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Jonas' Sozialkompetenz

Es ist mal wieder an der Zeit, ein Beispiel aus der Praxis zu liefern. Ein Beispiel dafür, wie interessant und überraschend der Austausch mit einem hoch begabten Kind sein kann. Jonas ist 11 Jahre alt, besucht das Gymnasium und hat – wie er selbst sagt – Schwierigkeiten, sich gegenüber anderen durchzusetzen.

Juli 2012

Von: Götz Müller


Es ist mal wieder an der Zeit, ein Beispiel aus der Praxis zu liefern. Ein Beispiel dafür, wie interessant und überraschend der Austausch mit einem hoch begabten Kind sein kann. Jonas ist 11 Jahre alt, besucht das Gymnasium und hat – wie er selbst sagt – Schwierigkeiten, sich gegenüber anderen durchzusetzen.Und daran leidet er auch. Es ist in seinem Falle bereits so, dass die alltäglichen „Nickeligkeiten„ über das normale Maß hinaus gehen. Mal wird er bewusst im Pausenspiel ausgeschlossen, mal wird ihm die Kappe geklaut und Schweinchen-in-der-Mitte gespielt. Jonas ist ein zurückhaltender, im Sozialkontakt unsicher wirkender Junge, den seine Eltern als „zu sensibel„ bezeichnen. Er selbst kennt seine Schwierigkeiten, sich anderen gegenüber abzugrenzen, seine Meinung mitzuteilen und insbesondere diese auch durchzusetzen. Jonas kann schlecht nein sagen, neigt dazu, sich ausnutzen zu lassen, und wird nur dann eingeladen, wenn sonst eben keiner kann – so die Ausführungen seiner Eltern.

Jonas ist hoch begabt, liebt Fußball, baut gern mit Lego und zeichnet extrem gut. Keine sonstigen Besonderheiten – träfen Sie ihn, so würde er höchstwahrscheinlich als normaler Junge eingestuft. Aber Jonas hat da ein Problem. Und Jonas will etwas daran ändern, denn er erlebt sich als minderwertig, als schwach, als nicht zugehörig. Er will seine Bedürfnisse äußern, er will sich durchsetzen können, er will dazugehören. Mit dieser Klarheit haben sich Jonas und seine Eltern auf den Weg gemacht und nach geeigneten Maßnahmen gesucht. Nach Abklärung diverser Fragestellungen, zu denen das Vorliegen einer grundsätzlichen sozialen Ängstlichkeit über eine soziale Phobie bis hin zu einem Asperger-Syndrom gehörten, lautete der erste Erklärungsansatz, dass Jonas' Sozialkompetenz defizitär sei.

In einer Beratungsstelle für Hochbegabung wurde ausgeführt, dass Jonas über mangelhafte Strategien in der Sozialkompetenz verfüge und demzufolge ein Soziales-Kompetenz-Training anzuwenden sei. Grundannahme dieses Vorgehen lautet, Strategien zu entwickeln und zu festigen, um Situationen besser zu bewältigen. Auch ist einzubeziehen, dass insbesondere im Kindes- und Jugendalter alle Strategien (maladaptive wie adaptive) zur Bewältigung kritischer Situationen dem Kind innewohnen und sozusagen aktiviert und gefestigt werden müssen.

Jonas besuchte dann ein Training, um soziale Kompetenzen weiter zu entwickeln und zu festigen. Er selbst berichtet dort von einer Situation, in welcher ihm die Kappe von einem Mitschüler entwendet wurde. „Ich habe erst 'Gib die wieder her„ gesagt, dann bin ich hinterher gelaufen.„, beginnt er seine Ausführungen. Aus dieser Episode wurde eine Video-Sequenz im Training gedreht, die mit anderen in der Gruppe durchgespielt wurde. Jonas hat dieses Video mitgebracht und zeigt mir die Passage, in der er er versucht, sein Recht, die Kappe zurückzuerhalten, durchzusetzen. Er sagt zunächst: "Ich will meine Kappe wiederhaben", dann geht es zu „Jetzt aber her damit„ über. Jonas steigert dann die Lautstärke sukzessive, droht an, den Lehrer zu holen, bis die Kappe endlich nicht mehr gefangen wird und er sie greifen kann. In der Nachbesprechung erhält Jonas diverse Hinweise zur erforderlichen Körperspannung, Prosodie und Lautstärke, Blickkontakt, Mimik und Gestik, um die Techniken zu verbessern. Dann wird die Szene nochmals gespielt. Gut soweit.

Etwa ein halbes Jahr später erscheint Jonas zum Erstgespräch, denn sein Problem hat sich nicht gelöst – das sagt er glasklar und eindeutig. Er schreie jetzt lauter und sei schneller beim Lehrer, wenn die Kappe nicht zügig zurückfliegt. Das Kappe-Problem sei somit minimiert, ergänzt er im Gespräch. Er leidet nach wie vor daran, denn Zugehörigkeit erlebt er nicht. Er fühlt sich weiterhin schlecht, erlebt sich als unzulänglich und schwach.

Warum eigentlich?