbegabung kann das Testergebnis zum tiefergehenden Verstehen von Beratungsanlässen (z.B. Unterforderung, Verweigerung, Underachievement) und deren Bearbeitung dienlich sein. Wichtige Fragen in diesem Kontext sind daher stehts der beabsichtigte Zweck und auch die Konsequenzen einer Intelligenztestung. Was bedeutet das Ergebnis für die Eltern, die Lehrer:innen und vor allem das Kind selbst? Wie ist damit im Anschluss umzugehen und was ist, wenn das Ergebnis anders ausfällt als gedacht?

IQ-Test zur Einleitung von schulischen oder außerschulischen Fördermaßnahmen

Stern sah den Zweck einer Intelligenztestung u.a. auch darin, Indizien für die passende Förderung des einzelnen Kindes im Schulkontext abzuleiten. So kann das Vorliegen eines objektiven Testergebnisses (oft in Verbindung mit einem sogenannten „Gutachten“) für manche Schulen eine notwendige Bedingung sein, um individuelle Fördermaßnahmen zu gestalten und im Unterricht zu etablieren. Wie nicht alle Schüler:innen gleich sind, sind auch nicht alle Hochbegabten gleich. Sie brauchen unterschiedliche Angebote und Förderung und Strukturen. Dafür ist es unabdingbar, das Kind kennenzulernen, mit seinen Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit wahrzunehmen und dementsprechende Möglichkeiten zur Entfaltung zu schaffen.

Die von Stern stark befürwortete professionsübergreifende Zusammenarbeit ist dabei sowohl für den diagnostischen Prozess als auch für die Umsetzung von Maßnahmen unabdingbar. So ist es oft hilfreich und notwendig, dass die Beratenden das Testergebnis nicht nur gemeinsam mit den Hilfesuchenden in der Beratung einordnen, sondern auch zusammen mit der Schule besprechen, um gemeinsam geeignete Fördermaßnahmen abzuleiten.

Fazit

William Stern war seinerseits bedeutender Vorreiter, der in seiner Grundhaltung die professionelle und personenorientierte Intelligenzmessung vertrat. Seine Überzeugung, nur Tests anzuwenden, die den Testgütekriterien entsprechen, die dahinterliegende Fragestellung in den persönlichen Kontext einzuordnen und die Ergebnisse multiprofessionell inhaltlich auszuwerten, entspricht heute der gängigen Praxis. Damit war Stern Wegbereiter für unser heutiges Verständnis von guter psychologischer Diagnostik als ein wichtiger, aber zu ergänzenden Teil in der Beratung Hochbegabter.

Fußnoten

[I] William Stern und seine Frau führten über viele Jahre Tagebuch, in dem sie ihre Beobachtungen ihrer drei Kinder im Alltag aufzeichneten [7]. Sie hielten hier detailliert das Verhalten, die Äußerungen, die Entwicklungsfortschritte aber auch potenzielle Rückschritte und Defizite, die sie beobachteten, fest. Aus heutiger Sicht fragt man sich, welche Auswirkungen dies auf die Entwicklung, psychische Gesundheit und Bindungssicherheit seiner drei Kinder hatte. Die Forschung an der eigenen Familie ist sicher im Kontext des wilhelminischen Zeitgeistes zu betrachten, dennoch ist es eine berechtigte ethische Frage, wie sich das wissenschaftliche Forschungsinteresse der Eltern auf die Beziehungsgestaltung zu den Kindern auswirkte und welche Spuren es ggf. bei ihnen hinterlassen hat [8].

 

Literatur

[1] Giger, M. (2011). William Stern: Intelligenz und Begabung. SwissGifted Vol. 4, Nr. 1 & 2.

[2] Stern, W. (1935). Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage. Haag: Martinus Nijhoff, S. 424

[3] Stern, W. (1935). Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage. Haag: Martinus Nijhoff

[4] Tschechne, M. (2012). Zahlenspiel mit der Intelligenz. Deutschlandfunk Kultur. Abgerufen am 16.11.2021: Zahlenspiel mit der Intelligenz (deutschlandfunkkultur.de).

[5] Stern, W. (1912). Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren Anwendung an Schulkindern. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth, S. 9 f.

[6] DeRobertis, E. M. (2011). William Stern: Forerunner of human science child developmental thought. Journal of Phenomenological Psychology, 42(2), 157-173.

[7] Tschechne, M. (2010). William Stern. Hamburg: Ellert & Richter Verlag GmbH.

[8] Clemens, D. (1996). Der Vater-Sohn-Konflikt zwischen William Stern und Günther Anders. Psychologie und Gesellschaftskritik, 20(1/2), 127-144. Abgerufen am 29.11.2021: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-265949